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Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war nach dem Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Regime in Polen eine wichtigere Figur als bislang bekannt." So beginnt ein fast zweiseitiger Bericht der Tageszeitung Welt vom vergangenen Montag über das Leben des Mannes, der über mehrere Jahre einer der einflußreichsten Kulturredakteure Deutschlands war, zunächst als Chef des Feuilletons der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dann als Moderator einer literarischen Fernseh-Show, die er weniger moderierte, als vielmehr höchst unmoderat in ihr das letzte Urteil zu sprechen pflegte über Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt. Er entschied über das Schicksal nicht weniger Bücher, er bestimmte, welcher Autor als ein Stern am literarischen Firmament zu gelten und welcher als Versager der Mißachtung anheimzu-fallen habe.
Die Welt konnte Einblick nehmen in seine jetzt der Öffentlichkeit zugängliche Personalakte des früheren kommunistischen Ministeriums für öffentliche Sicher- heit, des Stasi Polens. Reich-Ranicki, der sich damals Marceli Reich nannte, war dessen Mitarbeiter von Ende 1944 bis zunächst 1950. Da wurde er ausgeschlossen, hatte aber endlich 1957 Erfolg mit seinen häufigen Gesuchen, ihn wieder aufzunehmen.
Nach den Auszügen in der Welt war Reich-Ranicki, der als Jude mit seinen Eltern in Deutschland verfolgt wurde und während des Krieges im Warschauer Ghetto lebte, wo er nach einer Bemerkung in seiner Personalakte in der Ghetto-Verwaltung eine "unklare Rolle" gespielt haben soll, ein im kommunistischen Geheimdienst ungewöhnlich eifriger Mitarbeiter. Mit Intelligenz und Eifer sei er "vernarrt in den Geheimdienst" gewesen, er war der Volksrepublik "ergeben" und wurde von den Kommunisten als "politisch zuverlässig" gelobt.
Am 25. Oktober 1944 richtete Reich(-Ranicki) ein Aufnahmegesuch an den Geheimdienst, verpflichtete sich zum Schweigen und wurde offenbar sehr rasch aktiv. In kurzer Zeit brachte er es bis zum Hauptmann, erhielt mehrere Auszeichnungen, so zum Beispiel "für herausragende Verdienste, für Tapferkeit im Kampf mit Diversionsbanden und musterhaften Dienst". In einer jetzt bekannt gewordenen Aufstellung zählte er zu den 1.100 wichtigsten Mitarbeitern des kommunistischen Geheimdienstes.
Ein besonders dubioser Lebensabschnitt war sein Einsatz im oberschlesischen Kattowitz. Dort war er zu Beginn des Jahres 1945, der Krieg war also noch nicht zu Ende, fast zwei Monate lang Leiter einer Operationsgruppe, die laut Welt "die Strukturen des Bezirksamtes der Staatssicherheit aufbauen sollte". Nähere Einzelheiten sind weder der Personalakte noch den vor zwei Jahren erschienenen Lebenserinnerungen Reich-Ranickis, Titel: "Mein Leben", zu entnehmen. Er schweigt sich aus.
Nun ist bekannt, welche grauenhafte Rolle der polnische Geheimdienst und die Miliz in den von den Sowjets und bald der polnischen Verwaltung übergebenen deutschen Gebieten Oberschlesiens gespielt haben. Das Geschehen stellt die Welt in einem Sonderbeitrag ausführlich dar, ohne in der Lage zu sein, Reich-Ranicki nachzuweisen, daß und in welchem Umfang er an der Drangsalierung, Vertreibung und der Ermordung der Deutschen beteiligt war. Es war auch die Aufgabe des Geheimdienstes, die Deutschen, denen die Flucht nicht rechtzeitig geglückt war oder die vor der Roten Armee nicht fliehen wollten, zu vertreiben oder umzubringen. Sie wurden zu "Saboteuren" oder "Wehrwölfen" gestempelt. 1.255 Lager gab es für Deutsche in Schlesien nach Angaben des Bundesarchivs. In weitere 227 Gefängnisse waren Deutsche eingesperrt worden. Das Ziel der Polen war das gleiche, das sie auch vor dem Zweiten Weltkrieg propagiert hatten: Polen sollte "entdeutscht" werden, um einen polnischen Begriff zu übersetzen. Bekannt ge- worden sind die Vernichtungslager Lamsdorf und Schwientochlowitz sowie Myslowitz, in denen Tausende von Deutschen unter entsetzlichen Umständen ihr Leben verloren. In vielen Fällen waren polnische Miliz und polnischer Geheimdienst die treibenden Kräfte.
Nach der Rückkehr aus Kattowitz war nach dem Bericht der Welt Reich-Ranicki im Auftrag der kommunistischen Regierung in einem Amt tätig, "das die Rückführung von geraubten Industrie- und Kulturgütern aus Deutschland nach Polen betrieb". Wir wissen inzwischen, wie intensiv die Polen deutsches Kulturgut, das nach Schlesien vor alliierten Luftangriffen in Sicherheit gebracht worden war, stahlen und ins innere Polen verschleppten, wo es heute noch ist. Sie weigern sich bis heute, es trotz vertraglicher Zusagen zurückzugeben. Sollte Reich-Ranicki an dem Raub deutscher Kulturgüter beteiligt gewesen sein?
Danach wurde er Leiter des Großbritannien-Referats und ging nach London an die polnische Botschaft, diesmal unter dem Namen Ranicki, um als Agentenführer polnische antikommunistische Emigranten auszuspähen und sie möglichst zur Rückkehr zu bewegen. Dort wurden sie dann nicht selten vor Gericht gestellt. Er führte eine Kartei mit Informationen über 2.000 dieser Emigranten. 1950 wurde er aus der Kommunistischen Partei und aus dem Ministerium ausgeschlossen, 1957 aber wieder aufgenommen.
Das gehört zur Vergangenheit eines Mannes, der in der Bundesrepublik literarische Maßstäbe setzt, der den bedeutenden Autor Walser, der den Auftritt Reich-Ranickis in einer Satire karikiert, kurzerhand als Antisemiten beschimpft, ihn so in die bundesrepublikanische Genickschußzone schickt.
Unbeholfen versucht Reich-Ranicki im Interview mit der Welt, die Schatten auf seiner Vergangenheit zu bagatellisieren. Zunächst behauptet er, er kenne die Akte nicht. Er habe die Arbeit für den Geheimdienst "für belanglos und überflüssig" gehalten; er habe sie angeblich nur "ungern" gemacht, und er wiegelt ab, in den Akten "sei viel Unsinn notiert". Deshalb empfiehlt er dingend, die "Akten nicht immer für bare Münze zu nehmen."
Auch von seinem Geheimdienst-Decknamen "Albin" will er nie Gebrauch gemacht haben. Er sei auch nie im Geheimdienst "eine sonderlich wichtige Figur" gewesen. Die von ihm geführte Kartei von 2.000 Exil-Polen sei "eine so harmlose wie überflüssige Kartei" gewesen, die "nie benutzt wurde". Und in Kattowitz will er keineswegs fast zwei Monate gewesen sein. "Vielleicht hat sich eine Sekretärin verschrieben |
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