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Nidden ist ein rundum schöner und gepflegter Ort mit bunten Holzhäusern, ordentlichen Gaststätten und voll pulsierendem Leben: Treffpunkt vieler Menschen aus allen Teilen Europas, und natürlich auch zahlreicher Deutscher, die als „Wiederholungstäter“ immer wieder hierherkommen. Die Verbindungen nach der Bundesrepublik Deutschland sind ja auch günstig: entweder mit der Fähre von Rügen nach Memel oder mit dem Flugzeug von Berlin nach Memel / Polangen. Nidden selbst liegt am Haff, zum kilometerweiten, weißen Sandstrand der Ostsee führen zahlreiche Wege über Düne n und durch schattenspendende Kiefernwälder. Abseits des Trubels kann man völlig menschenleere Partien am Strand erleben. Und dann die zahlreichen und gut angelegten Radwege parallel zum Haff und zur Ostsee. Der Radwanderer kann praktisch den gesamten litauisch verwalteten Teil der Nehrung von Memel bis zur Staatsgrenze zum Königsberger Gebiet befahren. Überall in Nidden können Räder geliehen werden. Wer diesen Ort erlebt, kann gut verstehen, daß sich hier der bekannteste Gast, nämlich Thomas Mann, von 1929 bis 1932 sehr wohl gefühlt hat. Sein Haus liegt auf einer Anhöhe mit wunderbarem Blick auf das Haff. Es beherbergt heute eine Thomas-Mann-Forschungsstätte, getragen von Deutschen und Litauern, sowie ein kleines Museum. Während der Saison finden zahlreiche kulturelle Veranstaltungen statt, die bei den Gästen einen guten Ruf haben. Überhaupt muß festgestellt werden, daß anders als in den polnisch verwalteten Gebieten Ostdeutschlands, wo die Polen nach 1945 alles Deutsche wegzuradieren versuchten, im unter litauischer Souveränität stehenden Teil der Ostprovinzen Deutschlands die Litauer offensichtlich keine Probleme mit der deutschen Vergangenheit haben. In Nidden ist dieses exemplarisch zu beobachten auf dem Friedhof, in der evangelischen Kirche mit einem deutschen Pfarrer oder im Heimatmuseum, obwohl heute in diesem Ort nur noch einige ältere deutsche Bürger leben. Auch in Memel und Heydekrug finden sich Spuren aus der Zeit vor der sowjetischen Besetzung, die als Teil der eigenen Geschichte von den Litauern gepflegt werden. Wer kennt nicht das berühmte Standbild des Ännchen von Tharau oder das prächtige Backsteingebäude der Hauptpost, die restaurierten alten Gassen; Inschriften erinnern an den Aufenthalt der Königin Luise; in Heydekrug steht das Denkmal von Hermann Sudermann, den hierzulande – abgesehen von den Ostdeutschland – wohl kaum noch jemand kennt.
Tilsit ist Grenzstadt zwischen der Republik Litauen und dem Königsberger Gebiet, der von Rußland abgetrennten Exklave der Russischen Föderation. Die berühmte und jetzt restaurierte Luisenbrücke überquert den breiten Grenzfluß Memel, dann betritt der Besucher eine heute russisch anmutende Stadt; es fängt mit Kontrollen kurz hinter der Brücke an, die lebhaft an die Zeiten des real existierenden Sozialismus beispielsweise in Helmstedt / Marienborn erinnern. Zentrum der Stadt ist der „Platz des Sieges“ mit dem Standbild von „Opa“ Lenin – so die geringschätzige Bezeichnung durch junge Russen. Von diesem Platz führt in Richtung Luisenbrücke die damalige Flaniermeile „Hohe Strasse“, auf der auch heute die Menschen entlangbummeln. Zahlreiche Gebäude aus der Vorkriegszeit zeugen vom damaligen Wohlstand, heute wirken sie verwahrlost in ihren verblichenen Farben und zerbröckelnden Fassaden; nur vereinzelt wurde restauriert. Die Neubauten aus sowjetischer Zeit sehen fast noch trostloser aus, sie werden spöttisch von Einheimischen als „sowjetische Renaissance“ bezeichnet. Generell – so heißt es – steht der gesamte Wohnungsbestand im Gebiet unter kommunaler Verwaltung, und hier fehlt das Geld. Manche Schäden könnten durch Eigeninitiative der Menschen repariert werden. Diese fehlt offensichtlich. An ihrer Stelle scheint Lethargie zu herrschen Es sind nicht nur alte Mütterchen, die stundenlang auf Parkbänken sitzen.
So wie sich Tilsit präsentiert, so zeigen sich auch andere Städte der Region wie Ragnit, Gumbinnen, Insterburg und Tapiau, aber auch berühmte Orte im Samland wie Cranz oder Palmnicken, wo sich die größte Bernsteinmine der Welt befindet, hermetisch abgeriegelt, streng bewacht und völlig verwildert an den Rändern der Grube. Der Abbau geschieht noch mit alten deutschen Maschinen. Durch unterirdische Rohrleitungen wird der Abraum in eine Fabrik in Palmnicken transportiert – alles streng geheim. Und man ist verwundert, daß entlang der ganzen Ostseeküste von Litauen bis zur Bundesrepublik Deutschland in den Seebädern Tausende von Händlern Bernsteinschmuck anbieten. Woher kommt das wohl? Offensichtlich fördern neben dem Staat unzählige „Bergleute“ privat, heimlich und damit illegal – ein durchaus lukratives Geschäft.
Einen entsetzlichen Eindruck macht in Ragnit die zerfallende und völlig verwahrloste Ruine des ehemaligen Schlosses des Deutschen Ordens. Sie dokumentiert eindrucksvoll, wie wenig die Bewohner auch in der zweiten und dritten Generation mit der deutschen Vergangenheit ihrer neuen Heimat anfangen können. Einzelne Lichtblicke wie Trakehnen oder die Salzburger Kirche in Gumbinnen sind Ausnahmen, und natürlich auch Königsberg mit dem Dom und Immanuel Kant. Chronistenpflicht gebietet festzustellen, daß Hervorragendes bei der Restaurierung des „Kulturtempels“ geleistet wird, Ausstellung und Präsentation des Domchores sind eindrucksvoll. Aber schon die Suche nach der ehemaligen Wohnung von Agnes Miegel in einem heruntergekommenen Gebäude aus der Vorkriegszeit in einer Seitenstraße gestaltete sich mühsam. Immerhin erinnert eine Gedenktafel an die große Ostpreußin. Ansonsten kann man Königsberg als lebendige, dynamische mitteleuropäische Großstadt mit starkem Autoverkehr und vielen gut bis elegant gekleideten jungen Frauen sowie zahlreichen Geschäften mit reichhaltigen Angeboten erleben. Auffallend auch die wenigen Uniformierten im Straßenbild, war doch das Gebiet eine Bastion sowjetisch-russischer Militärmacht. Auf jeden Fall ist der Kontrast zwischen Königsberg sowie den kleineren Städten und dem flachen Land in jeder Beziehung erheblich.
Ostdeutschland war eine Kornkammer des Deutschen Reiches. Höfe von Einzelbauern zwischen fünf und 100 Hektar wechselten mit Großgrundbesitzern, die zirka 30 Prozent der damaligen landwirtschaftlichen Nutzfläche besaßen. Insgesamt war Ostdeutschland eine eher kleinteilige Kulturlandschaft. Daran erinnert im Königsberger Gebiet heute nichts mehr, es sei denn, zahlreiche Ruinen als letzte steinerne Zeugen, verwahrloste Bauernhäuser und ehemalige Stallungen, manchmal noch bewohnt, vielfach aber verlassen. Dieser Zustand hat sich noch verstärkt, nachdem 1992 die letzten Großraumwirtschaften (Kolchosen) aus sowjetischer Zeit zusammengebrochen sind. Wie verzweifelt die Situation der Menschen ist, zeigt die Tatsache, daß mit Ziegeln aus Vorkriegsbauten ein wenig Geld verdient wird. Die einst wogenden Getreidefelder und Wiesen voller Kühe und Pferde gibt es kaum noch. Das Land entwickelt sich zurück zu einer sich selbst überlassenen Naturlandschaft. Wildnis breitet sich aus; und dennoch wird der Beobachter durch die nicht vergehende Schönheit der Landschaft mit ihren sanften, gewellten Konturen bis zum Horizont entschädigt, Wald wechselt mit Grünland ab, und da ist weiterhin der glasklare Himmel. Man kann nachvollziehen, daß diese Eindrücke unzählige Male beschrieben und besungen wurden; übrigens auch heute. So gibt es junge Russen, die sich als Ostdeutschland bezeichnen. Dies läßt hoffen, daß vielleicht nicht alles verloren geht.
Viele Stätten und Orte ließen sich noch beschreiben – Rossitten, deutsche Soldatenfriedhöfe der Kriegsgräberfürsorge oder das Deutsche Haus in Königsberg. Leicht kann der Schmerz nachempfunden werden, wenn ehemalige Bewohner ihre Heimat heute sehen. Gegenwärtig schreitet auf dem Lande, aber auch in den Städten vielfach der Zerfall steinerner Zeugen aus der Zeit vor der sowjetischen Besetzung fort. Es muß die Frage erlaubt sein, wie die heute hier lebende dritte Generation von Russen sich ihr Verhältnis zur Geschichte ihrer jetzigen Heimat bestimmt. Ansätze zu ihrer Annahme gibt es bei Studenten der Albertina. Die Geschichte dieses Landes begann nicht erst 1945, Ostdeutschland ist untrennbarer Teil der deutschen Geschichtslandschaft. Seine lange Nachkriegszeit sollte endlich beendet werden (U. Lachauer). Deshalb sollten Deutsche vermehrt in das Gebiet Königsberg fahren und das Gespräch mit den heutigen Bewohnern suchen. Karin und Karlheinz Lau
Königin-Luise-Brücke an der Tilsiter Memelseite: Vergebens versuchten die Deutschen gegen Ende des Zweiten Weltkrieges, durch die Sprengung der Brücke die Stadt gegen dem Ansturm der Roten Armee halten zu können. Inzwischen wiederaufgebaut, überspannt sie heute als Folge des Krieges und des Zusammenbruches der Sowjetunion mit der Memel eine Staatsgrenze mitten durch Ostdeutschland. |
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