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Schmerzhafter Abstieg

 
     
 
Was ist bloß los mit der deutschen Chemieindustrie? Früher einmal konnte sie sich mit dem Slogan "Apotheke der Welt" schmücken, heute rangiert man in der globalen Firmenfolge unter "ferner liefen". Von den drei großen Nachfolgewerken der alten "IG-Farben" HOECHST, BAYER und BASF, hat die Frankfurter HOECHST AG als erste das Handtuch geworfen.

Es waren nicht immer strukturelle Probleme, welche den Profit schmelzen ließen; die oft falsche Industriepolitik der rot-grün
en Regierenden trägt Mitschuld an manchen Miseren. Die im letzten Jahrzehnt grassierende Fusionitis verleitete die Hoechster Manager zum Kauf der US-Firma Celanese für 5,5 Milliarden D-Mark. Niemals vorher in der deutschen Industriegeschichte ist ein ausländisches Unternehmen dieser Größenordnung akquiriert worden. Der globale Kapitalismus, so sagte man, sei mit seinen Wachstums- und Innovationskräften nicht aufzuhalten. Um aber die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu stärken, müßte eine Umschichtung des Produktportfolios in Richtung wertschöpfungsstarker, konjunkturell weniger anfälliger Performance-Produkten stattfinden. Also zerlegte man in einer bisher in Deutschland nicht dagewesenen Transaktion den Hoechster Weltkonzern in zwei Teile. Die wertschöpfungsstarken Bereiche Pharma, Pflanzenschutz und Diagnostika, "Life Sciences" wie man das nennt, fusionierten mit dem starken französischen Rhone-Poulenc-Konzern zu einem der größten Pharmaunternehmen. Es erhielt den Namen "AVENTIS" mit Sitz in Straßburg. Der zweite Teil, die komplette Industriechemie umfassend, also Kunststoffe, Farbstoffe und Grundchemikalien, blieb weiterhin, doch in stark verkleinerter Form, unter dem Namen "CELANESE" in Frankfurt. Dann begann die Endrunde im Ausverkauf der HOECHST AG.

Der deutsch-französische Pharmakonzern AVENTIS weckte die Begehrlichkeit der Franzosen, im globalen Pharmabereich mitzumischen. Chiracs Superminister für Wirtschaft und Finanzen, Nicolas Sarkozy, übte stärksten Druck auf das AVENTIS-Management aus, damit der wesentlich kleinere und umsatzschwächere französische Konkurrent, SANOFI-SYNTHELABO, durch ein feindliches Übernahmeangebot in Höhe von 55 Milliarden Euro den HOECHST-Nachfolger AVENTIS schlucken konnte.

Da halfen auch die großsprecherischen Worte des Bundeswirtschaftsministers Clement (SPD) nicht mehr. Er nannte die Übernahme durch den französischen SANOFI-Konzern einen "interventionistischen Vorgang, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt habe". Clement warnte Paris vor weiteren "massiven Eingriffen" dieser Art. Die neue SANOFI-AVENTIS Gruppe wird die Zentrale von AVENTIS 2005 auch nach Paris verlegen. Der Standort Schiltigheim bei Straßburg soll im Laufe des kommenden Jahres geschlossen und die Geschäftsaktivitäten vollständig nach Paris verlegt werden, doch zu Entlassungen soll es angeblich in diesem Fall nicht kommen. Obwohl Gewerkschaftsvertreter damit rechnen, daß früher oder später bis zu 3.000 der 9.000 AVENTIS-Arbeitsplätze nach Frankreich verlagert werden könnten, blieb es bei verbalen Attacken auf deutscher Seite. Besteht kein Interesse mehr an deutscher Wirtschaftspolitik? Wo vor einiger Zeit noch 55.000 Mitarbeiter der traditionsreichen HOECHST AG ihr Brot verdienten, werkeln derzeit nicht einmal halb so viele Beschäftigte in rund 40 Gesellschaften im heutigen "Industriepark Hoechst". Eine davon, die oben genannten CELANESE AG, ist inzwischen vollständig von dem US-Finanzinvestor Blackstone übernommen worden.

Während in den letzten Jahren mit HOECHST, BOEHRINGER Mannheim und KNOLL drei namhafte deutsche Pharmafirmen in ausländischen Besitz übergingen, ist der Abstieg des einstigen Vorzeigeunternehmens BAYER Leverkusen mehr hausgemachter Art. Auf der weltweiten Rangliste der Pharmakonzerne findet sich die BAYER AG nur noch auf Platz 18; an erster Stelle steht PFIZER (USA), gefolgt von GLAXO-SMITHKLINE (GB). Eigentlich ist BAYER zu klein, um im Renditewettbewerb langfristig bestehen zu können. Und das ausgerechnet zum 100jährigen Bestehen eines der berühmtesten Markenzeichen der Welt, des bekannten BAYER-Kreuzes. Kein anderes Produkt hat den Namen BAYER so bekannt gemacht wie das Aspirin. Im entferntesten Winkel der Erde verbreitet, wird es hoch geschätzt als Mittel gegen den Schmerz. Noch heute verläßt das synthetische Arzneimittel als Tablette mit dem aufgeprägten BAYER-Kreuz millionenfach die Verpackungsanlagen. Mit einem Umsatz von 574 Millionen Euro pro Jahr nimmt Aspirin den vierten Platz innerhalb der umsatzstärksten Pharmaka des Leverkusener Unternehmens ein. Aspirin gehört zu den wichtigsten Arznei-

mitteln der Selbstmedikation, Medikamente, die rezeptfrei erworben werden können. Die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA, bekannt für ihre sehr zurückhaltenden Verlautbarungen, erklärte, daß tägliche Gaben von Aspirin (Acetylsalicylsäure) als Begleittherapie das Risiko eines zweiten Herzinfarktes um ein Fünftel senken.

Die deutsche Chemieindustrie, hierzulande die viertgrößte Branche, bezieht ihre Gewinne größtenteils aus dem Ausland. In ihrer Forschung und Entwicklung steckt eine Menge Humankapital. Die BAYER AG, die sich selbst als Erfinderunternehmen bezeichnet, gab im Jahre 2003 für die Pharma-Forschung 1,2 Milliarden Euro aus. Trotzdem muß sie seit einiger Zeit deutliche Verluste verkraften. Der Abstieg begann, als das Unternehmen seinen Kassenschlager, den Cholesterinsenker LIPOBAY, vom Markt nehmen mußte. Dem blutfettsenkenden Medikamnt werden schwerwiegende Nebenwirkungen nachgesagt. Die gerichtlichen Auseinandersetzungen um LIPOBAY verschlechterten die wirtschaftliche Lage der BAYER AG, bisher wurden in einem Vergleich 1,08 Milliarden Dollar aufgewendet. Mehrere Anläufe, sich vom Pharmageschäft zu trennen, scheiterten an den Risiken, die ein Aufkäufer hätte mit übernehmen müssen. Mit der jetzt beschlossenen Neuausrichtung soll aus dem früheren Global Player ein mittelständisches europäisches Pharmaunternehmen werden, es wird die Teilkonzerne Gesundheit, Ernährung und "Hochwertige Materialien" umfassen. Das Chemie-Geschäft sowie Teile des Polymergeschäfts werden in einer neuen Gesellschaft unter dem Namen LANXESS - eine Zusammensetzung aus dem französischen "lancer" (in Gang setzen) und dem englischen Begriff "success" für Erfolg - zusammengefaßt. Die Aktien der LANXESS AG sollen bis Anfang 2005 an der Frankfurter Wertpapierbörse zugelassen werden. Für je zehn BAYER-Aktien gibt es eine LANXESS-Aktie gratis.

BAYERS Abstieg aus der Meisterklasse muß die BASF AG noch nicht nachvollziehen. Der weltgrößte Chemiekonzern aus Ludwigshafen verfolgt konsequent die Linie eines integrierten Chemieunternehmens. Allerdings will auch die BASF AG die Zahl ihrer Beschäftigten am Standort Ludwigshafen bis Ende 2007 auf etwa 32.000 von derzeit 35.000 Mitarbeiter verringern. Darauf haben sich Unternehmensleitung und Arbeitnehmervertreter in Ludwigshafen geeinigt. Das Ziel solle ohne betriebsbedingte Kündigungen bis zum Jahr 2010 fortgeschrieben werden.

Als stabilisierendes Element in dem immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Umfeld bewährt sich aber das Geschäft mit Erdöl und Ergas. Beide Energieträger sind zusammengefaßt in der WINTERSHALL AG, einer 100prozentigen Tochtergesellschaft der BASF. Von den Wüstengebieten Nordafrikas (Libyen) bis zu den Tiefen der Nordsee reichen die Fördergebiete von WINTERSHALL. Aus dem größten Off-shore-Ölfeld, dem vor der Nordseeküste gelegenen Mittelplate, werden Jahr für Jahr rund 1,8 Millionen Tonnen Öl gefördert, gerade mal ein Prozent des in Deutschland benötigten Rohöls.

Energie ist die Lebensader der Wirtschaft. Immer wichtiger als Energieträger wird das Erdgas, das heute bereits 20 Prozent des deutschen Primärenergiebedarfs deckt. Seit zwölf Jahren besteht die Partnerschaft der BASF mit GASPROM, dem mächtigsten Konzern Rußlands. GASPROM ist mit Reserven von 32,4 Billionen Kubikmetern Erdgas und riesigen Mengen Erdöl Rußlands wichtigster Devisenbringer und Deutschlands größter Gaslieferant. WINGAS, ein zu 65 Prozent in WINTERSHALL- und zu 35 Prozent in GAZPROM-Besitz befindliches Gashandels-Joint-Venture hat seinen Absatz 2003 auf drei Milliarden Euro gesteigert. Das gemeinsame deutsch-russische Unternehmen versorgt Deutschland über eine 4.000 Kilometer lange Rohrleitung mit Erdgas aus Sibirien. WINTERSHALL und GASPROM haben in den letzten Jahren etwa 2,5 Milliarden Euro in Erdgasleitungen investiert.

Das BASF-Prinzip der Verbundstruktur beruht auf nur wenigen Rohstoffen, die über einige hundert Zwischenprodukte eine Vielzahl von chemischen Verkaufsprodukten liefern. Die Basis dieses Systems sind die Steamcrakker, gewaltige Anlagen, in denen aus Rohbenzin (Naphtha) bei 850 Grad Celsius die ungesättigten Kohlenwasserstoffe Ethen und Propen entstehen. Diese beiden selbstproduzierten Grundstoffe wiederum gehen in die vielen von der BASF produzierten Endprodukte ein.

Dr. Jürgen Hambrecht, Chemiker und Vorstandsvorsitzender von insgesamt 87.000 BASF-Mitarbeitern, bezeichnete kürzlich in einem Interview die finanzielle Förderung erneuerbarer Energien als "eine Fehlleitung, die inzwischen die Größenordnung der Steinkohlensubvention erreicht hat und zur Belastung unserer Energieausgaben beiträgt".

 
     
     
 
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