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Staatlich geförderte Parallelgesellschaften

 
     
 
Dr. Stefan Luft, Historiker und Politikwissenschaftler, seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen, hat schon in seinem Buch "Ausländerpolitik in Deutschland - Mechanismen, Manipulation, Mißbrauch" zahlreiche Problemfelder angesprochen. Im nachfolgenden Interview betont er noch einmal den dringenden Handlungsbedarf.

Allein im Berliner Stadtteil Neukölln
leben rund 60.000 Muslime - nahezu jeder dritte Einwohner ist also ein Migrant. Ein Bild, das in absehbarer Zeit die deutschen Großstädte prägen wird?

Stefan Luft: Die demographische Entwicklung und die vorhersehbare weitere Zuwanderung werden dazu führen, daß wir in deutschen Großstädten und Ballungszentren in den nächsten Jahrzehnten bei den unter 40jährigen Ausländeranteile von bis zu 50 Prozent zu erwarten haben. Dann wird die einheimische Bevölkerung - wie Professor Birg es einmal nannte - eine "Minderheit unter anderen Minderheiten" sein. Ein wesentlicher Grund dafür liegt in der Gastarbeiteranwerbung in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und der dann einsetzenden "Kettenmigration" - dem Nachzug aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis des jeweiligen Herkunftslandes. Großstädte und Metropolen sind vor allem deshalb für Zuwanderer interessant, weil sich dort leichter ethnische Netzwerke bilden und Unterkunft und Beschäftigung finden lassen als auf dem flachen Land.

Der Soziologe Hartmut Häußermann sagt, in Deutschland gebe es keine Parallelgesellschaft. Sie zeichnen ein anderes Szenario. Was halten Sie Prof. Häußermann entgegen?

Stefan Luft: Unter Fachleuten ist unstrittig, daß die bereits vorhandenen ethnischen Kolonien zunehmend Züge von Parallelgesellschaften annehmen. Blicken wir auf die ethnisch strukturierte Ökonomie - beispielsweise in den westlichen Innenstadtbezirken Berlins. Dort finden Sie auf dem Dienstleistungssektor alles, was den Gebrauch der deutschen Sprache überflüssig werden läßt: Der landsmännische Friseur und Lebensmittelhändler, das türkische Kaufhaus und die türkische Bank, das libanesische Reisebüro und natürlich auch die Teestube. Der Ausländer, der in einem solchen Wohngebiet lebt, ist nicht mehr auf den Kontakt zur deutschen Gesellschaft angewiesen. Eine entsprechende Situation finden wir auch in den Schulen. In vielen Klassen ist die Mehrheit der Schüler nichtdeutscher Herkunft. All das sind Gesichtspunkte, die dafür sprechen, daß sich in unserem Land Parallelgesellschaften entwickeln, die auch von außen nicht mehr zu durchdringen sind. Die Polizei steht hier bei vielen ethnischen Gruppen - nicht nur in Berlin - vor einer "Mauer des Schweigens". Soll heißen: Bestimmte ethnisch strukturierte Subkulturen haben sich so abgeschottet, daß die Polizei nicht mehr herankommt. Das betrifft sowohl türkische Gangs als auch die libanesische Mafia.

Städte und Gemeinden ächzen unter den hohen Sozialhilfelasten, die auch nach Hartz IV nicht abgebaut werden. Gleichzeitig findet eine Zuwanderung in die deutschen Sozialsysteme statt. Was ist zu tun?

Stefan Luft: Es ist unstrittig, daß die Zuwanderung nach Deutschland in vielen Fällen eine Zuwanderung in den Sozialstaat ist. Beim neuen Zuwanderungsgesetz wurde die Chance nicht genutzt, hier notwendige Korrekturen vorzunehmen und Wanderungsanreize zu senken. Auch ist die Statistik, die über den Sozialhilfebezug von Ausländern geführt wird, nicht mehr sonderlich aussagekräftig. Ein Beispiel: Allein in Berlin wurden zwischen 1991 und 2001 rund 108.000 Personen eingebürgert. Seit dem Jahr 2000 erhält nach dem neuen rot-grünen Staatsangehörigkeitsrecht jedes zweite in Deutschland geborene Kind von ausländischen Eltern mit einem unbefristeten Aufenthaltsstatus automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit und taucht damit in der Statistik auch als deutscher Staatsbürger auf - und damit im Bedürftigkeitsfall als deutscher Sozialhilfeempfänger. Hinzu kommt ein anderes Problem. Es gibt im Land einen großen Kreis von Ausländern, der ausreisepflichtig ist, gleichwohl aber Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz erhält ...

Können Sie diesen Personenkreis quantifizieren?

Stefan Luft: Nach Angaben der Bundesregierung gibt es in Deutschland rund 500.000 ausreisepflichtige Ausländer, davon leben 250.000 Personen mit einer sogenannten Duldung im Land. Zum Beispiel, weil ihre Identität nicht geklärt ist, sie keine Pässe vorweisen oder sich ihr Heimatland einer Rückführung widersetzt.

Aber das neue Zuwanderungsgesetz schiebt doch derartigen Mißständen einen Riegel vor ...

Stefan Luft: Die konkreten Ansätze bleiben hier weit hinter dem aus Sicht der Praxis Notwendigen zurück. Im Gegenteil: Das Zuwanderungsgesetz ermöglicht in vieler Hinsicht eine Ausweitung der ungesteuerten Zuwanderung: Unter anderem durch die Ausweitung der Verfolgungsgründe und die Härtefallkommissionen, deren Einrichtung den Landesregierungen ausdrücklich durch das Gesetz ermöglicht wird. Ich halte dies für einen rechtspolitischen Skandal. Mit den Härtefallkommissionen werden jetzt nahezu flächendeckend Gremien geschaffen, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit und unter maßgeblicher Beteiligung von Lobbygruppen, denen jede demokratische Legitimation fehlt, jahrelange Asylverfahren kippen. Wenn der gesamte Instanzenzug durchlaufen und immer wieder festgestellt wurde, es gibt kein Bleiberecht, kann mit Hilfe dieser Kommissionen doch noch ein Bleiberecht erzwungen werden.

In Berlin beherrschen rund 90 Prozent der Schüler ausländischer Herkunft nicht einmal ausreichend die deutsche Sprache. Fehlt es an den notwendigen Bildungseinrichtungen, oder liegt dieser Mißstand an mangelndem Willen im Elternhaus?

Stefan Luft: Aus meiner Sicht fehlt es in erster Linie am mangelndem Integrationswillen und am fehlenden Bildungsinteresse der Eltern. Insbesondere in den ethnischen Kolonien - ich erwähnte es bereits - besteht nicht mehr die Notwendigkeit, sich der deutschen Sprache zu bedienen. Wenn im Elternhaus nicht deutsch gesprochen wird, der Fernseh- und Medienkonsum in der Herkunftssprache erfolgt, dann können die Bildungseinrichtungen diesen Kindern die deutsche Sprache nur unzureichend vermitteln. Deshalb vertrete ich die Auffassung, daß man gegenüber den Eltern viel mehr als bisher deutlich machen muß, daß sie nicht nur ein Recht zur Erziehung ihrer Kinder haben, sondern auch die Pflicht, ihren Kindern ausreichende Kenntnisse der Sprache des Aufenthaltslandes zu vermitteln und ihnen so überhaupt erst die Voraussetzung erfolgreicher Integration zu geben.

Hinzu kommt das Dilemma in Großstädten und Stadtstaaten: Aufgrund der dramatisch wegbrechenden Steuereinnahmen stehen kaum Mittel zur Verfügung, zusätzliche Integrationsangebote zu machen. Gleichzeitig wächst aber die Notwendigkeit, insbesondere in den sozialen Brennpunkten und den ethnischen Kolonien, mehr zu tun, beispielsweise mehr Ganztagsschulen einzurichten. Die Regelung im Zuwanderungsgesetz, wonach Ausländer zur Teilnahme an einem Integrationskurs grundsätzlich verpflichtet und aufenthaltsrechtliche Konsequenzen angedroht werden, wenn dies verweigert wird, geht zwar in die richtige Richtung. Allerdings ist zu befürchten, daß die zahlreichen Ausnahmeregelungen, bei denen von Sanktionen abzusehen ist, dazu führen werden, daß sie in der Praxis ins Leere laufen. Bei den angedrohten Kürzungen von Sozialleistungen handelt es sich um eine "Kann-Bestimmung", so daß auch hier in der Praxis wohl kaum steuernd eingegriffen werden wird.

Läßt sich die Mehrheit der Muslime überhaupt integrieren?

Stefan Luft: Zuwanderer aus dem islamischen Raum tun sich mit der Integration in westliche Gesellschaften häufig ausgesprochen schwer. Das ist ein strukturelles Problem. Die polnischstämmige Zuwanderung im 20. Jahrhundert hatte beispielsweise ganz andere Integrationsergebnisse aufzuweisen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir zirka 2,6 Millionen Gastarbeiter nach Deutschland geholt - darunter 600.000 Menschen aus der Türkei. Da der Familiennachzug großzügig gehandhabt wurde, ging der Zuzug auch nach dem Anwerbestop von 1973 weiter. Nach Schätzungen von Fachleuten holen 60 Prozent der hier lebenden Türken ihre künftigen Ehepartner aus der Türkei nach Deutschland. Auf diese Weise werden die Integrationsprobleme über Generationen hinweg fortgeschrieben. Das weist auch auf die Probleme hin, die mit dem geplanten Beitritt der Türkei zur Europäischen Union verbunden sein werden: Bisher haben sich - aufgrund des Netzwerkeffektes - rund drei Viertel aller türkischen Staatsbürger, die in die Europäische Union kamen, in Deutschland niedergelassen. Es gibt Schätzungen, die von einem Migrationspotential von 4,4 Millionen Menschen für Deutschland ausgehen. Ich allerdings halte diese Zahl für die unterste Größenordnung. Eine solche Zuwanderungswelle würde Deutschland überfordern und die Gesellschaft spalten.

Vor zwei Jahren erstritt die Islamische Föderation das Recht, an Berliner Schulen Religionsunterricht zu erteilen. Sind solche Urteile nicht dazu angetan, Integrationsbemühungen zu konterkarieren?

Stefan Luft: Wenn Bundeskanzler Schröder behauptet, die Bundesregierung dulde keine Parallelgesellschaften, so ist diese Aussage absurd, weil die Bundesrepublik Deutschland geradezu Parallelgesellschaften fördert. Ein Beispiel ist der von Ihnen erwähnte Rechtsanspruch der Islamischen Föderation, in Berlin islamischen Religionsunterricht zu erteilen, der dann auch weitgehend vom Staat finanziert werden muß. Um unter sich zu bleiben, wird den deutschen Lehrern der Zutritt zu den Klassenräumen und zum Unterricht nur nach vorheriger Anmeldung gewährt. Befragungen unter Berliner Lehrern ergaben, daß die Grundschüler, die diesen Religionsunterricht besuchen, sehr viel aggressiver auftreten, als das bisher der Fall war.

In Deutschland leben nach Angaben des BKA rund 31.000 islamische Extremisten, davon gelten 3.000 als besonders militant. Gemessen an 3,2 Millionen Muslime ist diese Zahl eher gering. Wird da in der öffentlichen Diskussion nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen?

Stefan Luft: Ich halte diese Zahlen für wenig realistisch. Das Problem besteht gerade darin, daß diese islamistischen Organisationen mit Hilfe ihrer großen Finanzkraft über ihre Moscheen und Anlaufstellen einen nicht unerheblichen Einfluß auf die islamische Bevölkerung haben. Insbesondere die Jugendlichen, die häufig arbeitslos sind, sind eine wichtige Zielgruppe dieser Organisationen.

Nach dem Mord an Theo van Gogh hält das BKA ein Überschwappen der Gewalt nach Deutschland für möglich. Müssen wir mit bürgerkriegsähnlichen Zuständen rechnen?

Stefan Luft: Daß es in Deutschland bisher noch keine gewalttätigen Auseinandersetzungen gegeben hat, liegt in erster Linie an der Einbettung der Zuwanderer in den deutschen Sozialstaat. Durch die beschriebene Situation in deutschen Großstädten und die sich abzeichnenden Entwicklungen halte ich allerdings auch in Deutschland gewalttätige Auseinandersetzungen in absehbarer Zeit nicht für ausgeschlossen. Vor allem dann, wenn wir uns weigern, ernsthafte Konsequenzen aus der zweifellos vorhandenen Integrationskrise zu ziehen. Wenn wir nicht sehr viel stärker als bisher signalisieren, daß derjenige, der in Deutschland leben will, von sich aus eine erhebliche Anpassungsleistung zu erbringen hat, sind auch hier erhebliche Konflikte nicht auszuschließen.

Das Gespräch führte Joachim Schäfer, NRW-Landesgeschäftsführer des Bundes der Selbständigen und Chefredakteur der Zeitschrift Der Selbständige, in der eine Langfassung dieses Interviews erschien.

 

Klein-Istanbul: Türken in Deutschland müssen schon lange kein Deutsch mehr können, um sich hier zurechtzufinden. Vom türkischen Friseur und Lebensmittelhändler bis zur türkischen Bank und Teestube reicht die türkischsprachige Infrastruktur.
 
     
     
 
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