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Stadtfest

 
     
 
Schon lange war es Dr. Hans-Joachim Beths Wunsch gewesen, einmal an den Ort zurückzukehren, an dem er vom Sommer 1943 bis zum Sommer 1944 ein Jahr seiner Kindheit verbracht hatte. Tatsächlich wollte er aber nicht nur dieses kleine Dorf in der Nähe Angerapps wiedersehen, sondern auch das ganze Ostdeutschland kennenlernen, wozu er damals während des Krieges keine Gelegenheit hatte. Als Anfang der 90er Jahre die Reisesperre für den russisch verwalteten Teil Ostdeutschlands fiel, begann er sich ernsthaft für eine solche Reise zu interessieren. Im Interne
t kündigte die Kreisgemeinschaft Angerapp zusammen mit dem Reise-Service Busche eine seinen Wünschen optimal entsprechende Reise für den September an. Die Anmeldung war nur eine Frage der Zeit. Letzten Monat ging es endlich los.

Nachdem der Bus in Rodewald, Ahrensburg und Ludwigslust das Gros der Reisenden an Bord genommen hatte, vervollständigte Beth zusammen mit einigen anderen Teilnehmern in Birkenwerder bei Berlin die Gruppe. Über den Grenzübergang Küstrin und die Stadt Landsberg an der Warthe ging es zur ersten Zwischenübernachtung nach Schneidemühl. Teilweise der alten Reichsstraße 1 folgend, fuhren sie über Konitz, die Tucheler Heide, Marienburg - hier legten sie eine Fotopause ein - und Frauenburg zum Grenzübergang Braunsberg / Heiligenbeil, ließen hinter der Grenze Königsberg links liegen, passierten Insterburg und erreichten am frühen Abend ihr Hotel in Gumbinnen, nur 100 Meter vom berühmten Elchdenkmal entfernt.

Am Folgetag begann das eigentliche Reiseprogramm dann mit Angerapp. Für viele Teilnehmer war es erst die erste oder zweite Wiederbegegnung mit ihrem Geburtsort. Voller Neugier machten sie sich auf die Suche nach den Orten ihrer persönlichen Biographie. Obwohl während des Zweiten Weltkrieges auch um Angerapp heftige Kämpfe stattgefunden hatten, sind noch erfreulich viele Häuser aus der Vorkriegszeit erhalten. Einige fanden so ihr Elternhaus wieder, andere die Schule, die sie einst besucht hatten. Etliche - darunter auch Beth - nutzten die Möglichkeit, mit hilfsbereiten Bewohnern des Städtchens in den Dörfern der Umgebung ihrer Vergangenheit nachzuspüren, nicht immer mit Erfolg, denn zu vielen abgelegenen Gehöften gibt es einfach keine Wege oder die kleinen Orte existieren nicht mehr.

Doch diese persönlichen Anliegen waren nur eine Seite des Besuches. Ein Höhepunkt war daneben der Besuch des Angerapper Stadtfestes, des Ereignisses des Jahres in der Stadt. Alle Einwohner waren auf den Beinen, um dieses mitzuerleben. Es fand ein Festumzug von dem Kriegerehrenmal bis zur Festwiese statt. Bei dieser Gelegenheit wurde das Ehrenmal wieder eingeweiht. Die abhanden gekommene Gedenktafel wurde durch eine neue ersetzt - mit der alten Inschrift, allerdings in Russisch. Angerapps Bürgermeister hatte um den deutschen Text gebeten, damit auch eine Tafel mit den Worten in Deutsch angebracht werden kann. Leider konnte der Text nicht rechtzeitig zum Stadtfest beschafft werden. Des weiteren wurde eine Sauna (Dampfbad) in der Kirchenstraße neu eingeweiht. Dort können die Bewohner, welche keine Gelegenheit haben, zu Hause zu baden, dieses dort vornehmen. Danach bewegte sich der Festumzug zum Marktplatz. An der Ecke Insterburger Straße / Kirchenstraße wurde die von Angerapps Kreistagsmitglied Heinz Hohmeister aus Dresden mitgebrachte "Alte Laterne" in Gegenwart des Bürgermeisters der Öffentlichkeit übergeben. Diese Leuchte soll an die Pionierrolle Angerapps bei der elektrischen Beleuchtung erinnern. Nach der Enthüllung eines Gedenksteins bewegte sich der Umzug zur Festwiese. Auf der Wiese war eine Bühne aufgebaut, auf der die offiziellen Reden der anwesenden Gäste gehalten wurden.

Anknüpfend an frühere Kontakte, gehörten auch Angerapps Kreisvertreterin Edeltraut Mai und Wolfgang Petschull, Stadtrat von Mettmann, neben litauischen und polnischen Besuchern zu den offiziellen Gästen dieses Festes. Petschull überbrachte die Grüße der Stadt Mettmann an die Bevölkerung von Angerapp und sprach den Wunsch aus, daß sich der Prozeß des gemeinsamen Kennenlernens in Zukunft verstärken möge.

Angerapps Schüler, die jetzt Schuluniformen tragen, welche sehr schön aussehen, nahmen allesamt am Festumzug teil und führten in ihren Trachten Tänze vor. Einige Verkaufsstände boten ihre Waren an. Die Musikkapelle spielte flotte Weisen. Es war ein lustiges Treiben in der ganzen Stadt, das die Reisegruppe aus der Bundesrepublik voller Interesse verfolgte. Zudem nutzte sie die Gelegenheit zu einem Besuch des kleinen, im Aufbau befindlichen Museums der Stadt Angerapp, die bis 1938 Darkehmen hieß.

Die Lebensbedingungen und Probleme der Bewohner, die hier zum Teil schon in der dritten und vierten Generation leben, blieben ihnen allerdings weitgehend verschlossen. Es reicht eben nicht aus, Angebot und Preise in den Geschäften zu sehen, man muß auch wissen, was die Menschen verdienen und ob sie überhaupt Arbeit haben. Allerdings sind die wirtschaftlichen Probleme nicht zu übersehen. Gerade deshalb läßt es sich die Kreisgemeinschaft Angerapp nicht nehmen, ein Kinderheim in der Nähe der gleichnamigen Kreisstadt mit Sachspenden und finanziell zu unterstützen. Ein Besuch dieses Heims zeigte, daß diese Hilfe gut ankommt. Nach der Bewirtung mit Tee und Gebäck erfreuten die Kinder mit Gesang und Tanz. Sozusagen als Glückssymbol begrüßte ein Schwein, das im Vorjahr aus Spendengeldern gekauft worden war, mit lautem Grunzen aus seinem Koben die deutsche Gruppe.

Der Nachmittag bescherte den Deutschen zwei gegensätzliche Eindrücke, das im Ausbau befindliche Gestüt in Weedern - ehemals im Besitz der Familie von Zitzewitz - und das ehemalige Gestüt Trakehnen, an das heute nur noch das Eingangstor und ein kleines Museum erinnern. Versuche, an diesem für die Pferdezucht historischen Ort an den ehemaligen Ruhm anzuknüpfen, sind aus unterschiedlichen Gründen leider fehlgeschlagen.

Ein weiteres Kapitel ihrer Rundreise schlugen die Reisenden mit Königsberg und Rauschen auf, wo zweimal übernachtet wurde. Die Fahrt von Gumbinnen über Insterburg mit einem Abstecher nach Wehlau führte eindrucksvoll vor Augen, wie hart hier der Krieg 1945 zugeschlagen hat. Nur wenige Bauten aus der Zeit vor dem Ende des Krieges sind erhalten, die meisten Häuser sind erst nach dem Krieg entstanden. Königsberg, das die Reisenden bei einer Stadtrundfahrt erlebten und dessen Dom sie natürlich einen Besuch abstatteten, präsentierte sich seinen Gästen als pulsierende russische Großstadt, ganz im Gegensatz zu den zuvor besuchten Städten.

Zu einem Naturerlebnis gestaltete sich der Besuch der rund 100 Kilometer langen Kurischen Nehrung. Bei einer kleinen Führung lernte die Gruppe die Vogelschutzwarte Rossitten kennen, anschließend begab sie sich auf einen Holzweg, und zwar einen richtigen, auf dem sie zu einer Aussichtsplattform gelangten, von der sie die Wanderdüne auf dem russisch verwalteten Teil der Nehrung bewundern konnten. Bei herrlichem Sonnenschein sahen die Reisenden bis Nidden auf der litauisch verwalteten Seite und nahmen anschließend ein erfrischendes Bad in der Ostsee.

Das bedrückende Gefühl, das bei der Fahrt durch den russisch verwalteten Teil Ostdeutschlands angesichts der vielen seit Jahren brachliegenden Felder empfunden wurde, verschwand auf der polnisch verwalteten Seite der innerostdeutschen Grenze allmählich. Hier sind die Äcker bewirtschaftet, zu dieser Jahreszeit ist die Ernte eingebracht, die Felder sind neu gepflügt und geeggt. Alicija, die charmante Dolmetscherin, hatte nun Gelegenheit, der Gruppe ihre nähere Heimat, die masurische Landschaft mit ihren zahllosen Seen sowie andere Teile Ost- und Westpreußens näherzubringen.

Bereits die erste Besichtigung bescherte einen Höhepunkt mit dem Besuch der Jesuitenkirche von Heiligelinde. Die Geschichte dieses barocken Gebäudes reicht bis ins 14. Jahrhundert zurück, um ihre Entstehung rankt sich eine rührende Legende. Eine wechselvolle Geschichte und auch der Zweite Weltkrieg konnten ihrer eindrucksvollen Schönheit nichts anhaben. Von ihrem malerisch am Schoßsee gelegenen Hotel "Panoramic" in Sensburg aus unternahmen die Deutschen einen erlebnisreichen Ausflug durch Masuren. Einer Schiffsfahrt auf dem Niedersee und einem Besuch von Nikolaiken, dem touristischen Zentrum Masurens, folgte eine Kahnfahrt auf der romantisch gelegenen Krutinna mit ihrem glasklaren Wasser. Kristina, ostdeutscher Abstammung und Chefin der Mannschaft der Stakleute, verstand es, mit dem gefühlvollen Vortrag eines Ostdeutschlandgedichts und eines Ostdeutschlandliedes vor dieser herrlichen Naturkulisse Emotionen auszulösen. Einer Stippvisite in die Altstadt von Allenstein folgte ein weiteres Highlight der Reise. Mit einem Schiff befuhren sie einen Teil des Oberlandkanals. Sie passierten fünf Übersetzstellen über die Rollberge und überquerten anschließend den Drausensee mit seiner reichen und vielfältigen Vogelwelt. Tagesziel war Elbing, wo sie im "Gromada"-Hotel Unterkunft fanden. Mit der Besichtigung der rekonstruierten historischen Altstadt von Danzig endete das offizielle Reiseprogramm.

Um ein kleines Fazit zu ziehen: Bei durchweg gutem Wetter erlebten die Reisenden elf Tage voll von bleibenden Eindrücken. Der besondere Reiz des Programms lag wohl darin, daß es sowohl persönlichen Erinnerungen als auch dem Wunsch, eine ganze Landschaft mit ihren Problemen und Sehenswürdigkeiten kennenzulernen, Rechnung trug. Den Reiseteilnehmern begegnete Ostdeutschland, das für viele von ihnen Heimat ist, als ein russisch beziehungsweise polnisch geprägtes Land mit Spuren deutscher Vergangenheit. Den Menschen, die heute hier leben, und den Deutschen dürfte ein Wunsch gemeinsam sein, künftig in Frieden und guter Nachbarschaft zu leben.

 
     
     
 
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