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Das Jahr 2001 zeichnet sich durch eine Reihe von wichtigen Veröffentlichungen zur Geschichte der Vertreibung der Deutschen aus Ostdeutschland, dem Sudetenland und Osteuropa aus. Zweifellos steht der Dokumentationsband „Odsun - die Vertreibung der Sudetendeutschen“ herausgegeben von Roland Hoffmann im Jahre 2000 in München mit seinen 944 Seiten in deutscher und tschechischer Sprache hier an erster Stelle, da er völlig neue Perspektiven zum geistigen Hintergrund der deutsch (sudetendeutsch)-tschechisch en Beziehungen eröffnet und die lange „Inkubationszeit“ bis zur Vertreibung des zweiten Volkes aus Böhmen und Mähren 1945/46 belegt. In einer geistesgeschichtlich und ideengeschichtlich äußerst genauen und lebendigen Einleitung von Roland J. Hoffmann wird die Vertreibung von 3,5 Millionen Sudetendeutschen in geschichtlicher Perspektive dargestellt. Band 1 schließt mit dem Jahr 1939, der Errichtung des „Protektorats“, und man kann gespannt sein auf die Fortsetzung.
Damit läßt sich die Publikation „Der Weg zur Vertreibung 1938-1945“ nicht vergleichen, da hier Pläne und Entscheidungen zur Vertreibung sowohl der Ost- wie der Sudetendeutschen von 1938 bis 1945 anhand von Akten und Quellen der beteiligten Staaten - vorwiegend der englischen Politik und Diplomatie - ausgewertet werden. Das ist zweifellos eine mühevolle Arbeit gewesen, deren Ergebnis weitere wichtige Aufschlüsse zu diesem Geschehen liefert. Dabei beschränkt sich der Verfasser auf eine sehr ausführliche Nachzeichnung der zahlreichen Memoranden, Gespräche, Verhandlungen, Beiträge und Reden der polnischen, tschechischen und sudetendeutschen Exilpolitiker, wobei bei den letzteren der Exilpräsident Eduard Benesch und der letzte Vorsitzende der sudetendeutschen Sozialdemokraten, Wenzel Jaksch, im Vordergrund stehen, die über Jahre miteinander und gegeneinander mit englischen Beamten und Politikern die „Nachkriegsordnung“ diskutierten. Die Einsicht ist hier erschreckend: Bei seinen brutalen Plänen kamen Benesch nicht nur Stalin zu Hilfe, sondern in zunehmendem Maße die englischen Politiker Eden und Churchill, später auch der US-Präsident Roosevelt. Schon 1942 gab das britische Kriegskabinett die grundsätzliche Zustimmung zum „Transfer“ und beschritt damit den verhängnisvollen Weg zur Vertreibungspolitik.
Aus vielen zitierten Quellen wird deutlich, daß Winston Churchill eine treibende Kraft bei diesen unmenschlichen Plänen war. In unverständlicher Blindheit berief er sich auf den türkisch-griechischen Bevölkerungsaustausch von 1923, obwohl er wußte, daß dieser „nur“ 600.000 Menschen getroffen hatte.
Selbstverständlich verfügte das englische Außenministerium (Foreign Office) über genaue Bevölkerungszahlen, Karten und Geschichtskenntnisse. So ging man von einer Gesamtzahl von 13,4 Millionen Deutschen in den Ostgebieten und dem Sudetenland aus (Statistik auf S. 257), die von einer Vertreibung erfaßt werden sollten. Diese große Zahl führte dann doch eine ganze Reihe von beteiligten Beamten und Diplomaten zu Einwänden und Bedenken, die politischer und praktischer Natur waren. Die einen befürchteten politische Unruhen in Deutschland, Revisionsbestrebungen, die anderen befürchteten Hungersnot und Elend, wirtschaftliche und soziale Probleme, von der Unmenschlichkeit aller dieser Pläne sprachen nur wenige, und die Regierung verheimlichte lange Zeit das Ausmaß und die zu erwartenden Schrecken der Vertreibung. Churchill insbesondere widersprach allen Einwänden mit dem nur zynisch zu nennenden Hinweis auf die Millionenverluste an deutschen Kriegstoten und die weiter zu erwartenden Verschleppungen in die Sowjetunion. Um die möglichen Zahlen der zu Vertreibenden zu senken, wurden auch aberwitzige Vorschläge unterbreitet, die Deutschen aus Ostdeutschland und Deutsch-Oberschlesien Stalin auszuliefern und nach Sibirien zu transportieren. Churchill trat beispielsweise am 15. Dezember 1944 im Unterhaus für eine „total expulsion“ der Deutschen ein und erklärte wörtlich: „A clean sweep will be made“, auf Deutsch: „Es wird ein reiner Tisch gemacht.“ Er berief sich dabei auch auf Rußland, das „ohne Schwierigkeiten große Massen von Leuten vertrieben habe“.
Bei einer solchen Denkweise und diesen politischen Zielsetzungen, für die Moral, Menschenrechte oder Völkerrechte nichts mehr galten, standen Wenzel Jaksch und seine Mitkämpfer von vornherein auf verlorenem Posten.
Für die drei Großmächte bestand das Hauptziel in der Schwächung Deutschlands, in Strafe und Rache, auch wenn es hier nur die ostdeutsche beziehungsweise sudetendeutsche Bevölkerung traf. Dubiose strategische Gründe wurden ebenfalls genannt, im Falle Polens wollte man Stalins Annexionen ausgleichen und durch die Vertreibung der Deutschen den Anschein eines Ausgleichs erwecken. Bei der Tschechoslowakei war nichts zu kompensieren, da konstruierte man Schuldvorwürfe gegen die „Minderheit“, die man vorher erst zur Minderheit gemacht hatte. Menschlichkeit, Recht und Vernunft blieben bei dieser Politik auf der Strecke. Das ist ein Fazit, wobei der Verfasser diese Bewertung nicht vornimmt und hier - auch in seiner Zusammenfassung - eine seltsam anmutende Zurückhaltung zeigt. Als die Westmächte in Potsdam das angerichtete und mitverschuldete Desaster in seinem ganzen Ausmaß, zugleich die Doppelbödigkeit der sowjetischen Politik zu ahnen und zu spüren begannen, war es zu spät zur Umkehr. Wenzel Jaksch ist zweifellos recht zu geben, der 1944 die geplante Vertreibung „das größte Verbrechen in der Geschichte des deutsch-tschechischen Zusammenlebens“ genannt hat.
Dieses Buch erhellt weitere Kapitel zum Thema Vertreibung. Es hinterläßt beim Leser, der sich durch die 428 Seiten hindurchgekämpft hat, neben der Erkenntnis des Bösen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts auch tiefe Niedergeschlagenheit über die Möglichkeit solcher Verbrechen, die von sogenannten „demokratischen“ Politikern nicht nur nicht verhindert, sondern befördert und begangen wurden. Rüdiger Goldmann
Detlef Brandes: Der Weg zur Vertreibung 1938-1945, Oldenbourg, München 2001, 428 Seiten, Preis: 34,80 Euro
Josef Stalin, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill: Aus vielen zitierten Quellen wird deutlich, daß Winston Churchill eine treibende Kraft bei diesen unmenschlichen Vertreibungsplänen war. |
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