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Geschichtsbetrachtung und Geschichtsbewußtsein der Deutschen stehen noch immer unter dem Eindruck der tiefgreifenden Kontinuitätsbrüche und Verirrungen ihrer jüngsten Entwicklung. Die Deutschen sind ja nicht nur an sich selbst, an ihrer politischen Aufgabe und an der Zielrichtung ihres staatlichen Lebens irre geworden, sondern auch an ihrer Geschichte.
Die Infragestellung aller gewachsenen Wertvorstellungen, der weitgehende Verlust der geistigen Basis und die Verwirrung in den Fragen der Lebensnotwendigkeiten der Zukunft haben nach 1945 historisch-wissenschaftliche Strömung en entstehen lassen, die von Martin Luther über Friedrich den Großen zu Bismarck und Hitler eine mehr oder weniger gerade Linie sich steigernder Autoritätssucht und Menschenfeindlichkeit bis hin zur Unmenschlichkeit sehen. Und da blinde Kritik seit jeher in ihrer Gefährlichkeit blinder Zustimmung gleichkommt, verbauten diese Strömungen manche Chancen, die katastrophale Niederlage des Jahres 1945 aus den Grundsätzen eigener Erfahrungen zu überwinden.
Es spricht nicht für eine langsame geistige Selbstfindung der Deutschen, daß in den letzten Jahren in der Beurteilung der eigenen Geschichte sich der Selbsthaß gesteigert hat und in vielen Büchern und Artikeln ein angeblicher langer Fehlweg beschworen wird, der nur dadurch gebremst werden könne, daß wir die eigene Geschichte als Volk und Staat freiwillig beenden. In bezug auf Bismarck lese man nur das Buch "Bismarck – Dämon der Deutschen" von Johannes Willms, um diese stärker werdende Tendenz zur maßlosen Selbstverleugnung am Beispiel nachzuvollziehen.
Was war Bismarck wirklich? Was bedeutet er uns noch heute?
"Es ist soviel ,Müssen’ in meinem Leben, daß ich selten zum Wollen komme", schrieb Bismarck einmal an seine Schwester. In der Tat ist Bismarcks Lebensweg der Weg eines Mannes, der zum Schaffen und Kämpfen bestimmt war, nicht zum Feiern und zum idyllischen Lebenswandel.
Otto von Bismarck wurde am 1. April 1815 in Schönhausen geboren und wuchs auf in der politischen Atmosphäre eines Hauses, das in seinen Anschauungen von Friedrich dem Großen und den Befreiungskriegen geprägt war.
Politisch trat er zum ersten Male auf dem Vereinigten Landtag von 1847 als Mitglied der Zweiten Kammer hervor. In den Jahren 1851 bis 1859 suchte Otto von Bismarck als preußischer Bundestagsgesandter in Frankfurt vergeblich, Preußens Gleichstellung mit Österreich zur Anerkennung zu bringen und wurde aus einem Freund zum entschiedenen Gegner österreichischer Politik und Anhänger der kleindeutschen Einheitsidee. Nachdem er seit 1. April 1859 preußischer Gesandter in Petersburg und seit Frühjahr 1862 Botschafter in Paris gewesen war, trat er am 24. September 1862 als Minister des Auswärtigen an die Spitze des preußischen Ministeriums. Während seines Aufenthaltes im Ausland hatte er die Entwicklung in Preußen und Deutschland scharf im Auge behalten und 1861 bereits dem König eine Denkschrift über die Verfassungsfrage überreicht. Im Vollzug seiner Aufgabe, die Heeresorganisation gegenüber dem auf sein Budgetrecht pochenden Landtag zu sichern, führte er den Verfassungskonflikt herbei – das Endziel, die politische Neugestaltung Deutschlands bereits klar im Auge.
Nachdem er sich Rußland durch seine Haltung während des polnischen Aufstandes verpflichtet hatte, vereitelte er den Versuch Österreichs, die deutsche Frage auf dem Frankfurter Fürstentag im August 1863 in seinem Sinne zu lösen. Ohne für seine Politik in der schleswig-holsteinischen Frage, die Preußen 1864 zu dem Erwerb der Elbherzogtümer verhalf, Verständnis im Volke zu finden, führte er im Jahre 1866 den durch den Gasteiner Vertrag nur vertagten Entscheidungskampf mit Österreich herbei. Bismarck schonte im Prager Frieden die süddeutschen Staaten und rundete das preußische Gebiet durch die Einverleibung Hannovers, Kurhessens, Nassaus und der freien Stadt Frankfurt in Preußen ab.
In der Gründung des Norddeutschen Bundes gelang es ihm, eine erste Stufe auf dem Wege zur Reichseinheit zu erklimmen. Vorsichtig führte er die mißtrauischen Süddeutschen an den Einheitsgedanken heran – immer im Auge behaltend, daß die bayerische Selbständigkeit durch engere Verbindung zu Preußen nicht "gekränkt" werden dürfe. 1870 nutzte Bismarck den lang heranreifenden Konflikt mit Frankreich, den er durch eine kluge Außenpolitik – und das Glück des Tüchtigen – zu isolieren vermochte, um am 18. Januar 1871 in Versailles, nach erfolgreichem Feldzug unter dem genialen Moltke, das Deutsche Reich neu zu begründen.
Rund 18 Jahre blieben ihm nunmehr als Reichskanzler, um im ständigen Ringen mit dem Reichstag und in fruchtbarer Zusammenarbeit mit Kaiser Wilhelm I. das Reich nach außen und innen fortzuentwickeln und zu festigen.
Natürlich ist Bismarcks Einigungswerk nur aus seiner Zeit heraus zu verstehen und zu deuten. Und doch, je mehr sich der Interessierte in das Werk Bismarcks vertieft, um so besser wird er erkennen, wie aus und neben dem Zeitgebundenen sich eine Fülle zeitloser politischer Erkenntnisse hervorkehrt. Eine Beurteilung Golo Manns erweiternd, müssen u. a. genannt werden: Der Staatsmann hat seinem Land nach Umständen zu dienen und nicht nach Meinungen, die oft Vorurteile sind; Deutschland ist nach Geschichte, Kultur und geographischer Lage ein Land der Mitte und nicht des Ostens oder Westens; in der Außenpolitik müssen Realitäten und Lebensvorstellungen anderer Länder akzeptiert werden; übersteigertes politisches und militärisches Prestigebedürfnis kann dem eigenen Staat großen Schaden zufügen; es sind nur Dinge in der Politik wirklich erstrebenswert und rechtfertigen Opfer, die bleibend richtig und notwendig sind; ein Staatsmann, der sich seiner Verantwortung bewußt ist, muß vorsichtig und ehrlich sein im Gebrauch der Macht, um das Errungene nicht zu gefährden; die Politik ist die "Kunst des Möglichen", im richtigen Augenblick das Richtige zu tun; Politik, die den Völkern wirklich dienen soll, muß die Menschen nehmen wie sie sind, und nicht, wie sie sein sollten.
Die historische Tat Bismarcks, die Einigung Deutschlands, ist aus dieser ebenso realistischen wie verantwortlichen Anschauung der Dinge erwachsen. Bismarck sah die Zukunft Deutschlands nicht in Dualismus und Kleinstaaterei. Er sah sie im modernen, auf dem Nationalitätenprinzip beruhenden Bundesstaat unter preußischer Führung. Preußen war die richtige Basis für ein solches Ziel, wie Hans Haller in seinem Buch "Epochen der deutschen Geschichte" so treffend schrieb: "Straff zusammengefaßt, auf allen Gebieten vorwärtsstrebend, in seiner Bevölkerung deutsch, an seinen Grenzen mit den eigenen Interessen zugleich die deutschen vertretend, am Niederrhein gegen Frankreich, im Osten gegen Polen und Rußland". Österreich dagegen war ein Vielvölkerstaat. Seinem "kosmopolitischen" Großmachtstreben fehlte seit langem die Kraft zur Erhaltung der eigenen Substanz. Es konnte in seiner damaligen Form nicht Basis eines neuen Bundesstaates sein. Mit der ganzen Kraft seiner Persönlichkeit wandte er sich nach dem Krieg von 1866 gegen Annexionen, die eine dauernde Vergiftung des deutsch-österreichischen Verhältnisses mit sich gebracht hätten.
Als das Reich schließlich errichtet war, betrachtete er es als seine höchste Aufgabe, den Bestand zu wahren. Selbst ein Bismarck gegenüber so kritischer Historiker wie Golo Mann resümiert: "Es war seit 1871 eine Außenpolitik strengsten Maßhaltens, die friedlichste, die vorsichtigste, die je von einer starken Militärmacht geführt wurde... Kolonien in Übersee interessierten ihn nicht und konnten ihn als Preußen nicht interessieren. Es war eine aus dem Grunde konservative Politik, die den Krieg, den europäischen Weltkrieg nun über alles fürchtete." Das Vertrauen, das auch die anderen Mächte in seine Friedenspolitik setzten, überdauerte seine Amts- und seine Lebenszeit und war Grundstock für eine lange Spanne des Friedens in Europa. Sein Reich war ein wesentliches, ein starkes, aber keineswegs ein vorherrschendes Land unter den Staaten des Kontinents.
Doch er ahnte auch die Gefahren, die dem Reich nach seinem Abgang drohten. "Bulgarien, dieses kleine Ländchen zwischen Donau und Balkan", so sagte er 1888 im Reichstag, "ist überhaupt kein Gegenstand von genügender Größe, um daran die Konsequenz zu knüpfen, Europa von Moskau bis zu den Pyrenäen und von der Nordsee bis Palermo in einen Krieg zu stürzen, dessen Ausgang kein Mensch voraussagen kann; man würde am Ende eines solchen Krieges gar nicht wissen, warum man sich geschlagen hat." Ist es von Belang, daß es im Sommer 1914 um Serbien ging und nicht um Bulgarien? Und aus dem Jahre 1898 sind seine Worte überliefert: "Zwanzig Jahre nach dem Tode Friedrichs des Großen kam Jena, und zwanzig Jahre nach meinem Ableben wird Deutschland zusammenbrechen, wenn es so weiter regiert wird."
1918 brach in der Tat das Deutsche Reich militärisch zusammen, es brachen seine drei großen Stützen, die Dynastien, das Heer und die obrigkeitliche Staatsmacht. Was aber standhielt, war der staatliche Zusammenschluß, das Bewußtsein nationaler Zusammengehörigkeit trotz Niederlage, Revolution, Gebietsabtretung, Seuchen, Besetzung, Hunger und Not. Erst eine noch einschneidendere Abkehr von den Grundsätzen Bismarckscher Politik brachte uns 1945 aus dem Willen der Sieger die Aufteilung des Reiches, die Auflösung Preußens und die Integration der Restteile in rivalisierende Militärbündnisse. Wie sagte doch Bismarck vor seinem Tode: "Ich träume weiter was ich wachend denke, wenn ich überhaupt einschlafe. Neulich sah ich die Karte Deutschlands vor mir, darin tauchte ein fauler Fleck nach dem anderen auf und blätterte sich ab." Hat er in seiner Amtszeit als Reichskanzler für Parteien, Parlament und Presse nur wenig gute Worte gefunden, so zeugte eine Bemerkung doch vom Verständnis Bismarcks: "Für die Zukunft haben wir für eine Kräftigung der politischen Überzeugung in der öffentlichen Meinung, in der Presse und im Parlament zu wirken. Dazu aber ist es notwendig, daß namentlich im Parlament die Meinung des Volkes einheitlicher zum Ausdruck kommt, als sie bisher sich darstellt ..." Bismarcks Worte könnten auch als Mahnung für Kanzler Kohl ausgesprochen worden sein. Wenn der studierte Historiker Kohl sich öfter mit dem Reichseiniger beschäftigt hätte, stünde er heute nicht vor seinem Scheitern.
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