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Zurück zur Nation?

 
     
 
Während man in Deutschland darüber diskutiert, welche Wirtschaftsreformen richtig sind, damit der "Standort D" auch in Zeiten der Globalisierung attraktiv bleibt, beschreitet nach Olaf Henkel auch Henrik Müller andere Wege. Der Geschäftsführende Redakteur des "Manager Magazins
" behauptet, daß in diesen Zeiten nur jener Standort bestehen kann, in dem auch ein kollektives Gemeinschaftsgefühl bestände. "Zurück zur Nation" lautet seine These. Zurück zur Nation? Dies klingt sehr paradox. In Zeiten der Globalisierung, wo Grenzen sich auflösen, Länder der ganzen Welt im internationalen Wettbewerb zueinander stehen, soll Patriotismus ein wichtiger Standortvorteil sein?

 Eine Gesellschaft, die keine gemeinsamen Ziele hat, kann auch nirgendwo ankommen, lautet die einfache Erklärung des Wirtschaftsjournalisten. Alles andere an seinen Ausführungen ("Wirtschaftsfaktor Patriotismus - Vaterlandsliebe in Zeiten der Globalisierung", erschienen im Eichborn Verlag) ist keineswegs so einfach, denn wie sonst läßt sich erklären, daß bisher alle deutschen Staaten der fernen und nahen Vergangenheit und der Gegenwart, sich so schwer taten und tun mit einem gemeinsamen Ziel? Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Patriotismus und Vaterlandsliebe sogar verpönt. "Seit ihrer Gründung hat sich die Bundesrepublik als postnationale Gesellschaft verstanden. Jahrzehntelang hofften die Deutschen, in den Vereinigten Staaten von Europa aufzugehen. Sie sahen es als ihre Mission an, die Epoche der Nationalstaaten und die Konflikte unter ihnen überwinden zu helfen." Doch nun zeige sich, daß gerade Nationen die entscheidenden Spieler in der Welt seien.

Warum? Für Deutsche ist dieses Phänomen kaum verständlich, blickt man allerdings auf die Gewinner der Globalisierung, so sind es Staaten wie die USA, Großbritannien, die skandinavischen Länder und China. Alle diese Staaten verfügen über ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein, und deren Bewohner fühlen sich auch ihrem Land, ihrem Vaterland verpflichtet. Patriotismus ist für sie eine Selbstverständlichkeit. Dies kann nun in öffentlichkeitswirksamen Aufmärschen, Nationalfeiertagen oder gemeinsamem Gesang der eigenen Hymne geschehen, aber auch im kleinen, privaten Umfeld, unauffällig wie in den skandinavischen Ländern, aber eben von Herzen.

Ein übergreifendes Gemeinschaftsgefühl ist in unsicherer Zeit, die ja nun die Globalisierung darstellt, unabdingbar. Nur wer das Gefühl hat, einem Kollektiv anzugehören, so Müller, sei bereit, für dieses Opfer zu bringen. Zwar mag der Einzelne das Gefühl haben, seines Glückes Schmied zu sein, tatsächlich fuße aber sein Erfolg und sein Wohlstand zum beträchtlichen Teil auf dem Erfolg und dem Wohlstand der Gesellschaft, in der er lebe. Diese Gesellschaft sei zudem nicht nur eine gegenwärtige, sondern sie sei tief verwurzelt in den Zeitläufen und Generationen. Die Heutigen müssen bereit sein, Opfer für die Zukünftigen aufzubringen. Für jene, die sich als Teil einer "ewigen" Nation empfinden, sei dies eine Selbstverständlichkeit. Ob nun Unternehmen Langzeitinvestitionen tätigen, der Staat in Bildung und Forschung investiert oder Eltern Kinder aufziehen, alles bedeutet für die Gegenwart Zurückhaltung, denn der "Gewinn" dieser Investition wird erst in Jahren oder Jahrzehnten offenbar.

Staaten, in denen der Einzelne sich als Teil jener typischerweise bis in mythische Vorzeiten zurückreichenden Nation empfindet, wären für die Zukunft besser gerüstet, da eben jener Einzelne eher bereit sei, sich an der Finanzierung der Zukunft dieser "ewigen" Nation zu beteiligen. Doch dieses zusammenschweißende Band sei in Deutschland nicht vorhanden.

Eindrucksvoll schildert Henrik Müller, wie es möglich war, daß gerade Deutschland weitgehend eine leere Hülle blieb, die eine Identifikation und ein Zusammengehörigkeitsgefühl gar nicht erst anbietet.

Deutschland eine leere Hülle? Für die Gegenwart mag das ja angehen, aber die Vergangenheit war doch gerade so sehr von Patriotismus geprägt, daß die Nachkriegsdeutschen angeekelt den entgegengesetzten Weg einschlugen, so die landläufige Meinung. Für Henrik Müller ist dies jedoch nur die Oberfläche, hinter der sich letztendlich eine Anhäufung von regionalen und überregionalen Interessengruppen verstecke, die schon immer nur über das Ökonomische zusammengehalten worden sei. "Deutschland, eine Wirtschaftsnation", meint der Redakteur. "Seit dem 19. Jahrhundert verstehen sich die Deutschen als Erwerbs- und Verteilungsgemeinschaft." Letztendlich hätten sich die 314 Territorien und Städte sowie 1475 freien Rittertümer des späten 18. Jahrhunderts im "Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation" erstmals wirklich aufeinander zu bewegt, als 1834 eine große Zahl dieser Gebiete sich zum Deutschen Zollverein zusammenschlossen. Erst sei die Wirtschaft gekommen, dann die Politik, so Müller, der das Entstehen des Patriotismus auf bürgerlich intellektueller Ebene zwar nicht unberücksichtigt läßt, ihn aber keineswegs hoch bewertet.

In Zeiten, in denen der in der Bundesrepublik Deutschland einst tonangebende Dreiklang aus Wohlstand, Sozialstaat und europäischer Einigung Stück für Stück in sich zusammenfällt, bedarf es eines neuen Haltes für die Menschen, doch offenbar hält auch hier die deutsche Geschichte in ihrem Kern nicht viel Reaktivierbares bereit.

Henrik Müllers Geschichtsbild desillusioniert zusätzlich zu jenem, was die Gegenwart und Zukunft bereithalten, doch auch wenn man seinen Ausführungen nicht vollständig zustimmen mag, so hat sein ökonomisch geprägter Blickwinkel auf die deutsche Vergangenheit doch etwas Entlarvendes. Denn es war ja nicht nur im 19. Jahrhundert so, daß wirtschaftliche Gründe den Ausschlag gaben, dafür daß sich die Deutschen als Gemeinschaft fühlten. Letztendlich war es auch 1933 der Grund, warum Hitler an die Macht kam. Müller betont, daß die Mehrheit Hitlers politische Richtung keineswegs teilte, doch die Tatsache, daß er den Menschen wieder Arbeit beschaffte, er ihren Wohlstand mehrte und ihren Lebensstandard erhöhte, brachte die Deutschen dazu, ihn gewähren zu lassen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg sei es nicht anders gewesen. In Westdeutschland war Vaterlandsliebe verschmäht, nationale Symbole wie Flagge, Hymne und Zapfenstreich waren nur in besonderen Ausnahmefällen wie großen Sportereignissen wahrzunehmen, allein aus dem erfolgreichen Wiederaufbau zogen die Bewohner der Bundesrepublik Deutschland ihren Stolz. "Die D-Mark wurde identitätsstiftendes Merkmal der Westdeutschen." Doch als das Wirtschaftswunder lahmte, die Folgen der "sozialen Gerechtigkeit" den Menschen ihre Motivation nahm, sich für die Gemeinschaft stark zu machen, sie statt dessen sich immer mehr auf die Gesellschaft verließen, begann das große Klagen. "Derart von Selbstzweifeln geplagt, wird Westdeutschland mit der DDR vereint - dem anderen deutschen Staat, der in einer totalen Identitätskrise steckt."

Obwohl die Mitteldeutschen für Freiheit und Einheit demonstriert hatten, wären sie vor allem vom materiellen Wohlstand der Westdeutschen angezogen worden. Doch dieser bröckelte und das einst vertraute Sicherheitsgefühl aus DDR-Zeiten - schließlich hatte jeder Arbeit und Wohnung - fehlte vielen. Die Mitteldeutschen, die sich durchaus einst als Kollektiv gefühlt hatten, denn schließlich waren sie alle einem System ausgeliefert gewesen, das ihnen Reise- und Redefreiheit verwehrte, wurden nun zu Konkurrenten auf dem engen Arbeitsmarkt. Jeder war sich plötzlich der nächste - womit sie sich mentalitätsmäßig dem Westen anschlossen.

Und Deutschlands Eliten? Die waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt als das für sie eh nicht existente große Ganze im Auge zu haben. "Den deutschen Funktionseliten fehlt ein patriotischer Comment. Es fehlt ihnen ein übergeordnetes, der Gesellschaft verpflichtetes Wir-Gefühl, das sie befähigt zu kooperieren und gemeinsam jene Führungsrolle zu übernehmen." Henrik Müllers Urteil über die deutsche Elite, ob nun politischer, intellektueller oder wirtschaftlicher Ausrichtung, ist hart, aber entspricht der Realität. Detailliert geht er darauf ein, wie alle in kleinen Grabenkämpfen gegeneinander gebunden sind. Statt an einem Strang zu ziehen, würden sich die führenden Topleute in Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften zudem immer weiter voneinander entfernen und somit ein kollektiver Kraftakt sogar noch unwahrscheinlicher werden. Die vom SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering angeführte "Heuschrecken"-Debatte 2005 sei nur ein Anzeichen hierfür.

Und Deutschlands wirtschaftliche Eliten? Sie ziehen sich zurück. In Zeiten der Globalisierung haben sie sowieso unendliche Möglichkeiten, und ein stagnierender Markt ist für sie uninteressant. Mit resigniertem Gleichmut würden sie die endlosen, unergiebigen Debatten allenfalls nur noch aus dem Augenwinkel heraus verfolgen, denn sie sind ja mobil.

In Zeiten der Globalisierung sei es besonders wichtig, "daß die Mehrheit der Seßhaften und die Minderheit der Mobilen sich einander verbunden fühlen - daß beide Gruppen einen gemeinsamen positiven Zukunftsentwurf der Gesellschaft teilen". Die heutigen Wirtschaftsbosse sind aber entweder selbst 68er oder von 68ern geprägt worden. Patriotismus oder wenigstens ein Verbundenheitsgefühl mit den Menschen in diesem Land sei ihnen fremd. Dabei seien sie teilweise auch selber daran schuld, daß der "Standort D" immer uninteressanter würde. "Jede Generation schuldet es ihrem Land, die Freiheit der Gesellschaft und die Dynamik der Wirtschaft zu erhalten." Dies hätten die Wirtschaftseliten jedoch nicht getan. Sie haben keine nationalen Ziele für die Zukunft mitformuliert oder gar als Vorreiter propagiert, da sie sich schon lange von hier verabschiedet hatten. Deutschland ist es nicht gelungen, seine mobilen Kräfte zu binden.

Wieso empfinden sich die Österreicher im Vergleich zu ihren Nachbarn als Nation im Aufbruch, während die Deutschen nur Finsternis um sich herum zu erblicken vermeinen? Deutschland müsse wieder höheres Sozialkapital schaffen. Das heißt, die Menschen müssen einander vertrauen, anpacken und mit einem soliden Selbstbewußtsein sich offen und opferbereit der unausweichlichen Veränderung stellen.

"Mehr Patriotismus wagen?" fragt Henrik Müller, und es ist bewußt als Frage formuliert. Wie soll man von Null auf Hundert kommen? Selbstbewußtsein muß über lange Zeit wachsen, man kann es nicht von heute auf morgen einfordern, wie der Wirtschaftsjournalist feststellt. Zumal er belegt, daß selbst konservative Politiker, die zwar in letzter Zeit vermehrt patriotische Töne anschlagen, selbst nicht sagen können und wollen, was die Deutsche Nation ausmacht. Der Begriff ist zu diffus für die Deutschen, wurden ihnen doch nun schon über Generationen auch die letzten Reste von Patriotismus ausgetrieben. Die 68er, in diesem Bereich genauso unbarmherzig wie die Inquisition, haben selbst in konservativen Kreisen die Angst vor dem offenen Bekunden echter Vaterlandsliebe tief verwurzelt. Daß das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Nation auch ein produktives Sich-Aufgehoben-Fühlen für schlechte Zeiten darstellt, daran hat keiner gedacht, als die Ersatzidentitäten aus Wohlstand, Sozialstaat und europäischer Einigung noch intakt waren. Henrik Müller unkt sogar, daß das Austreiben eines Zusammengehörigkeitsgefühls sogar die stets hochgehaltene Demokratie gefährde, doch ein "Zurück in die Vergangenheit", wo der konservative Dreiklang aus Familie, Glaubensgemeinschaft und Nation wenigstens bedingt galt, ist für Henrik Müller unrealistisch.

Zurückhaltend weist er darauf hin, daß vielleicht ein nationaler Mythos, also der 9. November als "Fixpunkt der nationalen Besinnung" schon mal ein Anfang wäre.
 
     
     
 
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