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Eigentlich werden die deutschen Zeitgenossen bei jedem Gedenktag ermahnt, die "deutsche Vergangenheit nicht zu verdrängen" un sich "der Geschichte zu stellen". Noch mehr finden sie sich gewarnt, eine "Schlußstrich zu ziehen". Entsprechend haben sie ein halbes Jahrhundert alt Geldforderungen zu begleichen und längst abgegoltene Rechnungen zu bezahlen.
Um so überraschender war es, dieser Tage aus dem Munde des Bundeskanzlers zu hören daß ein "Schlußstrich" unter die Vergangenheit der deutsch-tschechisch e Beziehungen "nach dem Zweiten Weltkrieg" gezogen werden solle, weil da beiderseitige Verhältnis "nicht durch die Vergangenheit belastet werden" dürfe. Eine "Befreiung" von der "Last der Geschichte", wie sie bishe hierzulande kaum denkbar, geschweige öffentlich aussprechbar gewesen wäre. Aber stat allgemeinem Entsetzen über eine derartige "Flucht aus der geschichtliche Verantwortung" schlug dem hochmögenden "Befreier" aus den "Fessel der Vergangenheit" volkspädagogisches Lob für seine "zukunftsorientiert Politik" entgegen.
Daß mit diesem "kanzlerhaften Befreiungsschlag" aber über drei Millione deutsche Landsleute um ihre Grund- und Menschenrechte gebracht und ihre Vertreibungstote in die Abstellkammer der Geschichte gestoßen wurden, scheint dabei völlig vergessen zu sein.
Eine Gedankenlosigkeit, die nicht nur das Gerechtigkeitsgefühl der Betroffene verletzen muß und nach der staatlichen Obhutspflicht der Regierung fragen läßt, sonder auch die Glaubwürdigkeit der Menschenrechtspolitik Deutschlands ernsthaft erschüttert Es erscheint der betroffenen wie der künftigen Generation schwer vermittelbar, daß ma Geschichte willkürlich in "abgeschlossene Vergangenheit" einerseits und stet verpflichtendes Gedenken andererseits aufteilt; vielmehr gebietet es die Menschenwürde jedem zugefügten Leid Mitgefühl zu bekunden und nicht zwischen erinnerungswerten un gedenkunwürdigen Opfern zu unterscheiden. Als wirksamster Schutz vor solcher inhumane Selektion über die Gräber hinaus empfiehlt sich die Würdigung der vollständige Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen, die in ihrer folgenschweren Tragi bereits mit dem Jahr 1918/19 einsetzte, als man den Sudetendeutschen das ihne versprochene Selbstbestimmungsrecht gewaltsam vorenthielt.
Statt sich Deutsch-Österreich anschließen zu dürfen, wie sie es einmütig in November 1918 verlangten, wurden die Deutschböhmen durch die Besetzung ihre Siedlungsgebiete im Dezember 1918 gegen ihren Willen zu "tschecho-slowakischen" Staatsbürgern gemacht und der Prager Fremdherrschaft unterstellt. Die Siegermächte de Ersten Weltkriegs England, Frankreich und Italien ließen diese gewaltsam Einverleibung des Sudetengebietes in die "Tschecho-Slowakei" gegen die Bedenke der Vereinigten Staaten von Amerika zu und sanktionierten sie schließlich in den Parise Friedensdiktaten von 1919.
Die solchermaßen um das verheißene Selbstbestimmungsrecht gebrachten Sudetendeutsche appellierten am 4. März 1919 in gewaltigen, aber gewaltlosen Umzügen an das Gewissen de demokratischen Staatsführer und Friedensmacher von Versailles und erinnerten an de Grundsatz, "daß die Demokratie als Herrschaft des Volkes das Ergebnis und Vorbil aller Selbstbestimmung ist".
Machtpolitik und nationalistische Engstirnigkeit ignorierten jedoch diesen Anruf un gaben das Feuer frei auf die friedlichen Demonstranten zwischen Eger und de Sudetengebirge. 54 Tote und über 100 Verletzte waren das Ergebnis der blutige Niederschlagung dieser friedlichen Einforderung des Selbstbestimmungsrechtes. Prof. Dr Archibald Coolidge, ein Mitarbeiter des US-amerikanischen Präsidenten Wilson, wa Augenzeuge dieses Massakers der Tschechen an den Deutschen und schrieb am 10. März 191 an seinen Dienstherrn: "Das Blut, das am 4. März geflossen ist, als tschechisch Soldaten auf die deutsche Menge feuerten, ist auf eine Art und Weise vergossen worden, die nur schwer verziehen werden kann. Die Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen sind in den letzten drei Monaten immer schlechter geworden, und es ist kein Grun für die Erwartung vorhanden, daß diese Feindschaft in naher Zukunft überwunden werde wird."
Beklemmende Worte, die sich in ihrer düsteren Ahnung wiederfanden im geistliche Nachruf auf die Toten des 4. März, den der Zelebrant des Requiems in der Stadtkirche zu Kaaden mit den Worten schloß: "Wehe denen, die sich vor Gräbern fürchte müssen!"
Knapp 20 Jahre später traf dieses "Wehe" jene, die in der Zwischenzeit vo Selbstbestimmungsrecht der Sudetendeutschen nichts wissen mochten; die sich trot bewiesenen guten Willens der Sudetendeutschen Politiker zur Zusammenarbeit, nicht zu Errichtung einer "zweiten Schweiz in Mitteleuropa", wie es ihre Spreche zunächst angekündigt hatten, entschließen konnten; deren Politik immer wieder die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechtes spüren ließ und sich auch nicht von Mahnunge der westlichen Schutzmächte beeindruckt zeigte; über deren Herrschaft und intolerante Verhalten gegenüber den Sudetendeutschen der britische Sonderbotschafter Lord Runciman a 14. September 1938 seinem Premierminister Neville Chamberlain wörtlich schrieb:
"Mein Gesamteindruck geht dahin, daß die tschechoslowakische Herrschaft in de sudetendeutschen Gebieten während der letzten 20 Jahre als taktlos, verständnislos un kleinlich bezeichnet werden muß und dies in einem Ausmaß, welches die allgemein Meinung der deutschen Bevölkerung unweigerlich in die Richtung offenen Widerstande treiben mußte. Den Sudetendeutschen war auch klar, daß ihnen seitens de tschechoslowakischen Regierung in der Vergangenheit zwar eine Menge versprochen worde war, daß aber nichts oder nur sehr wenig hiervon in Erfüllung gegangen ist."
Und über die Berechtigung der sudetendeutschen Klagen und Beschwerden über die erfahrenen vielfältigen Benachteiligungen stellte der britische Sonderbotschafter in seinem Schreiben an den Premierminister fest: "Ich halte diese Klagen im wesentliche für gerechtfertigt. Selbst in dem sehr späten Zeitpunkt Mission (Juli/August 1938) hab ich auf Seiten der tschechoslowakischen Regierung keinerlei Bereitwilligkeit gefunden, de Beschwerden in auch nur einigermaßen angemessenem Ausmaß abzuhelfen", u abschließend zu erklären: "Für mich ist selbstverständlich, daß die zwische Deutschland und der Tschechoslowakei liegenden Grenzgebiete, in denen die Sudetendeutsche eine klare Mehrheit besitzen, sofort das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht erhalte sollten. Die große Mehrheit der Einwohner wünscht die Vereinigung mit Deutschland. Ic bin daher der Ansicht, daß diese Grenzbezirke von der Tschechoslowakei unverzüglich a Deutschland übertragen werden sollten."
Vier Tage nach Erhalt dieser Empfehlung seines Sonderbotschafters kam Chamberlain mi seinem französischen Kollegen Daladier überein, der Prager Regierung förmlich die Abtretung der sudetendeutschen Siedlungsgebiete dringend nahezulegen. Die insgeheim Einverständniserklärung des CSR-Präsidenten Benesch ließ die offizielle Annahme de Abtretungsvorschlages als sicher voraussetzen, so daß nur noch Zeitpunkt und Modalitäte der Gebietsübertragung offen waren. Deren Regelung war schließlich Aufgabe de Viererkonferenz von München, an der neben den beiden Westmächten und Deutschland auc Italien beteiligt wurde; nicht nur, weil es als "Achsenpartner" mit Deutschlan verbündet war, sondern auch als Signatarstaat der Friedensverträge von Versailles (mi Deutschland) und St. Germain (mit Österreich), der den Tschechen 1918 die Besetzung de sudetendeutschen Siedlungsgebiete gestattet hatte und damit für die Verweigerung de Selbstbestimmungsrechtes der Sudetendeutschen mitverantwortlich war. Mit 20jährige Verspätung gewährte es zusammen mit England und Frankreich schließlich in München de bis dahin fremdbeherrschten Deutschböhmen das bereits 1918 versprochen Selbstbestimmungsrecht. Folgerichtig hieß es im "Punkt 2" des Münchne Abkommens vom 29. September 1938: "Das Vereinigte Königreich, Frankreich und Italie vereinbaren, daß die Räumung des Gebietes bis zum 10. Oktober vollzogen wird."
Das den Sudetendeutschen 1918/19 angetane Unrecht schien damit wiedergutgemacht und das Opfer der Gefallenen vom 4. März 1919 nicht vergebens. Ei "Schlußstrich" sollte es nicht aus der Geschichte streichen.
Die vor 50 Jahren gegründete Freundeskreis der Sudetendeutschen und der andere deutschen Vertriebenen verstand sich von Anfang an nicht nur als Inte-ressenverband eine Volksgruppe, sondern als Vertreterin einer hochpolitischen Idee: de Selbstbestimmungsrechtes der Völker. Angesichts des Zusammenbruchs mächtige Vielvölkerstaaten wie des Russischen Reiches und der Donau-Monarchie am Ende des Erste Weltkrieges verkündet, sollte es den neuen Staaten Ost- und Mitteleuropas Wegweisung in ihre politische Zukunft sein. Entsprechend entwarfen die sozialistischen Parteien Europa auf ihrer Berner Konferenz im Februar 1919 eine neue Nachkriegsordnung und riefen die nationalistischen Kräfte in den Siegerstaaten zu Vernunft und Augenmaß auf. Si ermahnten die Tschechen und Polen, das Selbstbestimmungsrecht der deutschen Minderheite zu respektieren und ihnen den Anschluß an die "Mutternation" zu gestatten. Die Sudetendeutschen forderten in diesem Sinne die Freiheit ein, sich Deutsch-Österreich un mit diesem dem Deutschen Reich anschließen zu dürfen. Am 4. März 1919 gingen sie dafü auf die Straße und demonstrierten in friedlichen Umzügen für ih Selbstbestimmungsrecht. Militärgewalt setzte dieser Freiheitsbewegung jedoch ein jähe Ende und der Siegerspruch von Versailles und St. Germain den Willen der Nationaliste durch.
1945 wurden die Deutschen jenseits von Böhmerwald und Oder/Neiße ein zweites Ma Opfer von einseitigen Machtansprüchen und erfuhren erneut eine Mißachtung ihre Selbstbestimmungsrechtes; diesmal noch heimgesucht vom Verlust ihrer angestammten Heima und einer fehlenden Solidarität seitens der deutschen politischen Führungskräfte.
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