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Sechs Jahrzehnte nach dem Erscheinen von Ernst Wiecherts Bericht "Der Totenwald" war die Vorsitzende der "Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft" (IEWG), Dr. P. Lautner, zu Gast bei der Vorsitzenden der russischen Sektion, Lidia Natjagan. Man saß in der gemütlichen Wohnung am Schloßteich. Auf dem Tisch lag ein russisches Skriptum, ein Computer-Ausdruck von 325 Seiten, Lidia Natjagans neues Übersetzungswerk von "Jahre und Zeiten" von Ernst Wiechert. Ein schon bekanntes Procedere sollte nun einsetzen: Das Skriptum sollte die Reise nach Westdeutschland antreten, dort der IEWG vorgel egt werden, um dann in Königsberg gedruckt zu werden. So war man bereits bei der Übersetzung von "Wälder und Menschen" von Lidia Natjagan verfahren, die im Mai 2005 im Druck erschienen war und russischen Schülern und Studenten an die Hand gegeben werden konnte.
Das Projekt "Jahre und Zeiten" verlangte aber aufwendigere Besprechungen, denn beide Seiten, die deutsche und die russische, liebäugelten mit einer zweisprachigen Ausgabe. Und dann legte Lidia Natjagan schon ihre weiteren Pläne vor: ein Buch mit Wiechert-Texten über Ostdeutschland. Das wäre ein echtes Geschenk für die russischen Leser.
Die Übersetzungen ins Russische sind Meilensteine der Aktivitäten der russischen Wiechert-Freunde, nachdem Übersetzungen ins Polnische schon lange vorliegen, und zwar fast des ganzen Wiechertschen Werkes. Das große Ansehen, das Wiechert bei den Polen stets genoß, liegt nicht zuletzt an seinem Bericht "Der Totenwald", der ihn als "Antifaschisten" auswies.
Vor dieser jüngsten Reise der IEWG-Vorsitzenden war bereits eine größere Delegation der deutschen Mitgliedschaft der Gesellschaft in Wiecherts ostdeutsche Heimat gereist, um sich dort über die Aktivitäten der russischen und polnischen Freunde zu informieren. Man hatte bewußt das Wochenende am 6. / 7. August gewählt, um an den Veranstaltungen der Stadtgemeinschaft Königsberg zur 750-Jahr-Feier teilnehmen zu können. Nach dem Treffen der Stadtgemeinschaft in der "Auferstehungskirche" wurden die Wiechert-Freunde in der Schule 31 empfangen, in der Lidia Natjagan hinter der Bibliothek (die übrigens den ersten Platz unter allen Schulbibliotheken der Russischen Föderation einnimmt) einen Ernst-Wiechert-Raum eingerichtet hat.
Fotos von Ernst Wiechert, von Kleinort und von der masurischen Landschaft hängen an den Wänden sowie Illustrationen von Tamara Tichinowa. Auf einem Schrank mit einer Glasvitrine steht eine Wiechert-Büste von einem litauischen Künstler. Die alten Ausgaben der Wiechert-Bücher in den Regalen sind Spenden von Horst Radeck, Mitglied in der IEWG und Begründer und langjähriger Leiter des Braunschweiger "Ernst-Wiechert-Freundeskreises".
Lidia Natjagans Ansprache an die Gäste machte deutlich, daß man "auf dem Boden Ernst Wiecherts" stand. "Unsere Schule befindet sich im Herzen der Stadt, am Schloßteich, im ehemaligen Universitätsviertel Tragheim. Die Burgschule, wo der junge Dichter lernte, befand sich drüben, am anderen Schloßteichufer, die Albertina (heute in Kant-Universität umbenannt), wo er studierte, liegt auch nur ein paar hundert Meter weit von hier. Ganz in der Nähe steht noch die ehemalige Palästra Albertina, wo der Student Ernst Wiechert gratis zu Mittag essen konnte. Rechts auf dem Gelände unserer Schule befand sich früher die Universitätsbibliothek, die er oft besuchte. Unserer Schule gegenüber stand damals das Regierungsgebäude, wo er seine Staatsprüfung ablegte."
Bei den heutigen Bewohnern der Stadt, welche die Wiechert-Freundin vor dem inneren Auge ihrer deutschen Gäste wieder erstehen ließ, ist das Interesse an der Vergangenheit erwacht. Mit der russischen Übersetzung von "Wälder und Menschen", der Jugenderinnerungen Wiecherts, die Ende April 2005 im Druck erschienen ist, konnte Lidia Natjagan dem Wissensdurst ihrer Landsleute entgegenkommen. Wie lebten die Menschen in Ostdeutschland? Wie sah ihr Alltag aus? Wo und wie lernten sie? Wie gestaltete sich das deutsche Kultur- und Geistesleben? Inzwischen hat Lidia Natjagan die Übersetzung des zweiten Bandes der Lebenserinnerungen Wiecherts, "Jahre und Zeiten", beendet, auf den die russischen Wiechert-Leser schon warten.
Es freute und rührte die Mitglieder der IEWG sehr, daß die Schulleiterin der Schule 31, Elena Iwanowa, die deutschen Gäste trotz Ferien nicht nur begrüßte, sondern ihnen auch selbstgebackenen Apfelkuchen servierte. Auch ihre Stellvertreterin Nina Schewschemko war anwesend.
Der Dichter Sem Simkin, Mitglied der IEWG und Träger des Ostdeutschen Kulturpreises für Literatur 2005, hatte seine Bücher mitgebracht, russische Nachdichtungen ostdeutscher Texte.
Bei den polnischen WiechertFreunden steht die Pflege der Wiechert-Gedenkstätten an erster Stelle. Das gilt auch für das restaurierte Forsthaus Kleinort, das von der Familie Sadownikow bewohnt wird, die den Museumsraum beaufsichtigt und die Besucher betreut. Ein neuerlicher Umbau des Hauses, das besonders während der Reisesaison täglich von mehreren Bussen angesteuert wird, steht bevor.
Besonders freute die WiechertGruppe das Häuschen der Tante Veronika in Peitschendorf, das bewohnt wird und sehr gepflegt ist. Dort hat Wiecherts Vater zuletzt gelebt. Ein Ort der Weltliteratur aber ist es geworden, denn dort erlebte der kleine Ernst, wenn seine Eltern ihn zur Fastnacht zur Tante Veronika brachten, die Welt des Märchens und des Geheimnisvollen, "denn Tante Veronika war das Märchen". ",Ein Dichter wirst du werden, Andreas , sagte sie dann jedesmal bekümmert."
Die polnische Sektion der IEWG trifft sich im Kulturhaus in Peitschendorf, einem recht häßlichen, glatten Plattenbau aus sozialistischer Zeit, in dem es aber eine Wiechert-Stube gibt.
In Peitschendorf gibt es zudem einen Geheimtip. Maria Damatzka bewohnt ein kleines Einfamilienhaus, in dem sich ein privates Museum befindet. Beides ist ein Erbe ihrer Mutter. Mehrere Räume sind mit polnischer Volkskunst gefüllt, mit Holz- und Keramikarbeiten, die Figuren, Kacheln, Geräte und Kästchen umfassen. Außerdem wird eine Wiechert-Stube eingerichtet, ein Wunsch der Mutter. Ein großes Wiechert-Bild hängt bereits an der Wand, und einige Möbel sollen von Wiechert selbst sein.
Sehenswert ist auch die Wiechert-Gedenkstube im Sensburger Rathaus. Große Schrift- und Bildtafeln dokumentieren den gesamten Lebensweg Wiecherts.
Die Gräber seiner Angehörigen werden gut gepflegt und betreut. Das Grab seines Vaters Martin Emil Wiechert in Peitschendorf ist ebenso ein Ziel der Wiechert-Anhänger wie das Grab seiner ersten Frau Meta und seines Sohnes Edgar am Kleinen Maitzsee auf dem Waldfriedhof Pfeilswalde. Die Begegnung mit Mariusz Szymczyk von der polnischen Sektion der IEWG war für die deutschen Wiechert-Freunde nicht nur eine persönliche Freude, sie bot auch Einblick in die Alltagsrealität Polens. Als Deutschlehrer ist für ihn der Tourismus die wichtigste Aufgabe des Sommers, die Betreuung der Gruppe hat Vorrang und führt mitunter zu einem Parallelprogramm, das gleichzeitig durchgezogen werden muß.
Es ist vielleicht auch Tante Veronika zu verdanken, daß Wiechert im Winter 1944 / 45 die Märchen schrieb, "für alle armen Kinder aller armen Völker ... und für das eigene Herz, daß es seinen Glauben an Wahrheit und Gerechtigkeit nicht verlor".
Auch die Märchen erschienen 1946. Sie vollenden eigentlich die Botschaft des "Totenwaldes". "Er würde nichts vergessen", sagt sich der Protagonist Johannes bei seiner Entlassung aus dem Lager, "aber er würde nun zusehen müssen, daß aus dem Unvergeßlichen mehr wüchse als nur die bittere Frucht des Hasses". Die Märchen sollen die Liebe verkünden. "Und in den Monaten, in denen das Schwert des Krieges bis in das letzte Herz stieß, sammelte ich alle Freudigkeit und alle Traurigkeit meines Lebens, und vor allem alle Liebe, um meine Scheuern mit dem künftigen Brot für die Kinder zu füllen." |
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