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Baltische Wirtschaftsoase

 
     
 
Estland geht voller Zuversicht in das neue Jahr. Die kleine Wirtschaftskrise, in deren Verlauf das Wachstum, das 1997 noch sensationelle elf Prozent betrug, auf knapp unter ein Prozent absackte, ist überwunden.

Eine wesentliche Ursache für das Zwischentief war der Zusammenbruch des Rubels 1998. Die Entwicklung Estlands hängt in hohem Maße von einer florierenden Außenwirtschaft ab. Und wenn auch die Expo
rtorientierung der nördlichsten Baltenrepublik längst nach Westen weist, so nahm Rußland doch im Krisenjahr des Rubels mit rund 14 Prozent noch immer eine beachtliche Marktposition ein.

Die Zahlungsunfähigkeit russischer Banken und Importeure ging denn auch nicht spurlos an Estland vorbei. Hinzu kam, daß die Schwäche des russischen Außenhandels auch die Einnahmen aus dem Transit drastisch sinken ließ.

Nach dem Rechtsruck bei den Parlamentswahlen im letzten Frühjahr hat die neue Regierung des jungen Ministerpräsidenten Mart Laar deshalb die Westorientierung und den betont wirtschaftsfreundlichen Kurs weiter intensiviert, um das Vertrauen des ausländischen Kapitals in die Entwicklung Estlands neu zu stärken.

Die Rechnung der Dreierkoalition aus der konservativen Vaterlandspartei von Mart Laar, der liberalen Reformpartei von Finanzminister Siim Kallas und den Moderaten aus rechten Blair-Sozialisten und einer ausgesprochen nationalen Gruppierung unter Außenminister Toomas Hendrik Ilves ist aufgegangen. Bereits wenige Monate nach dem Regierungswechsel von Mitte-Links nach Mitte-Rechts zeichnete sich die neue Aufwärtsentwicklung der estnischen Ökonomie deutlich ab.

Inländische wie ausländische Experten prognostizierten schon im Frühherbst 1999 für das Jahr 2000 Wachstumsraten von 3,5 bis 5 Prozent; dabei waren die zu erwartenden positiven Auswirkungen der inzwischen erfolgten Aufnahme Estlands in die Welthandelsorganisation (WTO) auf den Export kaum berücksichtigt – und schon gar nicht die jüngste Steuerreform.

Wenige Tage vor Weihnachten löste die liberal-konservative Koalition, die im Parlament über eine sichere Mehrheit verfügt, weitaus früher als erwartet das wichtigste Wahlversprechen der Reformpartei ein: die komplette Abschaffung der Steuern auf reinvestierte Unternehmensgewinne. Hiervon verspricht sich die Regierung einen abermaligen arbeitsplatzbeschaffenden Investitionsschub.

Schon jetzt liegt Estland in der Höhe der Auslandsinvestitionen pro Kopf zusammen mit Ungarn an der Spitze aller Staaten des früheren sowjetischen Machtbereichs. Diese Anziehungskraft der kleinen Ostseerepublik gründet sich im wesentlichen darauf, daß das Land politisch stabil ist und das höchste Bildungsniveau aller Reformstaaten Ostmitteleuropas aufweist, jedermann Immobilien kaufen kann und das Recht hat, Firmen zu gründen.

Außerdem: Firmengewinne können unbeschränkt ins Ausland transferiert werden, Zollabgaben sind nahezu unbekannt, und die allgemeinen Steuern liegen mit 26 Prozent deutlich unter den Sätzen der meisten europäischen Staaten. In Deutschland beträgt der Spitzensteuersatz bekanntlich 53 Prozent.

Die in den USA ansässige Heritage Foundation bewertet Jahr für Jahr den Grad wirtschaftlicher Freiheit in rund 160 Staaten. Ihre Bewertungsliste gilt weltweit bei Investoren als ernstzunehmende Entscheidungshilfe. Estland nimmt auf dieser Liste den Platz 18 ein und rangiert damit noch sieben Plätze vor Deutschland.

Dennoch gibt es auch Negatives zu berichten. So konzentrieren sich das Wirtschaftswachstum und die Herausbildung eines lebenskräftigen Mittelstandes vornehmlich auf die Hauptstadt Reval (Tallinn) mit ihrem Umfeld und in abgeschwächtem Maße auf die Universitätsstadt Dorpat (Tartu). Die meisten anderen Landesteile hinken hinterher, was zu einer bedenklichen Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte führt.

Zu den Schattenseiten gehört ferner, daß in den zehn Jahren der wiedergewonnenen Unabhängigkeit die sozialstaatliche Komponente vernachlässigt wurde – zu Lasten der Rentner und der (allerdings relativ wenigen) kinderreichen Familien. Die Regierung Laar hat zwar die innenpolitische Bedeutung dieser Problemfelder längst erkannt und bemüht sich um Abhilfe, jedoch sind die dafür erforderlichen Finanzmittel begrenzt – und vor eine Schuldenpolitik hat der estnische Staat sich selbst eine gesetzliche Schranke errichtet.

Hinter der wirtschaftsfreundlichen Politik Estlands stehen zwei Überlegungen: Man will schnellstens die Erblast der sowjetischen Mißwirtschaft abschütteln und als Partner der westlichen Staatengemeinschaft Sicherheit gewinnen.

Da der Wunsch, Nato-Mitglied zu werden, sich so bald nicht erfüllen dürfte, soll eine möglichst enge ökonomische Verflechtung mit dem Westen, vor allem mit der EU, eine Art Ersatzsicherheitsgarantie gewähren.

Nicht daß man eine russische Invasion befürchtet, doch die jahrhundertelangen negativen Erfahrungen mit dem großen Nachbarn im Osten, die undurchsichtige Machtlage in Rußland und der Vernichtungskrieg gegen das tschetschenische Volk halten das Mißtrauen wach – zumal immer wieder russische Politiker davon reden, daß das untergegangene Imperium wieder aufgerichtet werden sollte, zumindest aber die Stimme Moskaus im "nahen Ausland" respektvolles Gehör finden müßte.

Die Esten fühlen sich wie kein anderes Volk im östlichen Mitteleuropa mit den Tschetschenen verbunden. Eine parteiübergreifende Bürgerinitiative sammelt seit Wochen Geldspenden, mit denen tschetschenischen Flüchtlingen geholfen werden soll – gleichsam die Abtragung einer Dankesschuld für das mutige und solidarische Verhalten des einst in Dorpat residierenden sowjetischen Luftwaffengenerals und späteren Präsidenten Tschetscheniens, Dschochar Dudajew, in einer für das estnische Volk entscheidenden Zeit.

Sorgen bereitet den Esten heute vor allem, daß Moskau sich noch immer nicht anschickt, den längst bis zum letzten Punkt und Komma ausgehandelten Grenzvertrag zu ratifizieren, in dem Reval um der angestrebten guten Nachbarschaft willen auf alle von der Sowjetunion annektierten Gebiete verzichtet hat. Offene Grenzfragen aber gelten bei der EU als Hinderungsgrund für die Aufnahme.

Ein kluger innenpolitischer Schachzug der Dreierkoalition könnte dennoch für Entspannung sorgen. Bei den Kommunalwahlen im Herbst 1999 vermochten die Regierungsparteien – außer im weitgehend von Russen bewohnten Nordosten – in verschiedenen Koalitionen fast überall ihre Positionen zu halten oder auszubauen. Von großer Bedeutung war die Eroberung der Mehrheit in Reval.

Dort lebt rund ein Drittel der Bevölkerung, und Reval ist die unangefochtene Wirtschaftsmetropole. Kurz vor Weihnachten gelang es den Wahlsiegern, eine wichtige russische Partei in die neue Stadtregierung der rechten Mitte einzubinden. Damit wurde den Moskauer Estlandkritikern das Diskriminierungsargument aus der Hand geschlagen. Denn wer in der Hauptstadt gleichberechtigt mitregiert, kann wahrlich nicht "unterprivilegiert" sein.

 
     
     
 
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