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Bayern und Ostdeutschland liegen zwar geographisch weit auseinander, aber gleichwohl hat es durch die Jahrhunderte hindurch viele historische und kulturelle Wechselbeziehungen gegeben. So war es Hochmeister Siegfried von Feuchtwangen, der den Hochmeistersitz von Venedig an die Nogat verlegte. Der letzte Hochmeister des Deutschen Ordens, der den Ordensstaat in das weltliche Herzogtum Preußen umwandelte, war Albrecht von Brandenburg-Ansbach. In Bayern sagen wir daher gerne: Der erste Preuße war ein Franke (heute geht dagegen nicht selten das geflügelte Wort um, die Bayern seien die letzten Preußen).
Zahlreiche preußische Künstler, Schriftsteller und Gelehrte wirkten in Bayern wie z. B. E.T.A. Hoffmann oder der Maler Lovis Corinth, der die wunderbaren Walchenseebilder schuf. Die 1915 in München ins Leben gerufene Ostdeutschlandhilfe war nur die logische Konsequenz dieser vielfältigen bayerisch-ostdeutschen Beziehungen.
Es bedurfte daher vor 20 Jahren keiner besonderen Überzeugungsarbeit, daß der Freistaat Bayern zu der bereits bestehenden Schirmherrschaft über die Sudetendeutsche Volksgruppe auch noch die Patenschaft über die Freundeskreis Ostdeutschland übernahm. Die Ostdeutschland waren seinerzeit die einzige größere Gruppe unter den Heimatvertriebenen, die noch kein Patenschaftsverhältnis mit einem Land hatte. Neben dem Obhutsverhältnis durch die Bundesregierung sahen die Heimatvertriebenen gerade auch in den Patenschaftsverhältnissen mit Ländern eine wertvolle Hilfe für ihre kultur- und heimatpolitischen Anliegen. Das war damals in Deutschland Konsens. Heute freilich müssen so manche Freundeskreisen die Erfahrung machen, etwa die Schlesier, daß Länder von dieser Aufgabe bewußt abrücken.
Dabei gilt doch: Die Heimatvertriebenen tragen für die NS-Verbrechen wie für den Zweiten Weltkrieg nicht mehr oder weniger Schuld als alle Deutschen. Wir stehen als Deutsche insgesamt in der historischen Verantwortung. Aber je östlicher die Deutschen damals lebten, um so härter traf sie das Nachkriegsschicksal. Schon der Einmarsch der Roten Armee z. B. nach Ostdeutschland war für die Bevölkerung mit furchtbarsten Drangsalen verbunden. Darauf folgten Deportation, Zwangsarbeit, Entrechtung, Verlust von Hab und Gut und schließlich die Vertreibung aus der Heimat, verbunden mit ungeheuer viel Leid und Not.
Knapp 100 000 Ostdeutschland kamen nach Flucht und Vertreibung nach Bayern. Aber die Härte ihres Schicksals brachte die Ostdeutschland nicht um. Sie ließen sich nicht entmutigen. In der neuen Heimat packten sie an. Schon Ministerpräsident Hanns Seidel stellte Ende der 50er Jahre fest, daß der Wandel Bayerns vom Agrar- zum High-Tech-Land ohne die Vertriebenen in dieser Form und in dieser Rasanz nicht möglich gewesen wäre. Die Dankbarkeit Bayerns für diese Leistung kommt gerade auch in der Patenschaftsurkunde für die Freundeskreis Ostdeutschland zum Ausdruck.
Trotz oder gerade wegen des erfahrenen Leids wurden die Heimatvertriebenen eine zuverlässige Stütze unserer Demokratie. Wir wissen alle, daß ihnen von Stalin eine andere Rolle zugedacht war. Sie sollten ein unruhiges, ein revolutionäres Element im damaligen Westdeutschland werden. Sie wurden es nicht. Im Gegenteil: Die politische Haltung der Ostdeutschland war stets gekennzeichnet durch das Bekenntnis zur repräsentativen Demokratie, durch die Mitarbeit in den demokratischen Parteien, durch Grundsatztreue z. B. zur Deutschen Einheit über allen Zeitgeist hinweg.
Diese politisch reife Haltung der Vertriebenen hat zum inneren sozialen Frieden in Deutschland und zum Ansehen unserer Nation im Ausland viel beigetragen. Gerade aus geschichtlicher Verantwortung wissen wir, wie notwendig Wachsamkeit gegenüber Feinden der Demokratie und des Rechtsstaats ist, die unserem Land und Volk wie unseren Nachbarn nur Unglück und Leid brachten.
Die Heimatvertriebenen haben ihren Platz in der politischen Mitte unseres Landes. Sie haben sich stets von allen Extremen links und rechts ferngehalten, weil sie wußten: Das führt zur Schwächung von Freiheit und Demokratie. Das führt nur zur Zersplitterung und Zersplitterung führt zur eigenen Schwäche.
Wenn die Ostdeutschland wie die anderen Vertriebenen daher die Solidarität des Staates anmahnen, so tun sie dies gewiß nicht als Bettelnde, sondern im Selbstbewußtsein ihrer Leistungen. Als Ministerpräsident weiß ich um diese Leistungen für Bayern und unser demokratisches Gemeinwesen. Daher ist es selbstverständlich, daß Bayern die berechtigen Anliegen der Ostdeutschland unterstützt. Als Ministerpräsident nehme ich die Interessen aller in Bayern wohnenden Bürgerinnen und Bürger wahr und natürlich auch jener Menschen, für die Bayern ein besonderes Obhutsverhältnis übernommen hat. Dafür stehe ich ein.
Fünf Punkte sind es, die aus meiner Sicht in den kommenden Jahren von besonderer Relevanz für die Ostdeutschland und die anderen Heimatvertriebenen sind:
1. Der polnische Außenminister Geremek hat bei der diesjährigen Karlspreisverleihung in Aachen ein richtiges Wort gesagt: "Es ist die Aufgabe unserer Generation, versöhnend zu wirken." Das ist ein gutes Wort aus Polen, denn es läßt hoffen, daß die Probleme nicht auf die lange Bank geschoben werden. Jetzt, im nicht mehr geteilten, im demokratischen Mitteleuropa besteht wirklich die Chance, ehrlich und unverkrampft miteinander zu reden und die offenen Probleme einer Lösung zuzuführen. Von einer für beide Seiten möglichst gerechten Lösung von Problemen geht versöhnende Wirkung aus. Daß hierzu die Betroffenen, also auch die Ostdeutschland, mit einzubeziehen sind, ist selbstverständlich. An den Betroffenen vorbei kann es keine Aussöhnung geben. Alles andere wären nur Scheinlösungen.
2. Mit Beschluß vom 23. Juni 1994 fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung auf, "über die Durchsetzung des Rückkehrrechts in die Heimat hinaus Möglichkeiten zu prüfen, wie Wiedergutmachungs- und Entschädigungsverpflichtungen der Vertreiber geregelt werden können". Die Vertreibung der Deutschen war völkerrechtswidrig. Sie war Unrecht und sie bleibt Unrecht, solange dieses Unrecht eben nicht geheilt ist. Dabei stehen Vermögensfragen im Abstand von über 50 Jahren nicht im Vordergrund. Vielmehr geht es darum, das Unrecht so zu heilen, daß dadurch die jetzt in Ostdeutschland wohnenden Polen, Russen oder Litauer persönlich keinen Nachteil und Schaden erleiden. Aber es muß der Wille und die politische Anstrengung Polens erkennbar werden, das Unrecht als Unrecht aufzuheben.
Der Freistaat Bayern mit seinem geschichtlich gewachsenen Staatsbewußtsein, so Ministerpräsident Goppel vor 20 Jahren beim Festakt zur Patenschaftsübernahme am 16. September 1978, habe es stets als eine Pflicht erachtet, auch Sprecher derer zu sein, die sich mit dem Tatbestand des Unrechts nicht abfinden wollen. Auch die gelungene Integration der Vertriebenen, so Goppel, dürfe nicht dazu führen, daß das Pochen auf Menschenrechte, zu denen das Recht auf die Heimat gehört, leiser wird oder gar verstummt.
Auch heute tritt die Bayerische Staatsregierung für das Recht auf die Heimat ein. Wer dieses Heimatrecht wahrnehmen möchte, und zwar zu niemandes Schaden im heutigen Ostdeutschland, dem sollte Polen diese Option schon vor einem EU-Beitritt einräumen.
3. In der Charta der Heimatvertriebenen heißt es: "Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können."
Der Eiserne Vorhang ist überwunden. Damit sind wir der Vision der Heimatvertriebenen deutlich näher gekommen. Für den Beitritt der östlichen Nachbarstaaten zur EU hat nun die entscheidende Verhandlungsphase begonnen. Ein geeintes Europa gibt allen Völkern mehr Sicherheit, bringt allen Völkern mehr Wohlstand, stabilisiert gerade auch die Mitte Europas. Der Einigungsprozeß liegt daher in beiderseitigem Interesse. Beide Seiten haben deshalb auch hohe Erwartungen an diesen Einigungsprozeß.
Unsere Erwartungen erschöpfen sich dabei nicht allein in einer Wirtschafts- und Währungsunion, sondern für uns ist die EU auch eine Wertegemeinschaft. Dieser Wertebestand ist im Vorfeld des Verhandlungsprozesses von der EU mehrfach eindrucksvoll festgeklopft worden. Der Gipfel von Kopenhagen hat dazu 1993 klare Aussagen getroffen. Danach sind das Bekenntnis, die Beachtung und die Durchsetzung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaat wesentliche Voraussetzungen für einen Beitritt. In Artikel 6 des EG-Vertrages heißt es ausdrücklich, daß "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten" ist. Das EU-Parlament hat in diesem Jahr beschlossen, daß die Kommission in ihren jährlichen Gutachten über die Entwicklung der Kandidatenländer Gewicht "auf die Durchsetzung der Grundfreiheiten, der Menschenrechte, insbesondere ... die Beseitigung diskriminierender Bestimmungen" legen soll. Das ist jedenfalls der Wertemaßstab. Wir erwarten, daß die EU nach ihren eigenen Vorgaben sehr sorgfältig die Beitrittskandidaten prüft.
Im Zuge der Beitrittsverhandlungen müssen daher auch Diskussionen über jene Dekrete und Gesetze geführt werden, die im Zuge der Vertreibungen in Polen und in der Tschechoslowakei erlassen bzw. beschlossen wurden. Dieser Diskussion könnten Warschau und Prag aus dem Weg gehen, indem sie rechtzeitig vor dem EU-Beitritt moralisch überzeugende Gesten der Verständigung gegenüber den Heimatvertriebenen zeigten. Solche Gesten sollten aus eigener Einsicht in den Unrechtscharakter der Vertreibung hervorgehen.
4. Bayern und Ostdeutschland mögen vom Naturell her verschieden sein, aber eines verbindet sie gewiß: Heimatbewußtsein. Integration bedeutet ja nicht Aufgabe der eigenen Identität, die aus Geschichte, Kultur, Brauchtum und Sprache erwächst. Siegfried Lenz läßt in seinem Roman "Heimatmuseum" den Teppichwirker Zygmant Rogalla sagen: "Im Heimatgefühl liegt auch der Anspruch, unverwechselbar zu bleiben. Da möchte ich gerne fragen: Sollten wir denn zu unserem Ziele machen, namenlos und auswechselbar zu werden? ... Glaubst Du wirklich, daß unser Glück dauerhafter wird, wenn wir freiwillig in Anonymitäten ertrinken ...?" In der Anonymität ertrinken, das wollen wir alle nicht. Deshalb ist die Pflege des kulturellen Erbes für die Ostdeutschland von entscheidender Bedeutung. Denn sie sollen unverwechselbar bleiben, sie sollen ihre Identität wahren.
Daß mit Ellingen und mit dem Museum im Alten Schloß zu Oberschleißheim, das vom Bayerischen Nationalmuseum mitbetreut wird, wie mit dem Areal der Ost- und Westpreußenstiftung in Oberschleißheim bedeutende ostdeutsche kulturelle Zentren in Bayern ihren Platz haben, ist eigentlich die logische Fortführung der jahrhundertealten bayerisch-ostdeutschen Wechselbeziehungen. Konkreter Ausfluß der Patenschaft ist die jährliche kontinuierliche Förderung dieser Einrichtungen wie auch die Förderung grenzüberschreitender Aktivitäten der Freundeskreis in Ostdeutschland durch den Freistaat. 1997 waren es etwa 310 000 DM, 1998 werden es 340 000 DM sein, mit denen Bayern die Ostdeutschland und ihre Kulturarbeit fördert.
Dabei wird viel von ihnen selbst mit hohem persönlichen Einsatz geleistet. Denn ihre Kulturarbeit kann sich nicht auf einen bestimmten Raum wie z. B. Bayern beschränken, sie umfaßt das ganze Deutschland und Ostdeutschland. Daher dürfen keinesfalls die grundlegenden Voraussetzungen dafür, wie sie durch den § 96 BVFG gegeben sind, aufgegeben werden. Das Patenland Bayern steht uneingeschränkt zum § 96. Grundlegende Voraussetzung ist aber auch, daß in den Schulen Kenntnisse über Ostdeutschland vermittelt werden. Für Bayern gilt dies. In den Erlassen für die Schulen, in den Lehrplänen und in den Schulbüchern wie beim jährlichen Schülerwettbewerb "Die Deutschen und ihre östlichen Nachbarn" wird die Geschichte Ostdeutschlands mit behandelt. Wir vertreiben die Heimatvertriebenen nicht aus der deutschen Geschichte. Wohl kein Land in Deutschland nimmt die Verpflichtungen aus dem § 96 so ernst wie Bayern.
5. Es gibt in Deutschland viele Probleme, welche die Menschen zutiefst bewegen. Arbeitsplätze, die soziale Sicherung, Zuwanderung, innere Sicherheit. Sie erwarten darauf von den Politikern substantielle Antworten.
Substantielle Antworten erwarten die Heimatvertriebenen auch für ihre Anliegen. Es ist ein großer Erfolg, daß ihre Anliegen bei der Fülle der Themen nach wie vor in der deutschen Politik präsent sind. Dazu hat das Patenland Bayern wesentlich beigetragen.
Die berechtigten Anliegen der Ostdeutschland sind beim Patenland Bayern und bei der Bayerischen Staatsregierung in guten Händen. Mit dem Sprecher der Freundeskreis, Herrn Meier, stehe ich in regelmäßigem Kontakt. Er konnte von unserem letzten Gespräch im Februar dieses Jahres wie auch von den Gesprächen zuvor die Zusicherung der engen Verbundenheit Bayerns mit den Ostdeutschland mitnehmen.
Vor 20 Jahren, am 16. September 1978, titelte das "Bayern wird unser Patenland". 20 Jahre später kann die Überschrift lauten: "Bayern ist und bleibt unser Patenland".
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