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Blutspur erreicht Deutschland: Am Rande eines Vulkans

 
     
 
Oktober 1997: Der 16jährige Luke W. schneidet seiner Mutter die Kehle durch, geht in die Schule und schießt in der Klasse herum, zwei Schüler sterben, 16 werden verletzt. Drei Monate später eröffnet der 14jährige Michael C. während eines Gebetstreffens aus heiterem Himmel das Feuer auf seine betenden Klassenkameraden, drei sterben, elf werden schwer verletzt. Wieder drei Monate später, in Jonesboro, diesmal sind es zwei Schüler, elf und 13 Jahre alt, die auf dem vollen Pausenhof in die Menge schießen, nachdem sie mit einem Feueralarm Schüler und Lehrer aus dem Gebäude gelockt hatten. Fünf Tote - die Blutspur wird breiter. Und die Intervalle kürzer. Ein Monat später, Edinboro in Pennsylvania, knapp vier Wochen später Springfield in Oregon. Dann die Sommerferien
. Und im April des folgenden Jahres wieder. "Sie lachten, als sie auf uns feuerten", erzählt eine Schülerin aus Littelton, die dem Massaker in der Schule gerade noch entkam. 16 Tote, unter ihnen die zwei Amokschützen. Und eine Woche später führte die Blutspur nach Kanada und dann nach Deutschland. In Meißen ersticht ein Gymnasiast seine Lehrerin vor den Augen der Klassenkameraden, im oberbayerischen Brannenburg erschießt ein 16jähriger Schüler, der kurz zuvor von der Schule verwiesen wurde, den Leiter seines Internats. Und jetzt Erfurt. Nur in Dunblane in Schottland gab es bei einem Amoklauf in einem Kindergarten so viele Tote.

So viele Einzelfälle sind kein Zufall mehr. Die Wissenschaft hat auch schon längst zwei allgemeine Ursachenstränge ausgemacht: Waffenbesitz und Mediengewalt. Ihre Kombination ist tödlich, und es mutete geradezu lächerlich an, als der damalige US-Präsident Clinton schärfere Gesetze fordert, zum Beispiel, daß man nur noch eine Pistole pro Monat kaufen dürfe. Die Waffen-Lobby gehört zu den einflußreichsten in den USA, kein Politiker läßt sich gern auf einen Show-down mit ihr ein. Bisher hat noch jeder, der es versuchte, den kürzeren oder langsamer gezogen. Und mit dem Hollywood-Star Charlton Heston als Vorsitzenden der National Rifle Organisation wird es noch weniger Politiker geben, die einschneidende Änderungen verlangen. Obwohl pro Jahr rund 40.000 Tote durch Schußwaffen zu beklagen sind und man die Zahl der Colts, Pistolen, Gewehre und Flinten in den amerikanischen Haushalten mittlerweile auf mindestens 200 Millionen schätzt.

Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß die leichte Verfügbarkeit von Handfeuerwaffen solche Massaker und Morde begünstigt. Das war auch in Erfurt der Fall. Die Forderung nach strengeren Kontrollen ist berechtigt. Es müssen keine amerikanischen Zustände herrschen. Aber das ist nur ein Grund. Und wahrscheinlich noch nicht einmal der wichtigste. Wer zur Waffe greift, muß zunächst dazu animiert werden. Das geschieht heute überwiegend in den Medien. Denn dort wird zuerst geschossen.

Aber nicht nur in Amerika. Gewalt in den Medien ist ein globales Thema, und deshalb ist es heute unverantwortlich, Kinder ohne Begleitung vor den Fernsehschirm zu setzen. Kinderpsychologen weisen den Erwachsenen hier eine Teilschuld zu. Kinder hätten von Tod und Gewalt nicht die gleiche Vorstellung wie Erwachsene, sie bräuchten deutliche Signale, um ihre Vorstellungswelt von der Realität unter- scheiden zu können. Eigentlich banal, diese Erkenntnis. Aber man muß sie vor der Wirklichkeit auf dem Schirm betrachten. Die TV-Programme sind heute eben nicht mehr so harmlos wie in der Frühzeit des Fernsehens. Mitte der achtziger Jahre stellte eine Studie in Bayern über Gewalt im deutschen Fernsehen fest: Alle acht Minuten kracht s, und das querbeet durch die öffentlich-rechtlichen Programme. Mit den Privaten dürfte sich die Frequenz in den neunziger Jahren deutlich erhöht haben.

Schon seit den späten sechziger Jahren wissen wir, wissenschaftlich verbrieft, daß das Fernsehen unabhängig von den gesendeten Inhalten "Gift für die kindliche Psyche" ist, wie die Amerikanerin Marie Winn in ihrem Buch "Die Droge im Wohnzimmer" festgestellt hat. Auch die umfangreichen und profunden Arbeiten von Christa Meves haben seit dreißig Jahren immer wieder darauf hingewiesen. Andere - Hartmut von Hentig, Gernert, Scarbath, Mander, Förster, Holz, Petermann, Postman, um nur einige zu nennen - zeigen ebenfalls mit erschreckender Deutlichkeit auf, wie durch Fernsehen und Videokassetten dem Menschen heute die Erfahrung von Wirklichkeit enteignet wird. Hentig spricht von einer Welt, "in der ursprüngliche Erfahrung immer knapper wird". Wir haben es hier mit einer philosophisch-anthropologischen Grundfrage zu tun, mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit, mit dem Erkennen von Wahrheit als "Enthüllung der Wirklichkeit", wie Josef Pieper es formulierte.

Bei Kindern ist die Gefahr am größten. Sie verlieren am schnellsten die Fähigkeit, zwischen Tod im Fernsehen und Tod im Leben zu unterscheiden, für sie flimmern die Helden aus der Kiste als Vorbilder weiter in Herz und Hirn, ihr Bewußtsein wird nachhaltig von den Bildern der Traumwelten geprägt - freilich vor allem dann, wenn die wirkliche Welt kein Gegenangebot stellt. Wenn also niemand zu Hause ist, der dem Kind etwas sagt und das Geschehen auf dem Schirm zurechtrückt, dann können die Schüsse im Kopf weiterleben und zu einer blutigen Wirklichkeit werden. Die steigenden Zahlen der Kinder- und Jugendkriminalität in Deutschland haben damit zu tun. In den letzten Jahrzehnten sind sie im Schnitt um achtzig Prozent gestiegen, in Bayern um mehr als hundert Prozent, in den neuen Bundesländern sogar um mehr als 150 Prozent. Mittlerweile ist jeder dritte Straftäter in Deutschland jünger als 21.

Das Kinderhilfswerk weist auf eine Ursache hin: "Die Mediatisierung und Kommerzialisierung von Kindheit". Medien bestimmten zunehmend den Alltag von Kindern, in den vergangenen Jahren seien eigene Kinderkanäle und TV-Zeitschriften für Kinder auf den Markt gebracht worden. Kinder sähen sich in ihren Cliquen unter Druck gesetzt, bestimmte Sachen zu kaufen, die sie aber von ihrem Taschengeld nicht bezahlen könnten. Dieser Konsumdruck führe dazu, daß Kinder und Jugendliche diese Sachen stehlen. Ladendiebstahl sei deswegen der häufigste Tatbestand. Aber dem Nachgeben des Konsumdrucks geht das Schwinden der Fähigkeit zum Verzicht voraus. Das lernt man in der Familie. Ebenso lernt man in der Familie den Unterschied zwischen mein und dein, dort wird das Rechtsbewußtsein entwickelt und geschärft. Findet keine Erziehung mehr statt, werden die Folgen nicht nur bei dem einzelnen Kind, sondern auch in der Gesellschaft sichtbar.

Aber es ist eine Unverschämtheit, der Familie die Schuld an dieser Misere zuzuschieben, so wie die "Anti-Familienministerin" Frau Bergmann es jetzt tut. "Wir brauchen in der Gesellschaft einen anderen Umgang mit Gewalt", sagte sie jetzt zum Drama von Erfurt, "das beginnt in der Familie." Ist sie es nicht, die die Familie zum Auslaufmodell erklärt hat, die die Mütter um jeden Preis aus dem Haus haben und an irgendeine Stelle des Produktionsprozesses stellen will? Seit Jahren propagiert sie die (gescheiterte) DDR-Ideologie der staatlichen Betreuung von der Geburt bis zur Bahre und jetzt, wenn die bitteren, giftigen Früchte dieser Ideologie blutrot sichtbar werden, schiebt sie die Schuld den Familien in die Schuhe. Den Familien, die von ihr und der rotgrünen Regierung früher als Gedöns verächtlich gemacht wurden und die man mit ein paar Silberlingen mehr abspeisen will.

Robert Steinhäuser, der Mörder von Erfurt, sei aus geordneten Familienverhältnissen gekommen, heißt es hier und da. Ist es geordnet, wenn die Eltern lange schon getrennt leben, wenn es keine Kommunikation zwischen Mutter und Sohn gibt, und auch nicht zwischen Schule und Elternhaus? Geordnete Verhältnisse, das ist kein Synonym für Tisch, Dach und Kleidung, das sollte auch die emotionalen Ruhe- und Rück-zugsräume beinhalten. Erst sie verschaffen Stabilität. Aber wenn sie von Medienwelten besetzt sind, dann lebt der Jugendliche am Rande eines Vulkans.

Gewalt ist zu einem erstrangigen Thema der modernen Gesellschaft geworden. Sie war gewiß schon immer da, war aber geächtet. Die Medien haben sie salonfähig gemacht. Und zwar in dem Sinn, daß Gewalt als Medienkonsumartikel angeboten wird wie Rührszenen oder ein Quiz. Sie gehört zum Warenkorb der Medienbranche. Und die Nachfrage ist auch da. Medienmacher und Politiker diskutieren deshalb lediglich, wie man Sender auf ein "gesellschaftsverträgliches Programm" verpflichten könne. Reinhard Mohn, Chef des weltweiten Medienriesen Bertelsmann, fordert gar, daß eine gemeinsame Länderanstalt darüber wachen sollte, ausgestattet mit abgestuften Sanktionsmitteln bis hin zum Lizenzentzug.

Aber Beispiele für ein schärferes Vorgehen gegen Gewalt im Fernsehen gibt es nur im Ausland - zum Beispiel in Norwegen, wo eine Serie abgesetzt wurde, nachdem ein fünfjähriges Mädchen von ihren Spielkameraden "wie im Film" erschlagen worden war. In Deutschland kann die Leiterin der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften dagegen nur feststellen: "Gewaltverherrlichende Videospiele haben längst die Kinderzimmer erobert". Es ist richtig, wenn der bayerische Ministerpräsident Stoiber jetzt ein Verbot oder zumindest eine Verschärfung bei der Kontrolle von Killervideos und entsprechenden Computerspielen fordert. "Der Schund muß endlich verboten werden", sagt seine Kultusministerin Monika Hohlmeier.

Es steht zu befürchten, daß in ein paar Wochen Erfurt nur noch eine Fußnote der Geschichte ist. Die Medienlobby dürfte hierzulande ähnlich stark sein wie die Waffenlobby in Amerika. Am Ende beugt sich die Politik - bis zum nächsten Drama.

Die Gutenberg-Schule in Erfurt ist kein Sonderfall. Das Drama hätte sich auch woanders ereignen können. Das ist das eigentlich Erschreckende an dem Phänomen: Die Unterscheidungskraft zwischen Gut und Böse schwindet und kann überall plötzlich aussetzen, der Pluralismus der Werte in der modernen Gesellschaft ist zum Brei des "anything goes" geworden. In diesem Sinn legt Frau Schipanski den Finger auf die blutende Wunde der Gesellschaft. Der Grundwertekonsens hat sich im Pluralismus verflüchtigt. Der Verzicht auf die Wahrheit ist der Kern der heutigen Krise, nannte es Ratzinger schon vor Jahren. Die Suche nach der Wahrheit ermöglicht den Zugang zu Werten, zu Gut und Böse, zu Richtig und Falsch. Das lernt man in der Familie. Nie war der Zusammenhang zwischen Familie und Grundwerten, zwischen den ersten Artikeln unserer Verfassung so deutlich. Findet keine Erziehung mehr statt, werden die Folgen nicht nur bei dem einzelnen Kind, sondern auch in der Gesellschaft sichtbar.

Drei von vier Fernsehkonsumenten meinen heute, es werde zuviel Gewalt gezeigt. Das stimmt zweifellos. Und schon deshalb wäre eine Erziehung zur Medienaskese oder wenigstens Mediendiät angebracht. Denn die Hoffnung auf Selbstzensur der Medien hat getrügt. Es reicht nicht, einen Kodex zu erfinden. Auch das ist eine Scheinwelt. Wahrscheinlich geht es nicht ohne Gesetze und Sanktionen. Das aber setzt wieder voraus, daß man genau weiß, was erlaubt ist und was nicht, mithin was gut ist und was schlecht, oder auch was Kunst ist und was Trieb. Die "Enthüllung der Wirklichkeit" muß den jungen Menschen nahegebracht werden. Das wäre eine Aufgabe für Medien und Erzieher, für Schulen und - wenn man ihr den Freiraum wiedergäbe - auch für die Familie.

Vermutlich läßt die Politik die Eltern mit dieser Aufgabe wieder allein. Denn auch in der Politik wird Wirklichkeit schon weitgehend ersetzt von Öffentlichkeit. Die wirkliche Welt und die Medienwelt stehen in Konkurrenz. Die Zeitschrift "New Yorker" karikierte es einmal so: Die Hand Gottes zeigt aus der Wolke auf einen armen Politiker und eine Stimme erschallt: Thou shalt not appear on TV - Du sollst nicht im Fernsehen auftreten. Das scheint die Höchststrafe für Politiker zu sein. Für die Gesellschaft aber gilt: Wenn dieser Teufelskreis aus Scheinwelt, Gewalt und Verwahrlosung der Kinder und Vernachlässigung der Familien nicht bald durchbrochen wird, werden nicht nur einige Jugendliche im Ninja-Dress herumschießen. Ohne Besinnung auf Wahrheit und Werte droht ein Amoklauf der Gesellschaf
 
     
     
 
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