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Wenige ausgewählte Bildkompositionen sollen die Erinnerung an Preußen wachrufen, das Besondere hervorheben.
18. Januar 1701: Kurfürst Friedrich III. wird in einer glanzvollen Zeremonie in Königsberg zum König Friedrich I. in Preußen gekrönt. Das souveräne Herzogtum Preußen (Ostdeutschland) wird zum Königreich. Ein neues Staatsgebilde „betritt“ die europäische Bühne.
4. März 1713: Nur eine Woche nach seiner Thronbesteigung verkündet der sogenannte Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. (* 14. August 1688; † 31. Mai 1740): „Es ist mein absoluter Wille, daß die Justiz in meinem Staat schnell, unparteiisch, mit reinen Händen, gleich für arm und reich, für hoch und niedrig, administriert wird.“ Im Zeitalter des Absolutismus waren solche Töne ungewöhnlich. Die Entwicklung Preußens zum Rechtsstaat hatte begonnen.
25. Oktober 1717: In Preußen wird dank königlicher Weisung des Soldatenkönigs die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Damit wird Preußen zum Vorreiter einer Bildungsinitiative in Europa.
2. Februar 1732: Preußen nimmt weitgehend die aus dem Bistum Salzburg vertriebenen Protestanten auf. Damit folgt der Soldatenkönig dem Vorbild seines Großvaters, des Großen Kurfürsten, der bereits 1685 etwa 150.000 französische Hugenotten ins Land holte, die die Wirtschaft und Kultur in Preußen maßgeblich mitgestalteten und beförderten.
Der Toleranzstaat Preußen zog die Menschen an, obwohl - im Vergleich zu heute - von „sozialer Hängematte, multikultureller Gesellschaft“ noch keine Rede war.
3. Juni 1740: Mit der Thronbesteigung Friedrichs II. (der Große * 24. Januar 1712, † 17. August 1786) wird die Folter abgeschafft, die königlichen Kornspeicher für die Armen geöffnet, die religiöse Toleranz verwirklicht.
14. Dezember 1779: Zehn Jahre vor der Französischen Revolution läßt der preußische König in den Berliner Zeitungen eine persönliche Erklärung abdrucken, „daß vor der Justiz alle Menschen gleich seien“.
Bettler und König auf einer Stufe! Die revolutionäre Schickeria in Paris oder anderswo war begeistert und irritiert zugleich. Graf Mirabeau bezeichnete Preußen „als märchenhaftes Königreich“.
1781: In Königsberg schreibt Preußens bedeutendster Philosoph Immanuel Kant seine „Kritik der reinen Vernunft“ und verkündet damit die ethischen Grundsätze eines beispielgebenden Aufklärungs-, Rechts- und Pflichtstaates.
1785: Friedrich der Große schließt mit den jungen Vereinigten Staaten von Amerika einen ersten Freundschafts- und Handelsvertrag, den George Washington als den „liberalsten Vertrag“ kennzeichnete, „der je zwischen zwei unabhängigen Mächten eingegangen wurde“.
1794: Mit Inkrafttreten des „Allgemeinen Preußischen Landrechts“ wird ausgerechnet das vielgeschmähte Preußen zum ersten Rechtsstaat in Europa.
Und dennoch wird Preußen im nachhinein ausschließlich als Hort der Reaktion und des Militarismus gesehen. Gewiß - sich völlig frei von derartigen Vorwürfen zu stellen, wäre töricht und unangemessen. Erinnert sei nur an die beiden düsteren Jahrzehnte von 1786 bis 1806, als in Preußen der Dünkel, die Verblasenheit an die Stelle von Zurückhaltung und Weitsicht traten. Daß es leidenschaftliche Preußen waren, die diese Zeitphase besonders selbstkritisch analysierten, entsprach dem Wunsch nach einer neuen maßvollen geistigen und ideellen Vorreiterrolle. Wenn Theodor Fontane, in seiner Jugend der Barde Preußens, im Alter hellsichtiger, trauriger und unbestechlicher Kritiker preußischer Dekadenz, in seiner Erzählung den „Schach von Wuthenow“ sagen läßt, „daß Preußen kein Staat mit einer Armee, sondern eine Armee mit einem Staat sei“, oder die kluge Königin Luise davon spricht, „daß sich Preußen auf den Lorbeeren Friedrichs des Großen ausgeruht“ habe, werden die preußischen Tugenden wie Bescheiden- heit, Selbstdisziplin, Toleranz, Pflichterfüllung, Gewissensentscheidung u. a. m. neu eingefordert, Tugenden, die Preußen groß gemacht haben. Übertriebenes Jammern oder das heute weithin gepflegte masochistische Suhlen in der Niederlage, in der neudeutschen Schuld- und Sühnekultur erscheinen unpreußisch. Die vom estnischen Präsidenten Lennart Meri kritisierte „Canossa-Republik“, der man nicht trauen könne, „solange sie sich rund um die Uhr in Schuldbekenntnissen ergeht“, versucht, dem allgemeinen Werteverlust durch materielles Überangebot, Gleichmacherei und frühzeitige Selbstfindung zu begegnen.
1812: Mit der weitgehend eigenmächtigen Entscheidung Yorck von Wartenburgs, mit den Russen gegen den französischen Usurpator ein Neutralitätsabkommen zu schließen, beginnen die Befreiungskriege, in denen ostdeutsche und pommersche Landwehrmänner, überwiegend barfuß in zerfetzten Leinenkitteln, zum Kampf für Deutschlands Befreiung auszogen. Den Ruhm, sich zuerst gegen die napoleonische Fremdherrschaft erhoben zu haben, muß Preußen mit keinem anderen deutschen Staat teilen. Daß die Anführer des damaligen Freiheitskampfes, Yorck, Blücher, Gneisenau, Scharnhorst, E. M. Arndt, Fichte u. a. m., endlich dort wieder in Berlin Posto fassen dürfen, wo sie zur Ehre Preußens für alle Welt hingehören, stimmt freudig.
Ähnlich anderen Staatsgebilden hatte auch Preußen seine dunklen Flecken. Die Weberaufstände 1844 in Schlesien werden blutig niedergeschlagen, der 1848 in Frankfurt vorgelegte Grundrechtskatalog blieb Entwurf, der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (* 15. Ok-tober 1795, † 2. Januar 1861) lehnt die Kaiserkrone mit der Bemerkung ab: „Meister, Bäcker und Metzger“ hätten keine Krone zu vergeben; Aufstände in Preußen und anderen deutschen Ländern im März 1848 werden militärisch niedergeschlagen, die zunehmende Industrialisierung wirft vielerlei soziale Probleme auf.
Stolz dürfen wir hingegen sein, daß es mit Otto v. Bismarck ein Preuße war, der den Flickenteppich unterschiedlichster Gebietsteile in Deutschland zu einer Einheit verschmolz, der aus Preußen, der kleinsten der fünf europäischen Großmächte, das preußisch-deutsche Reich schuf, ohne das europäische Gleichgewicht nachhal- tig zu stören. Trotzdem hat man Preußen verächtlich als Hort der Reaktion und des Militarismus bezeichnet. Unstrittig ist, daß es auch im Königreich Preußen subalterne Naturen gegeben hat, die alles, was scheinbar unter ihnen stand, zu beugen trachteten, daß Preußen ein Militär- und Obrigkeitsstaat war. Aber konnte das unter den damaligen Bedingungen anders sein? Hätte Preußen unter anderen Bedingungen entstehen, sich entwickeln und existieren können? Was die Unterwerfung unter die Obrigkeit angeht, so ist das keineswegs nur auf Preußen beschränkt, sondern in jeder organisierten Gesellschaft Bedingung ihrer Funktionstüchtigkeit. Vom preußischen Sozialdemokraten Kurt Schumacher stammt der unerwartete Ausspruch in seiner Dissertation, „daß alles, was auf deutschem Boden groß geworden ist, durch Gehorsam seine Größe erreicht hat“. „In Freiheit dienen“ hat Theodor Fontane diese Lebensdevise genannt. Disziplin und Gehorsam sind in der heutigen Spaßgesellschaft in Mißkredit geraten, weil sie angeblich jede Individualität unterdrücken, den Untertanengeist und Kadavergehorsam fördern. Doch wir wissen, daß die Anerkennung von Ordnung etwas anderes als Bürokratie und Kriechgang, Gehorsam etwas anderes als Knechtstand und Würdelosigkeit ist. Die heutzutage weit verbreiteten Beispiele schrankenloser Freiheit geben nachträglich einem stigmatisierten Staat recht, in dem Ordnung und Disziplin, Gehorsam und Maßhalten, Bescheidenheit und Toleranz, Frömmigkeit und Patriotismus ungeschriebene Gesetze darstellten.
Obwohl alle europäischen Mächte reichlich Kriege geführt haben, ist im Bewußtsein der Öffentlichkeit ausschließlich Preußen als „kriegslüstern“ und „gewaltbereit“ stigmatisiert. Daß das wilhelminische Deutschland nach 1890 den Vorurteilen mancherlei Zündstoff lieferte, in Teilen leider zur Karikatur entartete, darf nicht übersehen werden. Die großartigen Siege von Düppel, Königgrätz, Metz und Sedan haben so manche leutnantshafte Arroganz verstärkt, so daß es manchem In- und Ausländer schwerfiel, den schneidigen preußischen Kasernenton wortlos zu ertragen. Die bewährte Integrationskraft Preußens ließ deutlich nach. Das westdeutsche Neupreußen, in dem die großen, damals mächtig aufblühenden deutschen Industriereviere lagen, fühlte sich durch den Flottenbau, die industrielle Expansion und die wilhelminische Politik beflügelt, während man sich in Altpreußen östlich der Elbe murrend und knurrend in den Status eines armen Verwandten zurückgestuft sah. Man besann sich auf ein verjährtes „Erstgeburtsrecht“ und fand Gefallen, sich gegenüber dem Pomp, dem Reichtum und der Großmannssucht, der parvenuhaften Prahlerei und Protzerei der Neureichen durch altpreußische Schlichtheit und Gediegenheit abzuheben.
Aussagen zu Preußen sind vielstimmig. Die buntscheckige Geschichte eines Staates weist - wie könnte es anders sein - Licht- und Schattenseiten, Höhen und Tiefen auf. Weil Preußen aber ein beispielgebender Rechts-, Toleranz-, Aufklärungs- und Sozialstaat war, zählt Preußen zu den Staaten in der anspruchsvollen Bedeutung des Wortes. Daher macht es stolz, sich des preußischen Erbes besonders heute zu erinnern. Wenn meine Großmutter noch im hohen Alter alle Strophen des Liedes „Ich bin ein Preuße, kennt Ihr meine Farben“ uns Kindern mit bewegter Stimme vortrug, wird jener selbstverständliche, ungekünstelte Stolz seiner Bürger deutlich, dazuzugehören. Was wahres Preußentum ausmacht, hat Henning von Tres-ckow in einer Tischrede am 11. April 1943 anläßlich der Konfirmation seiner Söhne in der Potsdamer Garnisonkirche meisterlich ausgedrückt: „Vergeßt niemals, daß Ihr auf preußischem Boden aufgewachsen und heute an der heiligsten Stätte des Preußentums eingesegnet seid. Das birgt eine große Verpflichtung in sich; die Verpflichtung zur Wahrheit, zur innerlichen und äußerlichen Disziplin, zur Pflichterfüllung bis zum letzten. Vom wahren Preußentum ist der Begriff der Freiheit niemals zu trennen. Wahres Preußentum heißt Synthese zwischen Bindung und Freiheit, zwischen Stolz auf das Eigene und Verständnis für andere. Nur in dieser Synthese liegt die Aufgabe des Preußentums, liegt der preußische Traum.“
Der Verzicht auf Preußen bringt offenbar nichts Neues, sondern nur Leere, Kälte und Bezuglosigkeit: Die Attrappe des Berliner Stadtschlosses. 1993 symbolisierte sie für wenige Monate den Traum von der Rückkehr zu sich selbst - und machte gleichzeitig den Verlust mit Händen greifbar |
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