|
Wilhelm II. kostete der vor 90 Jahren begonnene Erste Weltkrieg zwar im Gegensatz zu vielen anderen nicht das Leben, aber den Thron. Der Tag nach der eigenmächtigen Bekanntgabe seines und seines ältesten Sohnes Thronversicht durch den Reichskanzler sowie der Ausrufung der Republik, der 10. November 1918, war ein klarer, kalter Herbsttag. Im Morgengrauen erreichte ein aus dem belgischen Kurort Spa kommender Sonderzug den kleinen Eisenbahnhaltepunkt Eijsden an der belgisch-niederländischen Grenze. Die Reisenden - Kaiser Wilhelm II. und sein Gefolge - baten um Asyl im Königreich der Niederlande. Nach 20stündiger Wartezeit hatte das eilig zusammengetretene niederländische Kabinett entschieden, dem deutschen Staatsoberhaupt als Flüchtling Gastrecht in den Niederlanden zu gewähren. Wilhelm II. hatte Deutschland schon am 29. Oktober verlassen und war ins Hauptquartier des kaiserlichen Heeres nach Spa gefahren. Dort hatten ihn am 9. November die Nachrichten vom Revolutionsgeschehen in Berlin erreicht, dort hatte er von der durch Max von Baden eigenmächtig verkündeten Abdankung erfahren, und dort, in Spa, war dann im Laufe des Tages auch der Gedanke an eine Flucht ins neutrale Ausland aufgekommen, wobei die im Weltkrieg neutral gebliebenen Niederlande, deren Grenze nur 50 Kilometer von Spa entfernt lag, als naheliegendster Asylort erschienen. Es war Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gewesen, der den sich heftig sträubenden Monarchen schließlich dazu überreden konnte, den Gang ins Exil anzutreten. Hindenburg fürchtete damals, der Kaiser könne in die Hände aufständischer Truppenteile geraten - das schlimme Schicksal des russischen Zaren und seiner Familie lag damals nur ein halbes Jahr zurück.
Die erste Station des kaiserlichen Exils war Schloß Amerongen. Dessen Besitzer, Graf Bentinck, gehörte zu einem altholländischen Adelsgeschlecht und war bereits 1909, anläßlich eines Staatsbesuches Wilhelms II. in den Niederlanden, Gastgeber des Kaisers gewesen. Wilhelm fühlte sich - den Umständen entsprechend - wohl in Amerongen; das protestantisch-konservative Milieu der zur Provinz Utrecht gehörenden dortigen Adelswelt entsprach ganz seinem eigenen Geschmack. Zudem bekundeten die Angehörigen der niederländischen Aristokratie, unter Einschluß des Königshauses der Oranier, einmütige Solidarität mit ihrem hohen Gast, als Frankreich und Großbritannien Anfang 1920 darauf drängten, den Kaiser zum Zweck einer (bereits vorher feststehenden) Aburteilung als Kriegsverbrecher an ein Sondertribunal auszuliefern. Obwohl die alliierten Siegermächte die niederländische Regierung hart bedrängten - zeitweise erwog man die Nichtzulassung der Niederlande zum Völkerbund sowie den Abbruch der diplomatischen Beziehungen als Sanktionsmaßnahmen -, blieb die Regierung in Den Haag standfest und gewährte dem gestürzten Herrscher weiterhin Asyl.
Mitte 1920 verlegte Wilhelm II. seinen Aufenthaltsort von Amerongen nach Doorn, einem nicht übermäßig großen, gleichfalls in der Provinz Utrecht gelegenen Landsitz, den der Kaiser im August 1919 käuflich erworben hatte. Hier verlebte der exilierte Monarch die ihm noch verbleibenden 21 Jahre seines Lebens, dessen Rhythmus fortan in weitgehender Einförmigkeit verlief. Der Tagesablauf gestaltete sich nach einem genau festgelegten Plan, dessen Aussehen sich über die Jahrzehnte hinweg kaum veränderte. Sigurd von Ilsemann, ab Sommer 1921 als Adjutant eine Art Privatsekretär und Berater Wilhelms II., vermittelt in seinen zweibändigen Aufzeichnungen "Der Kaiser in Holland" (1967/68) das wohl geschlossenste Bild des kaiserlichen Alltags im Doorner Exil. Morgenspaziergang und Frühstück, Andacht, Gartenarbeit und "Zeitungsvortrag" füllten den Vormittag aus, Lektüre, Korrespondenz, Abendspaziergang und - nach der übrigens zumeist sehr bescheidenen Tafel - stundenlange Gespräche im "Rauchzimmer" bildeten den Gegenstand des nachmittäglichen und abendlichen Zeitvertreibs. Auswärtige Besucher, die der Kaiser häufig empfing, haben die Monotonie solcher Lebensführung deutlich empfunden - am eindringlichsten vielleicht der Schriftsteller Reinhold Schneider, der 1933 sein aus royalistischer Perspektive geschriebenes Buch "Die Hohenzollern. Tragik und Königtum" vorgelegt hatte und im April 1935 auf kaiserliche Einladung in Doorn weilte: "Am Abend", so berichtete Schneider 1954 in der Rückschau, "trug er [Wilhelm II.] Generalsuniform: er wolle mir, sagte er nach Tisch im Nebenzimmer, aus meinem Buche vorlesen. Er wählte das Kapitel, das Friedrich den Großen in Rheinsberg zu schildern sucht: an den Wänden [des Lesezimmers] hingen Pènes Bilder der Freunde; der Vorlesende wies leicht auf sie hin, wenn ihr Name fiel, als redete er sie an ... Die alten Generale waren froh, sich dieses Mal nicht anstrengen zu müssen; ihre weißen Mittelscheitel nickten über herabsinkenden Augenlidern leise vornüber. Der Kaiser las leidenschaftlich-theatralisch; wenn ihm ein Ausdruck zu schwach war, steigerte er ihn oder er führte einen Satz weiter ... Dann sank das Gespräch in kleine Dinge von Menschen, Familien ab. Ich begriff die tödliche Monotonie dieser Abende, Wochen, Monate, Jahre. Er erhob sich; ich sah noch einmal in die gleichsam ausgeweinten Augen; sie erschütterten, weil sie keinen Ausdruck mehr hatten ... Die alten Herren ermunterten sich; sie ließen Bier und Schnäpse kommen und füllten mir zum Abschied die Taschen mit Zigarren."
Geradezu groteske Formen nahm bei alledem die vielberufene Lieblingstätigkeit des Exil-Monarchen an - das sich zur Manie steigernde Hobby des Holzhackens. "Bis heute", notierte Sigurd von Ilsemann am 26. Juni 1919, ein halbes Jahr nach der Übersiedlung Wilhelms II. ins Exil, "wurden bereits 4.824 Bäume gesägt. Kürzlich sägten wir an einem Morgen 88 Stämme. Der Kaiser meinte: ‚Durch das Holzsägen bin ich wenigstens noch für etwas nützlich ". Und am 5. Dezember 1919: "Der Kaiser sägte heute seinen 13.000. Baum". Nach Ankauf einer Motorsäge nahmen die diesbezüglichen Aktivitäten Wilhelms II. besorgniserregende Dimensionen an: Der Baumbestand im Doorner Park schrumpfte dramatisch, und die durch motorisiertes kaiserliches Holzsägen geschlagenen Lücken ließen sich trotz intensiver Aufforstungsmaßnahmen nur bedingt wieder schließen.
Unterbrochen wurde diese Monotonie des Doorner Alltagslebens durch eine Reihe von Geschehnissen und Aktivitäten, die den Exiljahren des gestürzten Monarchen überhaupt erst eine historische Relevanz verliehen. Da waren zum einen die familiären Großereignisse im Haus Hohenzollern: Geburten und Geburtstage, Hochzeiten, Todesfälle und Jubiläen. Dreimal noch war es Wilhelm II. in seinem niederländischen Exil vergönnt, "runde" Geburtstage zu feiern: den 60. 1919, sechs Wochen nach seinem Sturz, in müder Verfassung und resignativer Stimmung; den 70. 1929, mit - relativ - großem Aufwand und Empfang zahlreicher Gratulanten aus dem Reich, sowie schließlich - nun schon in der NS-Zeit - den 80. 1939. Unter größter Anteilnahme aller Bevölkerungsschichten erfolgte im April 1921 die Beisetzung der Kaiserin Auguste Viktoria. Die populäre Ehefrau des Monarchen war in Haus Doorn gestorben, ihre sterblichen Überreste waren dort aufgebahrt und danach per Eisenbahn zur Beisetzung nach Potsdam überführt worden. Dort begleiteten etwa 200.000 Menschen den Trauerzug - eine eindrucksvolle und eindeutige Manifestation für das entthronte Kaiserhaus. Die Wiederverheiratung Wilhelms wiederum - im November 1922, kaum zwei Jahre nach dem Tod seiner ersten Frau, ehelichte er Hermine, Prinzessin von Schönaich-Carolath, geborene Reuß - war innerhalb der Familie wie auch in der monarchietreuen Öffentlichkeit nicht unumstritten und wurde im kleinen Rahmen begangen.
Abwechslung in die Eintönigkeit des Exilalltags brachten darüber hinaus vor allem das schriftstellerische Engagement sowie die kulturgeschichtlichen Interessen beziehungsweise Forschungen des Kaisers. Schon in den Jahren seiner Regentschaft hatte Wilhelm II. eine Vorliebe für ethnologische und archäologische Feldforschung gehegt. 1911 hatte er auf Korfu eigenhändig an Ausgrabungen antiker Tempelanlagen teilgenommen, hatte sich - als Vorsitzender der Deutschen Orientgesellschaft - für die Erforschung der Kulturen des Alten Orients eingesetzt und rege Kontakte zu führenden Gelehrten aus den entsprechenden Fachdisziplinen gepflegt. Nun, in Doorn, hatte er Zeit, seinen religionswissenschaftlichen und kulturhistorischen Interessen nachzugehen. Es erschienen - neben den beiden Memoirenbänden "Ereignisse und Gestalten" (1922) und "Aus meinem Leben" (1927) - zahlreiche Bücher unter seinem Namen, so "Erinnerungen an Korfu" (1924), "Meine Vorfahren" (1929), "Das Wesen der Kultur" (1931), "Die chinesische Monade" (1934), "Studien zur Gorgo" (1936), "Das Königtum im alten Mesopotamien" (1938), "Ursprung und Anwendung des Baldachins" (1939) und anderes mehr. Einen institutionellen Rahmen für derartige Unternehmungen bildete die von Wilhelm II. begründete "Doorner Arbeitsgemeinschaft", die zwischen 1927 und 1938 in Form von Jahrestagungen religionshistorische, ethnologische und allgemein kulturwissenschaftliche Problemstellungen von teilweise allerdings etwas verschrobener Thematik diskutierte. Die jährlich stattfindenden Zusammenkünfte dauerten in der Regel zwei bis vier Tage. Ab 1933 hielt Wilhelm selbst den Eröffnungsvortrag über einen Sachverhalt, der im Vorjahr gemeinsam festgelegt worden war. Zu den regelmäßigen Teilnehmern, darunter auch Wissenschaftler der niederländischen Universitäten Utrecht und Leiden, zählten durchwegs anerkannte Repräsentanten ihrer Fächer. Der intellektuelle Mentor und Mittelpunkt dieser Doorner Diskussionszirkel war Leo Frobenius, Gründer und Leiter des "Instituts für Kulturmorphologie" in Frankfurt am Main, den der Kaiser 1912 kennengelernt hatte. Wilhelm war von seinen Afrikaforschungen begeistert, und Frobenius seinerseits tat bis zu seinem Tod 1938 alles, um den monarchischen Gedanken bei Wilhelm II. und dessen Anspruch auf Wiedererlangung des Thrones kulturanthropologisch und geschichtsphilosophisch zu untermauern.
Denn der gestürzte Monarch hatte seine Restaurations- und Rückkehrhoffnungen keineswegs aufgegeben und träumte bis zuletzt von einer triumphalen Reinthronisation. Man kann sogar sagen, daß die Wiedereinführung der Hohenzollernmonarchie sein zentrales, ja ausschließliches politisches Anliegen in den Jahren nach 1918 gewesen ist. Diesem Ziel dienten seine rege Korrespondenz und Kontaktpflege mit zahlreichen Persönlichkeiten, Parteien, vaterländischen Verbänden und Wehrvereinigungen im Reich, vor allem mit dem Nationalverband Deutscher Offiziere, dem Stahlhelm und der Deutschnationalen Volkspartei. In den Niederlanden selbst war dem Kaiser jede politische Betätigung verboten. Eine Rückkehr nach Deutschland als Privatmann hätte ihm jedoch grundsätzlich offen gestanden, denn die Weimarer Republik offenbarte ein hohes Maß an Konzilianz und Entgegenkommen im Umgang mit dem entthronten Kaiserhaus - nicht nur in vermögensrechtlichen Fragen. Dem Kronprinzen hatte Reichskanzler Gustav Stresemann schon 1923 die Rückkehr nach Deutschland ermöglicht. Auch dem Kaiser selbst wurde 1926 Wohnrecht im Schloß Homburg vor der Höhe eingeräumt, eine Integration in die demokratische Staatlichkeit und deren veränderte gesellschaftliche Verhältnisse wäre mithin durchaus möglich gewesen. Doch Wilhelm II. war zu einer solchen Integrationsleistung weder fähig noch willens. Er wollte nur als Kaiser nach Deutschland kommen - und entzog gerade dadurch allen Restaurationsbestrebungen im Reich ihre reale Grundlage. Wenn überhaupt, dann war eine Monarchie in Deutschland nach 1918 nämlich nur auf parlamentarischer Grundlage, etwa nach britischem Vorbild, denkbar. Die noch im Kaiserreich durchgeführte Verfassungsreform vom Oktober 1918 bot dazu einen möglichen Anknüpfungspunkt. Wilhelm indes ließ in allen seinen Doorner Verlautbarungen nicht die geringste Akzeptanz demokratisch gesinnter Politiker erkennen. Er erging sich statt dessen in ungebrochener Geringschätzung des parlamentarischen Systems und offenbarte eine geradezu eklatante Unfähigkeit, durch eine zumindest partielle Bejahung moderner Politikvorstellungen auch nicht-konservative Bevölkerungsschichten vom zweifellos vorhandenen überparteilichen Wert der monarchischen Staatsform zu überzeugen. Andererseits war er wiederum auch nicht bereit, seinen Thronanspruch zugunsten jüngerer, auf eine größere Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung stoßender Mitglieder seines Hauses hintanzustellen. Eifersüchtig wachte er darüber, daß niemand ihm seine Prätendentenstellung streitig machte. Vor allem Kronprinz Wilhelm war im Laufe der Jahre zu einer bekannten Persönlichkeit im öffentlichen Leben der Weimarer Republik geworden. Als 1932 eine Bewerbung des Kronprinzen für das Amt des Reichspräsidenten als Nachfolger Hindenburgs im Gespräch war, erzwang Wilhelm II. von seinem ältesten Sohn den Verzicht auf die Kandidatur. Auch später hat es bezüglich des Thronanspruchs immer wieder starke Rivalitätsempfindungen zwischen Vater und Sohn gegeben.
Wilhelm II. im Exil
1918 9. November: Reichskanzler Max Prinz von Baden verkündet eigenmächtig die Abdankung des Kaisers und des Kronprinzen. 10. November: Wilhelm II. geht ins Exil. Die niederländische Regierung gestattet ihm den Aufenthalt unter der Bedingung, daß er auf politische Betätigung verzichtet.
28. November: Wilhelm II. unterzeichnet die Abdankungsurkunde. 1919 Wilhelm II. kauft Haus Doorn in der Provinz Utrecht. 1920 Die Niederlande lehnen die Auslieferungsforderungen der Entente ab. 1921 11. April: Die erste Ehefrau Wilhelms II., Auguste Viktoria, stirbt in Haus Doorn. Ihr Leichnam wird nach Potsdam überführt. 1922 5. November: Wilhelm II. heiratet Hermine von Reuß ältere Linie, verwitwete Prinzessin Schönaich-Carolath in Haus Doorn. 1941 4. Juni: Wilhelm II. stirbt im niederländischen Exil in Haus Doorn. Auf Geheiß Hitlers wird er bei seinem Wohnsitz im Mausoleum Doorn mit militärischen Ehren beigesetzt.
Wilhelm II. im Exil: Mit dem als Regent nie getragenen, erst in den Niederlanden zugelegten Kinnbart |
|