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Mit „Zylinderputzer“ hörte es im Jahr 2000 auf. „Zylinderputzer“ sagte man verbreitet in Ostdeutschland scherzhaft für eine Pflanze, die Botaniker Typha latifolia“ nennen und die auch unter dem Namen „Breiter Rohrkolben“ bekannt ist. Nachzulesen in Band 6, Lieferung 8, des Preußischen Wörterbuchs (Wachholtz Verlag, Neumünster, 20,50 A je Lieferung). Nun war man nach langer und mühevoller Arbeit beim Buchstaben Z angelangt, was jedoch noch lange nicht bedeutet, daß die Arbeit jetzt beendet ist. - Im Jahr 2001 begann man aufs neue … beim Buchstaben A. A wie Aal oder auch Aasbiest. Warum nun diese für Laien ungewöhnliche Reihenfolge?
Ursache ist, wie der Herausgeber des Preußischen Wörterbuchs, Dr. Reinhard Goltz, schmunzelnd bekundet, „der abgerissene Fingernagel“. Bei dem Stichwort „Fingernagel“ war im Jahr 1944 die Arbeit von Prof. Walther Ziesemer (1882-1951) unterbrochen worden. Doch der Reihe nach.
Bereits im Jahre 1759 gab es ein Mundartwörterbuch, das sich mit dem geographischen Raum Preußen befaßte, das „Idioticon Prussicum“ von Johann George Bock (1698-1762). Bock, der ord. Professor für Poesie an der Königsberger Albertina war, fand Anregungen durch das schon 1743 erschienene „Hamburgische Idioticon“; erstmals aber lenkte er das Augenmerk der Sprachforscher auf den Osten des niederdeutschen Sprachraums. Ziel war es, einen Beitrag zu einem allgemeinen deutschen Wörterbuch zu leisten, „von dem er sich“, wie Prof. Erhard Riemann ausführt, „großen Nutzen für die Weiterbildung der deutschen Schriftsprache und ihrer Ausdrucksmöglichkeiten versprach“. Aus dem Gedächtnis zeichnete Bock Ausdrücke auf, die er für typisch ostpreußisch hielt. Rund 600 Stichwörter waren es immerhin in wenigen Tagen. Nicht zuletzt wollte Bock damit auch Anregungen geben, weitere Ausdrücke zu sammeln.
26 Jahre später erschien denn auch ein weiteres Mundartwörterbuch, das „Preußische Wörterbuch“ von George Ernst Sigismund Hennig (1749-1809), der Pfarrer in Tharau und an der Löbenichtschen Kirche in Königsberg war. 1801 wurde Hennig zum Professor ernannt. Herausgeber des Wörterbuchs war die Königliche Deutsche Gesellschaft zu Königsberg, die 1741 von Coelestin Flottwell (1711-1759) auf Anraten Gottscheds gegründet worden war, um die deutsche Sprache von fremden (französischen) Einflüssen zu reinigen. Hennig wurde 1788 ihr Präsident. Sein Wörterbuch umfaßte immerhin schon rund 3000 Stichwörter, von denen die meisten, wie Riemann anmerkt, allerdings nicht zur mundartlichen Wortschicht gehören. Das mag daran gelegen haben, daß Hennigs Gewährsleute und Mitarbeiter meist Gelehrte und (oder) Angehörige der oberen sozialen Schicht waren, nicht vom Lande stammten und die niederpreußische Mundart kaum beherrschten. „Aber“, so Riemann, „sie haben doch auch heute noch ihren Wert, weil sie eben zu ihrer Zeit einen für unsere heutigen Begriffe recht altertümlichen Wortbestand aufnehmen konnten.
Gut hundert Jahre nach Hennig kam dann ein neues „Preußisches Wörterbuch“ heraus. 1882-84 erschien in zwei Bänden die Sammlung des Königsberger Rektors der Altstädtischen Mädchenschule Hermann Karl Frischbier (1823-1891). Der Sohn eines Maurers war vertraut mit der niederpreußischen Mundart und mit den Sitten des Volkes. Schon 1864 hatte er einen Band „Preußische Sprichwörter und volksthümliche Redensarten“ veröffentlicht; 1867 folgte eine Sammlung „Preußische Volksreime und Volksspiele“. Frischbier standen viele Helfer zur Seite, vor allem Kollegen aus dem Lehrerkreis, aber er wertete auch handschriftliche und gedruckte Quellen aus.
Als dann im Jahr 1911 die Preußische Akademie der Wissenschaften Walther Ziesemer beauftragte, ein Mundartwörterbuch für die beiden Provinzen Ost- und Westpreußen zu schaffen, war es dem Herausgeber ein besonderes Anliegen, „die Kontinuität deutscher Sprache im Nordosten von ihren Anfängen in der Ordenszeit bis in die Gegenwart aufzuzeigen“ (Riemann). Ziesemer, 1918 ao. Professor und 1922 Ordinarius für deutsche Sprache und Literatur in Königsberg, bemühte sich, „ein möglichst engmaschiges Aufnahmenetz über das ganze Untersuchungsgebiet zu legen“, betonte Riemann, der bereits während seines Studiums mit Ziesemer am Preußischen Wörterbuch zusammenarbeitete, die Fragebogen verzettelte und Wortkarten zeichnete.
Wichtig war es, die geographische Verbreitung der einzelnen Mundartwörter zu erkunden, dazu benötigte man eine Vielzahl von Mitarbeitern. Unter den Lehrern auf dem Lande, die meist selbst aus Bauernfamilien stammten, fand er diese sachkundigen Helfer und baute sich schließlich einen festen Stamm von 350 bis 400 Mitarbeitern auf. Fragebogen wurden verschickt, die dann von Studenten, die sich ebenfalls mit Mundart beschäftigten, „verzettelt“ wurden. - Jedes Wort wurde auf Zettel übertragen und alphabetisch eingeordnet. - Andere Mitarbeiter werteten die heimatkundliche Literatur und die Bestände der preußischen Archive aus.
„Ziesemer“, so Riemann, „hatte die Vorstellung, daß ein Wörterbuch kein totes Glossar, keine trockene Aneinanderreihung von Wörtern sein sollte. Er wollte die Volkssprache in all ihrem Reichtum zur Darstellung bringen. Jedes Wort sollte in seinen vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten und Bedeutungsschattierungen gezeigt werden, in Redensarten und Sprichwörtern, im Zusammenhang mit Volksglauben und Brauchtum. In jedem Wort sollte sich das Denken und Fühlen des Volkes widerspiegeln, sein Humor, seine Einstellung zum Leben. Das Wörterbuch sollte letztlich ein Abbild des ganzen Volkstums dieser Landschaft sein ...“
Von 1935 bis 1939 dann erschien der erste Band mit 13 Lieferungen im Königsberger Verlag Gräfe u. Unzer; bis zum Sommer 1944 folgten neun weitere Lieferungen. Man war bis zum Stichwort „Fingernagel“ gekommen. Um das handschriftliche Wörterbucharchiv - immerhin rund 1 Million Zettel - vor der heranrückenden Kriegsfurie zu retten, wurde es in 122 Kisten verpackt und auf ein Gut bei Prenzlau in der Uckermark, eine Ausweichstelle der Preußischen Akademie, verlagert. Seitdem gilt es als verschollen ...
Ein Jahr nach dem Tod von Walther Ziesemer entschloß sich der ehemalige Assistent am Preußischen Wörterbuch und nunmehrige Leiter des Deutschen Wörterbuchkartells und des Deutschen Sprachatlas, Walther Mitzka (1888-1976), das Preußische Wörterbuch neu erstehen zu lassen. 1952 betraute er mit dieser mühevollen Aufgabe den engsten Mitarbeiter Ziesemers, Erhard Riemann (1907-1981). Unter erschwerten Bedingungen mußte Riemann nahezu bei Null beginnen. Die gesamten Vorarbeiten mußten neu geleistet werden, Fragebogen mußten erstellt werden, ebenso mußte die Literatur durchgearbeitet werden. Weitaus schwieriger war es jedoch, die Menschen zu finden, die noch Mundart sprachen. Sie waren aus ihrer Heimat vertrieben worden und in alle Welt zerstreut. Viele waren gestorben.
Riemann ließ nicht locker. Auf Veranstaltungen der freundschaftlichen Gruppen, durch Veröffentlichungen nicht zuletzt auch im warb er eindringlich für sein Anliegen. Schließlich war es eine wissenschaftliche Aufgabe von größter Wichtigkeit: „Der Reichtum deutscher Sprache und Mundart ist der gültigste Beweis für das Deutschtum Ost- und Westpreußens und für die Verwurzelung deutscher Kultur in diesem Raum“, so Riemann damals.
Als die Deutsche Forschungsgemeinschaft sich 1953 bereit erklärte, das Vorhaben finanziell zu unterstützen, konnte die planmäßige Sammelarbeit beginnen. Schon 1954 zählte der Mitarbeiterstamm 376 aktive Helfer, von denen 47 alte Mitarbeiter waren. Im Laufe des ersten Arbeitsjahres wurden 50 000 Wortzettel einge-ordnet, 1957 umfaßte das Archiv schon wieder 240 000 Zettel. Im gleichen Jahr wurde die Geschäftstelle des Wörterbuchs, die sich zunächst in Riemanns Privaträumen befand, an die Kieler Universität verlegt. Dort befindet sie sich noch heute. 1974 dann erschien der erste Band mit dem Stichwort „Fibel“.
Das Preußische Wörterbuch ist eine der wenigen Unternehmungen, die über Jahrzehnte öffentlich gefördert werden. Seit über 20 Jahren hat die Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz diese Aufgabe übernommen. Nach dem Tod von Erhard Riemann war zunächst Ulrich Tolksdorf verantwortlicher Herausgeber des Wörterbuchs. 1993 übernahm Reinhard Goltz diese Aufgabe. Gemeinsam mit Thomas Braun und Martin Schröder bearbeitet er die Stichworte, wobei man meist auf die von Riemann erbrachte Sammlung zurückgreifen kann. Nur wenige kleinere Nacherhebungen waren nötig, so Goltz zum . In zwei Jahren hofft man die Arbeit zu einem Abschluß gebracht zu haben. Eine Arbeit, die keineswegs „trocken“ ist, wie Erhard Riemann einmal sagte, schließlich gelte es, aufzuzeigen, „was man mit einem Wort alles ausdrücken kann und wie man dem, was man sagen will, eine besondere Note geben kann“. Er erkannte, daß „hinter den nüchternen Stahlschränken und den grauen Karteikästen unserer Wörterbuch-Forschungsstelle das Herz unserer Heimatlandschaft und ihrer Menschen schlägt“.
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