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Deutschland läßt sich über seine Fernsehwerbung definieren. Es geht um eine bekannte Kaffeemarke. Ein Motorboot legt an einer Yacht an. Eine junge Dame nimmt auf dem Sonnendeck Platz, von Verehrern eingerahmt. Sie schlürft. Einer fragt sie, was sie sich wünsche. Und sie sagt, daß alles so bleiben soll, wie es ist.
Der Politologe Hans Jörg Hennecke bezeichnet in seinem gerade erschienenen Buch "Die dritte Republik" deutsche Antworten wie jene der Dame als "isolationistische Ernstfallverleugnung". Tatsächlich - niemand will, daß sich (für ihn) etwas verändert, komme, was wolle. So außerirdisch dieses Verlangen auch anmutet, es war und es ist ein deutsches Grundbefinden, zudem ein Anrecht-Anspruch - Wellness-Standard, um ein Wort auf der Höhe unserer Sprachzeit zu wählen.
Seit der Machtspaltung in der Hauptregierungspartei wissen wir, daß der Reformimpetus gebrochen ist. Seit zwei Wochen, daß über die Ersatzreformidee der "Innovationen " und Eliteschöpfung niemand mehr ein Wort verliert. Und wir wissen seit Ende letzter Woche, daß der herbeigesehnte Reformersatz, mit dessen Hilfe man alles Alte zu retten wähnt, der Geschäftsklimaindex der Konjunkturerholung, wieder sinkt. Sogar die Gründe kennen wir: Die Reformen waren nichts als Reparaturen am alten Strukturmodell, die Steuersenkung hat im Saldo nichts gebracht, und der Euro ist so schädlich stark, weil der Dollar im Kern nicht gesund ist. Das ist der Ernstfall.
Seine Verleugnung indes ist viel älter, zählt nach Jahrzehnten. Wer die deutsche Misere ausloten will, muß sich der Bundesarchäologie widmen. Auf der 50 Jahre alten Sohle wird er einen Mentalitäts-Duden finden, in dem folgende Direktiven und Sinnsprüche rot und schwarz eingetragen sind: Konsens; gerechte Verteilung und Wohlstand, "damit die Deutschen nicht wieder böse werden"; Frieden der ganzen Welt von deutschem Boden aus; wie man das Übel der Veränderungsstörungen meidet. Dann ein Wort des Dichters Jean Giraudoux: "Wir wollen ewige Sicherheit. Wir wünschen uns Jahrhunderte der Sicherheit, um in Sicherheit bis ans Ende der Welt zu gehen und zum letzten Gericht." Schließlich: "Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß sich alles verändert." Dazu klein gedruckt: "Wegen Doppeldeutigkeit ist dieses Aperçu aus Lampedusas ‚Leopard in der nächsten Dudenausgabe zu streichen."
Blättern wir in späteren Ausgaben des Duden, finden wir Neueinträge, zum Beispiel: Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, Gleichheit nach innen, Entspannung nach außen, Reformen im Sinne erhöhter Ausgaben und Beamtenvermehrung; dritte Welt und Emanzipation der Frau; Bildung für alle, aber doch so, daß alle mitkommen. Man braucht es nicht zu erklären: Wir befinden uns jetzt in der dialektischen Phase der Bonner Republik der frühen 70er Jahre, wir lesen das Brandt-Wort "Compassion", Welt-Mitleiden im Sinne der Sozialistischen Internationale und deutscher Vergangenheitsbewältigung.
Wenn wir nun aus dem Schacht der deutschen Mentalität in die Zeit hinaustreten, in der Hans Jörg Hennecke die "dritte Republik" - nach der Weimarer und der Bonner - gekommen sieht, finden wir im Duden alle Wörter wieder, die uns in den bisherigen Ausgaben begegnet sind. Die Deutschen, wenn auch vereinigt, sind sich sehr gleich geblieben. Am kostenschweren Duktus ihrer Lebensbegriffe hat sich nichts geändert, so anders auch Umstände und Umwelt geworden sind. Was heißt dann aber "dritte Republik", wenn Mentalität und als "Rechte" einklagbare Ansprüche immer noch dieselben sind?
Zum Ärger gesellt sich Erregung vor allem über das früher hoch gepriesene Wort Reform. Aus dem Synonym für Wohltaten ist organisierte Konfiskation, Kürzung der Renten, Gesundheitsleistungen und Subventionen geworden - eiskalte Kostenjustierung. Die Demoskopie signalisiert Entfremdung. In ihrem Spiegel erscheint die "dritte Republik" als Wegelagerer, als Beutelschneider, der die soziale Philosophie der alten Republik, das mit Moral verbrämte soziale Verteilungswesen, mit kaltschnäuzigem Fiskal-Pragmatismus außer Kraft setzt, ja geradezu unterpflügt.
Jedem Bürger schwant, daß der Staat an Haupt und Gliedern erneuert werden muß, wenn er den Monstern des 21. Jahrhunderts widerstehen soll. Die Globalisierung nach Freigabe des Kapitalverkehrs, Terrorismus und Umweltkatastrophen, die nach Analyse des Pentagon mittelalterlich anmutende Unruhen und Kriege hervorrufen können - dieses wilde "rouge et noir" läßt sich mit den Verheißungen der Duden deutscher Sorgenfreiheit nicht beantworten. Die Herausforderung verlangt eine Leitidee, wie zur Zeit der preußischen Reformen, eine Leitkultur, ein schöpferisches Wagnis.
Das aber bietet die "dritte Republik" mitnichten. Die Arretierung Deutschlands beruht auf einer tiefen mentalen Krise. Während der Zeiger der Weltzeituhr unerbittlich seine Kreise zieht, dreht die politische Klasse ihre archaischen Walzer, linksherum, rechtsherum, traurige Winke verteilend wie einstmals blankes Geld. Die im Frieden Geborenen regieren zum ersten Mal die Republik, biographisch früh ermüdet. Unter tausend Watt und Kameras im Berliner Spiegelsaal müpfen sie einmal gegen die USA auf, einmal gegen die EU und brechen die Erneuerungsreformen ab, weil das Parteimilieu nicht mitzieht und das Charisma der Idee sie nie berührt hat. Innerlich, so möchte man glauben, haben sie am Land den "Spaß" verloren - geliebt haben sie es nie.
Das legt sich wie ein Tief über Deutschland. Der Ironie bleibt nur des Ökonomen Schumpeters Bonmot, von Hennecke zitiert: Es vergleicht den demokratischen Politiker mit dem Reiter, der vom Versuch, sich im Sattel zu halten, so in Anspruch genommen wird, daß er keinen Plan für seinen Ritt aufstellen kann. Die Frage ist: Wo endet dieser deutsche Ritt?
Dr. Herbert Kremp ist seit rund 35 Jahren für Die Welt tätig - unter anderem als Chefredakteur, Mitherausgeber und Chefkorrespondent in Peking und Brüssel.
(Aus: Welt am Sonntag) |
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