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Kaum einen Zeitraum haben Historiker und Sozialwissenschaftler intensiver untersucht als den des Nationalsozialismus. Sie haben das Verhältnis von Juristen, Medizinern und Vertretern anderer Wissenschaften in Augenschein genommen und sind zu erschreckenden Ergebnissen gekommen. Selbst die Kirche konnte sich nachhaltig er Kritik nicht entziehen.
Christian Tilitzki von der Freien Universität Berlin hat nun mit seiner Dissertation mit dem Titel "Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich" ein zweibändiges Werk vorgelegt, das die Rolle der philosophischen Fakultäten zur Zeit der Weimarer Republik und des National-
sozialismus beleuchtet. Die bekannten Kontroversen über die umstrittenen Denker Martin Heidegger und Ernst Nolte machen deutlich: Die Erfahrung des "Dritten Reiches" ist oft die Linse, durch die Erkenntnisse geisteswissenschaftlicher Forschung in Deutschland betrachtet werden.
Heideggers 1927 veröffentlichtes Werk "Sein und Zeit" machten den Philosophen mit einem Schlag bekannt. In den dreißiger Jahren geriet er in den Bannkreis des autoritären Führer-Gefolgschafts-Den-
kens, das im Nationalsozialismus seine extreme Ausprägung fand. Er stellte sich als Rektor der Freiburger Universität in den Dienst der nationalsozialistischen Bewegung. Am 27. Mai 1933 hielt er seine Rektoratsrede, in der er die "Herrlichkeit" und "Größe" des neuen geschichtlichen "Aufbruchs" rühmte. Im Frühjahr 1934, im Jahr des sogenannten "Röhm-Putsches", der den terroristischen Kern des Nationalsozialismus öffentlich machte, legte er sein Rektorat nieder und zog sich in die innere Emigration zurück. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte sein Werk eine internationale Renaissance.
Heideggers Affinität zum frühen Nationalsozialismus überschattet bis heute sein philosophisches Werk. In einem 1966 geführten und 1976 nach seinem Tod publizierten Spiegel-Interview wehrt er sich gegen den Vorwurf, ein Wegbereiter des Nationalsozialismus gewesen zu sein. Vielmehr, so Heidegger, habe er als Universitätsrektor Bücherverbrennungen verboten und sich für jüdische Wissenschaftler und politisch Andersdenkende eingesetzt: "Eines Tages wurde ich nach Karlsruhe gerufen, wo von mir der Minister verlangte, die Dekane der Juristischen und der Medizinischen Fakultät durch andere Kollegen zu ersetzen, die der Partei genehm wären. Ich habe dieses Ansinnen abgelehnt und meinen Rücktritt vom Rektorat erklärt, wenn der Minister auf seiner Forderung bestehe. Dies war der Fall. Das war im Februar 1934".
Mehr als ein achselzuckendes qui s excuse, s accuse haben Heidegger diese Rechtfertigungen in Deutschland kaum eingebracht. Auch das Bekanntwerden seiner Liebe zur jüdischen Totalitarismus-Forscherin Hannah Arendt hat eher zu einer Trivialisierung der publizistischen Betrachtung seines Werkes als zu einem posthumen Freispruch geführt.
Ein engagierter Verteidiger Martin Heideggers ist der Historiker Ernst Nolte, der 1992 eine Biographie Heideggers veröffentlichte. Er betonte die antikommunistische Haltung Heideggers, die angesichts der Virulenz des Bolschewismus nach 1917 nachvollziehbar sei. Mitte der achtziger Jahre steht Nolte selbst im Mittelpunkt einer Debatte, die weit über akademische Kreise hinausgeht. In seinem 1986 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienenen Artikel "Vergangenheit, die nicht vergehen will" konstatiert er zwischen dem Archipel Gulag und Auschwitz einen "kausalen Nexus" und fragt: "War nicht der ‚Klassenmord der Bolschewiki das logische und faktische Prius des Rassenmords der Nationalsozialisten?"
Diese Frage rief den Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas auf den Plan, der Nolte in der Publikumspresse vorwarf, ein "Apologet" des Nationalsozialismus zu sein. Der Historikerstreit entbrannte. Viele Meinungsbildner - bis hin zum damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker - beteiligten sich daran. Nolte gilt in Deutschland seither als umstritten. Er selbst empfindet sich als Geächteten und erklärte kürzlich in einem Interview: "Es wäre nach meinem Dafürhalten die Pflicht des Deutschen Historikerverbandes gewesen, jedenfalls insoweit Stellung zu nehmen, als er das Recht auf die Vertretung auch abweichender Konzeptionen im Rahmen der Wissenschaft verteidigt hätte". Inter- essanterweise machten ausgerechnet italienische Marxisten mit Hinweis auf den Fall Nolte darauf aufmerksam, daß die geistige Freiheit Europas gefährdet sei.
Wenn die Diskussion um Heideggers Verhältnis zum Nationalsozialismus auch zahlreiche Untersuchungen anregte, die sich mit der Geschichte der Philosophie im "Dritten Reich" beschäftigten, fehlte es dennoch lange an einer entsprechenden Gesamtdarstellung. Christian Tilitzki stellt in seiner Schrift den Zeitraum zwischen 1918 und 1945 dar und untersucht Philosophie-Lehrstühle an über 20 Universitäten sowie zehn Technischen Hochschulen. Er erörtert die weltanschaulichen Positionen von fast 400 Philosophiedozenten, überwiegend zweiten oder dritten Ranges, die bisher von "Meisterdenkern" wie Heidegger überschattet wurden. Er kommt zu dem Schluß, daß die " heilsgeschichtlichen Phantasien von der weltgeschichtlichen Mission der Deutschen" auch auf die zeitgenössischen philosophischen Fakultäten übergegriffen hatten. Das philosophische Bekenntnis zum Nationalsozialismus sei vom Gros deutscher Denker als Beleg dafür verstanden worden, daß man sich auf der Höhe der Zeit befinde.
Tilitzkis Veröffentlichung ist ausführlich, ausgewogen und aktuell. Sie könnte ein Standardwerk werden. Zweitgutachter der Arbeit ist im übrigen Ernst Nolte, der - so Tilitzki in seiner Danksagung - die philosophischen Vorlesungen Martin Heideggers besucht hatte. Die Debatte um die Rolle der philosophischen Fakultäten im nationalsozialistischen Deutschland ist eröffnet. Arnd Klein-Zirbes
Christian Tilitzki: "Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich", Akademie-Verlag Berlin, Berlin 2002, geb., zwei Bände, 1.475 Seiten, 165 Euro |
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