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Die Saxen sind Bestien

 
     
 
Es ist eine folkloristische Binsenwahrheit, daß "die Sachsen" eine lebhafte Abneigung gegen "die Preußen" in sich tragen. Dieses tiefsitzende Vorurteil äußert sich heute in scherzhaften und ironischen Sentenzen, aber auch in ernstzunehmenden kulturgeographischen Empfindungen, welche durch die während der Wiedervereinigung stark gewachsenen Ost-West-Aversionen nicht verdrängt worden sind. Die Volkskunde lehrt uns, daß solche im Emotionalen verankerte Empfindungen weit in die Vergangenheit reichende Wurzeln haben, deren man sich oft gar nicht mehr bewußt ist.

Es ist das Verdienst Gerhard Kunzes, eines Juristen sächsischer Abkunft, eine solche Wurzel mit seziererischer historischer Gewissenhaftigkeit ans Tageslicht geholt zu haben. Die Erschießung
von sieben sächsischen Grenadieren am 6. Mai 1815 auf Befehl des preußischen Generalfeldmarschalls Blücher blieb über viele Jahrzehnte eine schwer verheilende Wunde im sächsisch-preußischen Verhältnis, das seit dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) ohnehin schwer belastet war. Was hatte zu dieser "unheimlichen Katastrophe" (Heinrich von Treitschke) geführt?

Nachdem Sachsen an der Seite Preußens 1806 auf den Schlachtfeldern bei Jena und Auerstedt durch Napoleon eine vernichtende Niederlage erlitten hatte, wurde es, durch den Frieden von Tilsit 1807 bestätigt, zum Königreich von Napoleons Gnaden. Kurfürst Friedrich August III. trat als König Friedrich August I. dem soeben erst von Napoleon konstruierten und beherrschten Rheinbund bei. In den folgenden Napoleonischen Kriegen kämpfte Sachsen verlustreich an der Seite Frankreichs. Als Napoleons Kriegsglück sich mit dem Rußlandfeldzug gewendet hatte und Russen und Preußen nach Sachsen drängten, flüchtete der König, das Land seinem Schicksal überlassend, und suchte Anschluß an die Alliierten. Da dies mißlang und Napoleon nach der Schlacht bei Lützen sich wieder in den Besitz Sachsens setzte, blieb der König nunmehr - teils gezwungenermaßen, teils mangels Entschlußkraft - Napoleon treu bis zum für ihn bitteren Ende, der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813.

Auch der Übertritt des größeren Teils der sächsischen Verbände auf die Seite der Alliierten während der Schlacht konnte nicht verhindern, daß Sachsen von diesen als Verlierer behandelt und der König gefangengenommen wurde. Die sächsischen Truppen nahmen unter preußischer Führung noch am weiteren Feldzug gegen Napoleon bis April 1814 teil. Danach wurden Landwehr und Freiwillige in die Heimat entlassen, das rund 14000 Mann starke Sächsische Korps jedoch in mehrfach wechselnde Quartiere (Aachen, Koblenz, Marburg, wieder Koblenz, Köln, schließlich Lüttich) geführt, da Preußen - sein altes Ziel der Annexion Sachsens vor Augen - die königstreuen Berufssoldaten nicht in Sachsen haben wollte. So war Sachsen und mit ihm seine Armee zum Spielball der Interessen der Siegermächte geworden, deren Ausgleich sie auf dem Wiener Kongreß (30. Oktober 1814 - 11. Juni 1815) suchten. Monatelang wurde zäh um Sachsens Zukunft gerungen. Während Preußen sich das gesamte Königreich einverleiben wollte, mochten Österreich und die süddeutschen Staaten nicht auf die Pufferwirkung eines verkleinerten Sachsens zwischen ihnen und Preußen verzichten. Je länger sich die Verhandlungen hinzogen, um so mehr wogten die Gerüchte über Annexion oder Teilung hin und her und verunsicherten die ohnehin schlechtgestimmten sächsischen Truppen fern der Heimat. Sie waren im Ungewissen über das Schicksal ihres Landes, ihres gefangenen Königs, an den sie sich mit ihrem Eid gebunden fühlten, und über ihr eigenes Schicksal. Denn während im Falle einer Teilung den Offizieren freigestellt werden sollte, ob sie in sächsischen Diensten bleiben oder in preußische Dienste treten wollten, sollten die Soldaten und Unteroffiziere schematisch nach ihren Geburtsorten geteilt und somit langjährige kameradschaftliche Bindungen zerrissen werden.

In dieser Situation bedurfte es nur des sprichwörtlichen Tropfens, der das Faß zum Überlaufen brachte. Dieser Tropfen war die Entscheidung Blüchers vom 2. Mai 1815, mit der vom preußischen König voreilig angeordneten Teilung der sächsischen Truppen bereits vor der Unterzeichnung des in Wien ausgehandelten Friedensvertrages zu beginnen, die erst am 18. Mai erfolgte. Die Sachsen empfanden es als eine nicht hinnehmbare Zumutung, sich der Teilung unterwerfen zu sollen, ohne zuvor vom König ihres Eides entbunden worden zu sein. So kam es nacheinander zu zwei Tumulten vor Blüchers Quartier, bei denen Hochrufe auf den sächsischen König ausgebracht, Säbel gezogen und schließlich - angeheizt durch unbedachtes Handeln preußischer Offiziere ("sächsische Hundsfötter") - Steine geworfen wurden, wobei einige Fenster zu Bruch gingen. Blücher flüchtete durch die Hintertür. Die Wache, ebenfalls Sachsen, verwehrte den Revoltierenden den Zutritt, und schließlich gelang den sächsischen Offizieren die Beruhigung der Soldaten. Zu Schaden kam niemand.

Der Verfasser geht der Vorgeschichte, den Ursachen und dem Anlaß, den verschiedensten Facetten dieses komplexen Geschehens, seiner Deutungs- und Wirkungsgeschichte anhand aller erreichbaren Primär- und Sekundärquellen gewissenhaft nach. Dabei scheut er auch Um- und Nebenwege nicht, was zur Abrundung des Gesamtbildes beiträgt, gelegentlich aber auch zu Lasten einer flüssigen Darstellung geht. Wohltuend ist die Bemühung um größtmögliche Objektivität, wobei dem Verfasser sympathischerweise sein sächsisches Herz abzuspüren ist.

So ist das Ergebnis der Untersuchung überzeugend: Einige Widerstandsexzesse sächsischer Soldaten im Rahmen eines gerechtfertigten Widerstands gegen die Zumutung des Eidesbruchs wurden mit einem Strafexzeß Blüchers beantwortet. Die Androhung der archaischen Militärstrafe der "Dezimation" (Erschießung jedes Zehnten) der beteiligten Bataillone, wenn sie nicht die "Rädelsführer" denunzierten, und die rasche Hinrichtung der sieben Soldaten können nur als exzessiv bezeichnet werden. Diese unangemessene Härte (weder militärrechtlich, noch völkerrechtlich war das preußische Vorgehen gerechtfertigt) wurzelte zum einen in der tiefen persönlichen Betroffenheit Blüchers. Der erfolgreiche greise Feldherr muß es als höchst ehrverletzend empfunden haben, vor einer Horde steinewerfender Soldaten heimlich durch die Hintertür geflohen zu sein. So mußte er den für ihn beschämenden Vorgang zu einem gefährlichen, gezielt organisierten Aufstand hochstilisieren. Die zitierten schriftlichen Selbstzeugnisse, denen auch der Titel des Buches entnommen ist (und die in stilistisch, grammatisch und orthographisch höchst mangelhaftem Deutsch abgefaßt sind), stützen diese Deutung.

Zum anderen stehen hinter dem preußischen Vorgehen möglicherweise auch taktische Überlegungen eines Teils der preußischen Heeresführung, insbesondere des Generalstabschefs Gneisenau. Er betrachtete das Sächsische Korps einerseits als einen Unsicherheitsfaktor beim bevorstehenden Feldzug gegen die Franzosen, andererseits als Truppenreserve, wenn das Kriegsglück den preußischen Truppen nicht günstig sein sollte. So könnte die vorzeitige Teilung auch eine gezielte Provokation gewesen sein, um die Sachsen als unzuverlässig erscheinen zu lassen und den preußisch gewordenen Teil der Sachsen vom Frankreichfeldzug fernzuhalten, was dann ja auch geschah.

Die Hinrichtung der sieben sächsischen Soldaten unmittelbar vor dem Friedensschluß zwischen Preußen und Sachsen hat deutschlandweit großes Aufsehen gefunden und Blücher unter starken Rechtfertigungszwang gestellt. Doch rasch fiel der Glanz des großen Sieges von Belle-Alliance über Napoleon am 18. Juni 1815 auf Blücher und überdeckte die häßlichen Ereignisse von Lüttich.

Ohne in die Tiefe gehende Detailstudien kann Geschichte nicht geschrieben werden. Sie bieten den Stoff, aus dem die Verallgemeinerungen gewonnen, bestätigt oder in Frage gestellt werden. Solche Verallgemeinerungen am Ende der Untersuchung zu benennen und zu vertiefen, hätte die Arbeit abgerundet. Die Vorgänge in Lüttich zeigen zum Beispiel exemplarisch, wie sehr sich im 19. Jahrhundert die deutschen Staaten als (unterschiedliche) Nationen empfanden. Auch nachdem man monatelang Seite an Seite gekämpft hatte, dachte man noch in den Kategorien von Freund und Feind. So war wohl die deutsche Einigung nur mit "Blut und Eisen" möglich.

Exemplarisch ist auch die politische Instrumentalisierung eines solch komplexen und schwer verobjektivierbaren Vorgangs. Während die einen behaupten, der Feigling Blücher habe sich vor den revoltierenden Soldaten im Schrank versteckt, behaupten die anderen, er sei nur mit größter Mühe davon abzuhalten gewesen, sich mit gezogenem Säbel den Soldaten entgegenzuwerfen und die Ordnung wieder herzustellen. Während den einen die hingerichteten Grenadiere die Köpfe einer meuternden Horde waren, die ihre gerechte Strafe erlitten, waren sie den anderen Märtyrer, die dahingemordet wurden, weil sie ihrem König zu Recht die Treue hielten.

Überraschend und vielleicht auch exemplarisch ist diese Treue der Truppen und der heimischen sächsischen Bevölkerung zu König Friedrich August I., der den Beinamen "der Gerechte" erhielt. Er war ein vorsichtiger, zögerlicher und wenig entschlußkräftiger Monarch, dessen Denken und Handeln an Gesetzen und Verträgen orientiert war. Vornehmlich seiner Politik ist die Niederlage Sachsens an der Seite Napoleons mit all ihren Folgen zuzurechnen. Und in dem ihm verbliebenen Rest-Sachsen hat er bis zu seinem Tode 1827 alles getan, um Sachsen eines der rückständigsten deutschen Länder bleiben zu lassen. All dies hat offenbar der Verehrung für ihn keinen Abbruch getan, und Dresden ziert noch heute sein Denkmal.

Keine künftige Geschichte Sachsens oder Preußens wird an Gerhard Kunzes sorgfältiger Geschichtsstudie vorbeikommen. Und wir wissen etwas besser, warum die Zeit der Herrschaft des Leipziger Kommunisten Walter Ulbrich in Berlin dort als die "Rache Sachsens an Preußen" bezeichnet wurde.

Kunze, Gerhard: "Die Saxen sind Bestien". Die Erschießung von sieben sächsischen Grenadieren bei Lüttich am 6. Mai 1815. BWV. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005. 192 Seiten, 27,50 Euro

Gebhard Lebrecht von Blücher, Fürst von Wahlstatt
 
     
     
 
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