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Zunächst schien es, als ob die deutsche oberste Führung im Angesicht der drohenden Invasion im Westen das Gebot der Stunde erkannt hätte. In der Führerweisung vom 3. November 1943 kam unmißverständlich zum Ausdruck, daß zwar die Gefahr im Osten geblieben sei, daß aber eine größere im Westen heraufziehe. Wenn man an der deutsch-sowjetisch en Front notfalls auch größeren Raumverlust in Kauf nehmen konnte, so mußte ein Einbruch in die Küstenverteidigung in Westeuropa unabsehbare Folgen haben. Unausgesprochen blieb, was viele Beobachter für eine Tatsache hielten: Dann wäre der Krieg unwiderruflich verloren. Die Entscheidung würde also im Westen fallen.
Entgegen dieser Einsicht folgte man jedoch nicht dem "Gesetz des Schwergewichts", wonach man als Verteidiger alle verfügbaren Kräften dem Gegner dort entgegenwerfen sollte, wo dieser die Entscheidung sucht. Generaloberst Jodl, der Chef des Wehrmachtführungsstabes, bemühte sich um die Aufstellung einer "zentralen Reserve", die aber zum größten Teil im Winter 1943/44 an der Ostfront und in Italien eingesetzt wurde. Immerhin befanden sich noch Mitte April 1944 knapp 54 Prozent aller Heereskräfte im Osten. Auch an schweren Waffen besaß die Ostfront Vorrang: Während Ende Februar an dieser Front 3.050 Kampfpanzer und Sturmgeschütze standen, verfügte Generalfeldmarschall Gerd v. Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, nur über 1.233. Ab März wurde mit der Invasion gerechnet, so daß nur mehr sehr wenig Zeit zur Heranführung von Verstärkungen blieb. Auch die Aufstellung einer beweglichen "Operationsarmee" in Frankreich kam nicht voran. Bis Anfang Juni konnten nur 59 1/3 Divisionen, darunter zehn Panzer- und Panzergrenadierdivisionen, im Westraum bereitgestellt werden. Von diesen Verbänden konnte Generalfeldmarschall Erwin Rommel, der die Truppen von Holland bis zur Bretagne führte, nur drei als Stoßreserven aufbieten. Die übrigen standen in Südfrankreich oder wurden von v. Rundstedt als Reserven des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) zurückbehalten. Es fehlte auch das II. SS-Panzerkorps, das im März zur Stützung der Ostfront verlegt worden war und vorläufig dort verblieb.
Zwischen Rommel und v. Rundstedt herrschten Differenzen, da Rommel die gepanzerten Reserven möglichst küstennah aufstellen wollte, um die Landungstruppen schon im Ansatz ins Meer zurück-zuwerfen. Seine Erfahrung besagte, daß auf Grund der alliierten Luftherrschaft Gegenstöße nur bei Beginn der Landung Erfolg haben könnten. Die Schlacht mußte also noch am "längsten Tag" gewonnen werden. Rundstedt hingegen wollte die Reserven zurückhalten, die Angreifer vordringen lassen und sie dann in einer großen Panzerschlacht besiegen. Der Mangel an Reserven wurde dadurch verschärft, daß ein Großteil der Infanterieverbände nur zur statischen Verteidigung geeignet war. Auch die sogenannten V-Waffen, auf die Adolf Hitler große Hoffnungen gesetzt hatte, waren am 6. Juni, vor allem infolge der schweren Luftangriffe gegen die Abschußrampen, noch nicht einsatzbereit. Der erste Start einer V-1-Flugbombe auf London erfolgte erst in der Nacht zum 13. Juni.
Die andere Hoffnung, der sogenannte "Atlantikwall", hatte zwar an der Kanalenge bei Calais eine ungewöhnliche Stärke, wogegen er in der Normandie erhebliche Lücken aufwies, was auf die falsche Feindlagebeurteilung zurückging. Sowohl das Oberkommando des Heeres (OKH) als auch führende Generäle im Westen täuschten sich über den Abschnitt der Hauptlandung. So nahm Rommel an, daß die Alliierten nördlich der Seinemündung landen würden, eine Ansicht, die vom feindlichen Nachrichtendienst durch eine grandiose Täuschungsaktion bestärkt wurde. Man spiegelte nämlich die Existenz einer US-amerikanische Armeegruppe in Südostengland vor, die im Raum Boulogne-Calais landen würde. Erst kurz vor Invasionsbeginn rückte die Normandie mit der Halbinsel Cotentin ins Blickfeld der deutschen Führungsstäbe. Dennoch hatte das Täuschungsmanöver Erfolg, wozu auch die Entzifferung des deutschen Funkcodes wesentlich beitrug. Rommel verzichtete auf die rechtzeitige Verschiebung von Verbänden aus Nordfrankreich an den bedrohten Küstenabschnitt, womit sich die Abwehrchancen wesentlich erhöht hätten.
Die Westalliierten hatten die Invasion (Unternehmen "Overlord") äußerst sorgfältig vorbereitet. Dem Geheimdienst gelang mit Hilfe des Widerstands in den besetzten Gebieten die Aufklärung fast aller deutschen Großverbände in Westeuropa. Bis zum 6. Juni wurden über 5.600 Flugzeuge eingesetzt, die vor allem das Eisenbahnnetz in West- und Nordfrankreich unterbrachen und die deutsche Luftwaffe dezimierten. Da auch die Bodenorganisation schwer getroffen wurde, erzielte die Verlegung von Flieger- und Flak-Verbände nach Beginn der Invasion nur geringe Wirkung. Bestenfalls hätte man rund 1.650 Flugzeuge in die Schlacht werfen können, wenn die Flugplätze intakt geblieben wären. Ab 12. Mai war außerdem eine Luftoffensive gegen die Treibstoffwerke in Mitteldeutschland im Gange, was den Nerv der operativen Beweglichkeit traf. Angesichts der erkannten Unterwasserhindernisse an der Küste der Normandie entschied Dwight D. Eisenhower, die erste Landung noch bei Ebbe zu wagen. Dies hatte aber zur Folge, daß die Soldaten der ersten Welle einen breiten, deckungslosen Strand überwinden mußten. Nach dem nächtlichen Absetzen von drei Luftlandedivisionen sollten fünf Kampfgruppen an je einem Abschnitt am Morgen landen, gefolgt von weiteren neun Divisionen. Insgesamt waren drei Armeen mit 37 Divisionen für die Invasion vorgesehen. 4.100 Landungsschiffe übernahmen den Transport der Truppen, gedeckt durch 285 Kriegsschiffe. 5.100 Bomber aller Art und 5.400 Jagdflugzeuge unterstützten die Landungstruppen. 2.300 Transportflugzeuge standen für den Einsatz der Fallschirmtruppen bereit.
Als die deutsche Abwehr am 5. Juni abends eine codierte Nachricht an den französischen Widerstand enttarnte, wußten Spezialisten, daß die Invasion unmittelbar bevorstand. Dennoch unterließ es v. Rundstedt, die unterstellten Armeen zu warnen. Nur die 15. Armee nördlich der Seine, wo man die besagte Meldung selbst entschlüsselt hatte, verhängte den Alarmzustand. Die im Zentrum der Invasion stehende 7. Armee alarmierte ihre Verbände erst am 6. Juni um 1.15 Uhr, eine Stunde nach Beginn der gegnerischen Luftlandungen hinter der Küste. Viele Stäbe hatten sich auf die widrigen Wetterverhältnisse - hoher Seegang, leichter Regen, Windstärke 5 bis 6 - verlassen, die gegen eine Invasion an diesem Tag sprachen. So bildete die Landung in der Normandie für Rundstedt, Rommel und andere Befehlshaber eine Überraschung, noch mehr aber die Tatsache, daß keine zweite Invasion an der Kanalenge folgte. Die Landung der Alliierten an der französischen Mittelmeerküste am 15. August erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Entscheidung in der Normandie längst gefallen war.
Am Morgen des 6. Juni konnten die Alliierten an vier Stellen halbwegs Fuß fassen, mußten aber schwere Verluste, vor allem unter den Fallschirmspringern, hinnehmen. Am fünften Abschnitt, dem blutigen "Omaha"-Strand, wäre die Landung unter extremen Opfern fast gescheitert, und der örtliche Befehlshaber erwog bereits den Rückzug. Erst das nachlassende Abwehrfeuer ermöglichte das Festsetzen an der Küstenstraße. Am Nachmittag stieß die 21. Panzerdivision im britisch-kanadischen Abschnitt bis zur Küste durch und spaltete den Landkopf. Ein gemeinsamer Vorstoß von zwei Panzerdivisionen am 7. Juni warf zwar die Kanadier fast bis zur Küste zurück, geriet aber in das schwere Feuer der Schiffsgeschütze und mußte zahlreiche Jagdbomberangriffe hinnehmen. Ebenso scheiterte die gut vorbereitete Offensive von drei Panzerdivisionen am 9. Juni. Es war vor allem die Luftherrschaft der Alliierten, die auch in den nächsten Wochen koordinierte Gegenangriffe zerschlug beziehungsweise verzögerte. Die US-amerikanisch-britischen Kräfte wurden viel schneller verstärkt als die deutschen, die eine Ausweitung des Landekopfes nicht verhindern konnten. So bietet sich ein Bild, wonach die Invasion bereits am Abend des 7. Juni für die Angreifer gewonnen war.
Alle späteren Versuche, den Brückenkopf einzuengen oder zu spalten, scheiterten an der materiellen Überlegenheit der Alliierten, vor allem an der Luftherrschaft. Die Abnutzungsschlacht rieb die deutschen Verteidiger unerbittlich auf, obwohl sie weiterhin zähen Widerstand leisteten. Von den insgesamt eingesetzten 1.347 Panzern an der Invasionsfront fielen bis Ende Juli 406 Panzer total aus, und 353 wurden ernsthaft beschädigt. Auch die personellen Verluste konnten nur zu einem Bruchteil ersetzt werden. Auf der Gegenseite brachten die Alliierten bis Ende Juli 1,5 Millionen Mann in der Normandie an Land. Rommel schilderte am 15. Juli in einem schonungslosen Brief an Hitler die hoffnungslose Lage seiner Heeresgruppe und bat, die "Folgerungen" daraus zu ziehen. Noch bevor Rommel eine Antwort erhielt, wurde er zwei Tage später auf einer Frontfahrt durch Tieffliegerbeschuß schwer verwundet. Doch auch sein Nachfolger, Generalfeldmarschall Hans Günther v. Kluge, konnte das Schicksal nicht wenden. Der Durchbruch der US-Amerikaner bei Avranches am 31. Juli hob die deutsche Front schließlich aus den Angeln. Die deutschen Panzertruppen versuchten noch einen Gegenstoß, wurden aber mit Masse eingeschlossen und aufgerieben. Kluge, der zum Kreis der Mitwisser des Attentats vom 20. Juli gehörte, beging Selbstmord.
Vor dem Sturm: Die deutschen Streitkräfte waren auf die Invasion der Westalliierten im Norden Frankreichs unzureichend vorbereitet. Foto: Magenheimer
Die allgemeine Kriegslage vor dem "D-Day"
Nach den schweren Niederlagen im Winter 1943/44 klammerte sich die deutsche Führung an die Hoffnung, daß es gelingen würde, die erwartete Invasion in Westeuropa siegreich abzuschlagen. Dadurch hätte man starke Heereskräfte für die Stützung der Ostfront und für andere Aufgaben freibekommen. In Mittelitalien war es der hartnäckigen Verteidigung zuzuschreiben, daß die US-amerikanische 5. Armee bei Monte Cassino in mehreren Schlachten unter hohen Verlusten für den Angreifer zurückgeschlagen wurde. Auf dem Balkan begnügten sich die Besatzungskräfte nicht mit der Sicherung, sondern gingen sogar offensiv gegen die Partisanenarmee vor, wobei am 25. Mai fast die Gefangennahme Josip Titos geglückt wäre. Hingegen hatten die deutschen und verbündeten Truppen an der Ostfront schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Im Norden war der Rückzug auf die "Pantherlinie" erzwungen worden, bei den Heeresgruppen Süd und A hatte man die durchbrochene Front gerade noch vor Lemberg und an den Ausläufern der Karpaten stabilisieren können; Teile Rumäniens waren bereits verlorengegangen, und Anfang Mai kapitulierten die letzten Truppen auf der Krim. Nur die Heeresgruppe Mitte stand in einem etwa 300 Kilometer nach Osten vorspringenden Bogen mit ihrer Masse noch jenseits von Dnjepr und Düna und sollte diese Stellung weiterhin halten, da die sowjetische Sommeroffensive im Abschnitt südlich der Pripjatsümpfe erwartet wurde.
Die Luftverteidigung lieferte seit dem Sommer 1943 eine verzweifelte Schlacht gegen die immer stärker werdende 8. US-amerikanische Luftflotte bei Tag und die britische Bomberflotte bei Nacht. Einzelne Abwehrsiege wie über Schweinfurt am 14. Okrober 1943 und Nürnberg am 30. März 1944 blieben ohne nachhaltige Wirkung, wogegen die Angriffe auf deutsche Schlüsselindustrien, etwa die Jägerproduktion, zunahmen. So konnten im Februar 1944 nur 833 Jäger Me 109 und FW 190 entgegen den geplanten 1.487 hergestellt werden. Es wäre aber eine monatliche Mindestfertigung von 3.000 Tag- und Nachtjägern erforderlich gewesen, um neben dem Bedarf an Frontflugzeugen die Reichsluftverteidigung aufzurüsten. Man konnte nämlich erst bei einer Überlegenheit von drei zu eins gegenüber den einfliegenden Bombern einen vollen Abwehrerfolg erwarten. Eine weitere Steigerung wäre aber aus Mangel an Rohstoffen, Arbeitskräften und Besatzungen bald an ihre Grenze gestoßen. Andererseits erwies sich die rasche Vermehrung der Flak-Verbände schon auf Grund des enormen Munitionsaufwandes im Vergleich zu den Abschüssen als nachteilig. Auch eine frühe Serienproduktion des Düsenjägers Me 262 hätte - entgegen landläufiger Ansicht - keine Wende im Luftkrieg erbracht, da das Triebwerk noch nicht ausgereift war. Wenn auch die Zivilbevölkerung im Bombenkrieg Furchtbares zu erleiden hatte, trat nicht das ein, was man auf britischer Seite anstrebte, nämlich ein Verfall der Moral und der Arbeitsleistung. Noch konnte die Propaganda den Widerstandswillen bei der leidenden Bevölkerung und die Hoffnung auf einen Abwehrsieg im Westen wachhalten. H. M.
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