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Ende 1990 schuf die russische Regierung unter persönlicher Kontrolle von Michael Gorbatschow eine spezielle, überbehördliche Kommission zur Untersuchung der sowjetisch-deutschen Zusammenarbeit in der Zeit von 1922 bis 1940. Damals errichtete die Sowjetunion zur Umgehung der Versailler Verträge auf sowjetisch em Boden gemeinsam mit der deutschen Wehrmacht Fabriken, chemische Laboratorien, Flugplätze, Panzer- und Flugschulen. Aktiv wurde die Schulung deutscher Offiziere betrieben. Das ungewöhnliche Interesse der Zeitgenossen an den Ereignissen vor siebzig Jahren wurde dadurch geweckt, daß sich nach den Angaben der PGU (erste Hauptversammlung des sowjetischen Geheimdienstes KGB) auf Konten einiger Schweizer Banken noch immer für die UdSSR bestimmte 85 Millionen Deutsche Mark (ein Teil in gemünztem Gold) befinden, die im Jahr 1938 von Deutschland dorthin überwiesen worden waren. Diese Gelder flossen als Zahlung Deutschlands für einen Teil der rüstungsindustriellen Schulden in die Sowjetunion. Nicht lange vor dem Zweiten Weltkrieg haben die Schweizer in Übereinstimmung mit internationalem Recht die offiziellen Konten der kriegführenden Staaten "eingefroren".
Zur genauen Untersuchung dieser Angelegenheit wurde in Rußland erneut eine überbehördliche Kommission geschaffen, zu der Mitarbeiter der Staatsbank, des Justizministeriums und eine ganze Gruppe von Historikern aus dem Moskauer "Institut für Kriegsgeschichte" zugezogen wurden, auch "streng geheime" Archivalien des KGB über den Aufenthalt der deutschen Fliegerschule "Freier Fall" in Lipezk von 1924 bis 1933.
Eines von den Mitgliedern dieser überbehördlichen Kommission wandte sich an die Redaktion der russischen Zeitung "Komsomolskaja Prawda". In diesen Tagen endete für ihn die achtjährige Geltungsfrist für die Unterschrift als Verpflichteter des "geheimen Schweigens". Und sofort fing der ehemalige Soldat an zu reden über bisher unbekannte Fakten des Aufenthaltes deutscher Flieger im Vorkriegs-Lipezk.
Im Archiv des ehemaligen Moskauer KGB-Hauptquartiers, der "Lubjanka", hatte dieser Mitarbeiter Dokumente über die technische Versorgung der deutschen Flugschule gefunden. Unter geheimen Archivalien hatte er ein Blatt Papier mit Aufzeichnungen in deutscher Sprache entdeckt. Auch einem Laien mußte klar sein, daß das Heftblatt nur durch reinen Zufall unter die Dokumente geraten war. Das einzige, was der vormalige Mitarbeiter der Kommission zunächst ins Russische zu übersetzen vermochte, war der Name des Empfängers des Briefes: Hermann Göring. Der Brief an Göring war unterzeichnet mit "Nadjeschda Gorjatschewa, am 2. November 1926". Das machte ihn neugierig.
In Lipezk wurden seit 1924 die deutschen Fliegerasse ausgebildet. In jenem Jahr schloß unerwartet die gerade erst organisierte Fliegerschule der Roten Armee in Lipezk. Auf diesem Stützpunkt wurde seither mit dem Aufbau einer Flugschule "Freier Fall" für die Piloten der deutschen Reichswehr begonnen, versteckt hinter der Bezeichnung "4. Schwadron des fliegenden Teils der roten Luftflotte" (in den Dokumenten manchmal auch "4. Flugabteilung T. Tomson" genannt). Zunächst trafen in der Schule 58 Flugzeuge vom Typ "Fokker D 13" ein, aber die sowjetische Seite bestand auf der Lieferung der modernsten Maschinen vom Typ "Albatros" an die Schule. Innerhalb weniger Monate trafen dann in der Schule schon die ersten "Lehrlinge" ein.
Auf dem Flughafen aber war der Platz eines vorrevolutionären Hippodroms ausgesucht, und die Deutschen wurden in den Gebäuden des ehemaligen Kontors einer Weinfabrik untergebracht. Die künftigen deutschen Fliegerasse reisten zur Ausbildung mit gefälschten Pässen als abgeordnete zivile Spezialisten verschiedener Firmen an. Alle Ausrüstung, Lebensmittel und Bedienung wurde aus Deutschland herangeschafft. Innerhalb von acht Jahren wurden in der Fliegerschule ungefähr 180 deutsche Piloten ausgebildet.
Zu Beginn der 30er Jahre wurden in den Ausbildungsplänen Flüge in der Höhe von 5000 bis 6000 Meter vorgesehen und eingeführt, Bombenabwurf aus Jagdflugzeugen und das Schießen mit Maschinengewehren auf geschleppte Zielscheiben. Der sowjetische Flieger Viktor Anissimow schildert diesen Vorfall "nicht lange vor dem Krieg" in seinem russischen Buch "Sie schmiedeten den Sieg".
Als er im Übungsluftkampf mit dem unter den Deutschen berühmten Fliegeras des Ersten Weltkrieges mit Namen "Hermann" (Familienname ist nicht genannt) zusammengeriet, drückte Anissimow nach einem längeren Luftkampf das Flugzeug Hermanns auf den Boden hinunter, und der vollzog gezwungenermaßen eine Landung. Dann erkannte er seine Niederlage an und schenkte Anissimow seine goldene Uhr. Auf der Rückseite des Geschenks war die Widmung eingraviert: "Dem besten Flieger Deutschlands von Wilhelm II." Im Verlauf des Ersten Weltkriegs gab es insgesamt 17 Fliegerasse, doch unter diesen nur einen mit dem Vornamen "Hermann" das war Göring.
Gegenwärtig gibt es in Lipezk nur noch einen lebenden Augenzeugen des Aufenthaltes deutscher Flieger Jakow Petrowitsch Wodopjanow. Dieser arbeitete in der Flugschule "Freier Fall" als technischer Prüfer für Flugzeugmotore.
"Darüber, daß unter den Deutschen, die bei uns in der Fliegerei ausgebildet wurden, auch Hermann Göring war, hatten wir schon vor Beginn des Krieges geredet", sagt Jakow Wodopjanow. "Ich selbst habe damals mehrfach von älteren Freunden gehört, daß sie sogar Göring selbst gesehen haben." Die deutschen Flieger hatten sich schnell eingelebt, einige hatten sich in Privatquartieren niedergelassen und nahmen Bedienstete aus dem Dorf in Anspruch. Die Mehrheit lernte ganz erträglich russisch zu sprechen.
Immer häufiger begannen die Deutschen auf dem Markt spazierenzugehen oder die Jagd außerhalb des Dorfes zu betreiben. "Man konnte sie leicht erkennen an den gewürfelten Golfmützen und den parfümierten Zigarren", erinnert sich Wodopjanow. Nach einer gewissen Zeit begannen sie ziemlich oft zu trinken. Sie hatten auch ihren "Schluckspecht" dabei, der für unseren Wein schwärmte. Sie gingen auch ins Dorf zum Tanz. Er erinnert sich sogar, wie sie die erste Hochzeit feierten. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Der junge Flieger Karl Bulinger heiratete eine Lehrerin aus Woronesch, Asse Pisarowa.
Wenn sie vom Kurzurlaub zurückkehrten, verwöhnten die Deutschen die Dorfmädchen mit Schokolade und verschiedenem Tand. Deshalb liefen in Lipezk anzügliche Späße über die betrogenen "Schokoladenmädchen" um, die bei den Bräuten der Deutschen unerwünscht waren.
Auch Göring besaß so eine Geliebte. Es war die Tochter des Stationsvorstehers, Nadja Gorjatschewa, sie wohnte an der Peripherie der Stadt im Bezirk Nischinki. Er versprach ihr, sie nach Deutschland mitzunehmen. Das einzige, woran man sich bei der Gorjatschewa noch erinnert, waren ihr Stolz und ihre Schönheit. Als sie die Bekanntschaft des Deutschen machte, wurde sie menschenscheu. Nur noch mit dem Deutschen, so behauptete man im Ort, konnte man sie sehen. Die heutigen Verwandten des verstorbenen "Frauenzimmers Nadja" wohnen nicht unweit der ehemaligen Flugschule (zur Zeit breitet sich dort eine Militärsiedlung aus). Sich mit Journalisten "über eine Verwandte und die Deutschen" zu unterhalten, lehnen sie strikt ab. Eine Nachbarin von ihnen, Anna Waganowa, berichtete, sie habe in der benachbarten Wohnung angeblich mehr als einmal zwischen den familiären Reliquien "Tischdecken mit Abbildungen des faschistischen Hakenkreuzes" gesehen.
Im Winter des Jahres 1926, nach der Ankunft einer "hohen" deutschen Kommission in der Schule, fuhr auch Göring in die Ferien nach Deutschland, wobei er Nadja versicherte, später wiederzukommen und sie aus Rußland wegzuholen. Zu dieser Zeit aber hatte der künftige Reichsmarschall Deutschlands bereits die ihm gesetzlich angetraute Ehefrau Emmy. Sein Wort hielt der künftige Staatsmann nicht ein, aber er schrieb weiterhin Liebesbriefe bis zum Beginn des Krieges. Nadjeschda, die von den Schülern der Flugschule die deutsche Sprache gelernt hatte, schrieb ebenfalls Briefe nach Deutschland mit dem Bekenntnis, daß sie "auf Hermann warte und bereit sei, die Liebe zu ihm während ihres ganzen Lebens im Herzen zu tragen".
Damals war ihr nicht bekannt, daß ein Teil ihrer Briefe in den Archiven des sowjetischen Geheimdienstes NKWD abgeheftet und nicht nach Deutschland gelangt war.
Ab August 1933 begann die Lipezker Abteilung des NKWD eine geheime Operation unter der Bezeichnung "Flieger" auszuarbeiten. Die sowjetischen Geheimdienstleute versuchten, Spione zu enttarnen, die angeblich von den Deutschen angeworben waren. Bis zum Beginn des Krieges erschienen in den Registern mehr als 65 "Feinde des Volkes", bei denen angemerkt war, daß sie in Verbindung mit den Piloten von "Freier Fall" standen.
Mit Beginn des Krieges verschwand Nadjeschda Gorjatschewa an einem frühen Sommermorgen aus der Stadt und kehrte erst im Jahr 1946 geistesgestört als 38jährige in das heimatliche Haus zurück. So ist sie in Erinnerung bei den Landsleuten als Legende geblieben. Nadjeschda blieb nur dank ihrer Bekanntschaft mit Göring am Leben. Durch sie nämlich so eine Version versuchte die sowjetische Führung zu Verhandlungen mit den Spitzen des Reiches zu kommen.
In dieser Geschichte stecken noch viele weiße Flecken, die letztlich nur durch die seit dieser Zeit für "vertraulich" eingestuften Dokumente aufgeklärt werden können. Die Hauptfrage der Historiker: Warum sind auf die Stadt Lipezk, die sich in der Stoßrichtung der deutschen Wehrmacht befand, insgesamt nur zwei kleine Bomben gefallen, und warum obwohl die Deutschen nur zwanzig Flugminuten von Woronesch entfernt waren verschwanden diese spurlos vom Erdboden? Vielleicht deswegen, weil Hermann sich an die Stadt seiner Jugend und an Nadjeschda Gorjatschewa erinnerte?
Denis Branjez
(Leicht gekürzt aus "Komsomolskaja Prawda")
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