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Im Oktober 1885 erschien im Münchner Bruckmann-Verlag erstmals "Die Kunst für Alle". Die Zeitschrift zeichnete sich durch die Verwendung modernster fotomechanischer Reproduktionstechniken aus. Sie stand fast sechs Jahrzehnte lang für den Versuch, breiteren Volksschichten Kunstverständnis zu vermitteln. Mit 15000 Exemplaren erzielte sie für eine Kunstzeitschrift eine hohe Auflage, und ihr Preis von durchschnittlich einer Mark entsprach damals dem Eintritt für einen Museumsbesuch. Die Zeitschrift erschien anfangs alle 14 Tage, ab Mitte 1943 nur noch zwei- bis dreimonatlich. Sie hielt sich ungewöhnlich lange auf dem Markt und behauptete sich beinahe konkurrenz los; 1944 mußte sie schließlich wegen kriegsbedingten Mangels an Papier ihr Erscheinen einstellen.
Herausgeber und gleichzeitig Chefredakteure waren Friedrich Pecht (1885-1903), Friedrich Schwartz (1903-1914) und Paul Kirchgraber (1914-1944). Friedrich Pecht war ein so bekannter wie gefürchteter Kunstkritiker; als er mit der Herausgabe von "Die Kunst für Alle" betraut wurde, war er 71 Jahre alt. Er war Nationalist, betonte stark die Nationalstaatlichkeit Deutschlands und gab der Zeitschrift auch als Autor ihr Gesicht; allein der erste Jahrgang enthielt über 30 Artikel aus seiner Feder.
Nach dem Ausscheiden Pechts 1903 ändert sich der Ton. Es schreiben Persönlichkeiten mit modernen Standpunkten wie Alfred Lichtwark, Julius Meier-Graefe und Hugo von Tschudi. Sie machen sich für die Künstler der Sezession - Franz von Stuck, Lovis Corinth, Hans Thoma, Raffael Schuster-Woldan - und die Impressionisten stark. Die Kunst der Avantgarde bleibt jedoch ausgeblendet: Die Brücke wird so gut wie nicht beachtet, über den Blauen Reiter und Kandinsky werden keine längeren Artikel veröffentlicht.
Von 1918 bis 1933, während der Weimarer Republik, vertritt die Zeitschrift einen zurückhaltenden Pluralismus, der sich nach wie vor auf gegenständliche Kunst beschränkt. In den 30er Jahren fördert sie die Kunst deutscher Maler, verzichtet dabei aber auf hetzerischen Ton, wie er für die nationalsozialistisch gefärbte Presse charakteristisch war. Damit bildete sie ein gewisses Gegengewicht zu Zeitschriften wie "Die Kunst im Dritten Reich". Die Ausstellung "Entartete Kunst" im Münchner Hofgarten 1937, Hitlers Kampfansage gegen Moderne und Abstraktion, wurde von ihr mit keinem Wort erwähnt. "Die Kunst für Alle" war als gemäßigtes Organ der bürgerlichen Mitte weder ein reaktionäres Kampfblatt, noch ging sie in Opposition zu der von der Partei gewünschten Kunst.
Gleichzeitig finden sich in "Die Kunst für Alle" volkserzieherische Parolen und Schlagworte wie Volk, Gesundheit, Rasse. Sie sind von Anfang an und in sämtlichen Jahrgängen Bestandteil von Aufsätzen, wurden später zu Schlagworten der Nationalsozialisten und schließlich Schlüsselworten in Hitlers "Reden zur Kunst- und Kulturpolitik".
Als "Die Kunst für Alle" 1885 auf den Markt kam, waren fotografische Reproduktionen erst seit kurzem technisch machbar. Viele Leser konnten durch die Fotos und Reproduktionen Werke in Galerien und Museen anderer Städte überhaupt erst kennenlernen. Die Kunstreproduktion hatte sich zu einem neuen Industriezweig entwickelt. München wurde mit den international tätigen Verlagen Bruckmann und Hanfstaengl dessen Zentrum.
Die Ausstellung im Münchner Haus der Kunst konfrontiert Originalausgaben der Zeitschrift mit Gemälden von Künstlern wie Lovis Corinth, Franz von Defregger, Franz von Stuck, Hans Thoma sowie den Malern der Großen Deutschen Kunstausstellungen und den Reproduktionen in Form von Postkarten und Kunstdrucken. Die Großen Deutschen Kunstausstellungen, die von 1937 bis 1944 im damaligen "Haus der Deutschen Kunst" stattfanden, waren konstant sehr gut besucht; die Ausstellung aus dem Jahr 1942 beispielsweise zog bei einer Laufzeit von 34 Wochen über 800000 Besucher an. Dieser Erfolg erklärt sich auch aus der Kontinuität der Bildwelt, die den Themen des 19. Jahrhunderts verpflichtet geblieben war, und der gegenständlich-realistischen Malweise, die als leicht verständlich empfunden wurde. Die Ausstellungen galten außerdem als wichtigste Leistungsschau deutscher Kunst.
Der chronologische Bogen der Münchner Ausstellung spannt sich von dem Bild "Kränzchen" von Gabriel Max aus dem Jahr 1889 bis Udo Wendels Gemälde "Die Kunstzeitschrift", das aus der Großen Deutschen Kunstausstellung 1940 von Adolf Hitler gekauft wurde. "Kränzchen" zeigt eine Horde Affen, die auf ein hochpreisiges Ölgemälde blicken - eine ironische Anspielung auf Kunstkritiker und Publikum vor einem gemalten Original. Udo Wendels Gemälde "Die Kunstzeitschrift" zeigt den Maler mit seinen Eltern beim Betrachten einer Abbildung in "Die Kunst im Dritten Reich" - ernst, sittsam und bildungsbeflissen; 60 Jahre später erhält die Reproduktion genauso viel Aufmerksamkeit wie das Original. Die ausgewählten Werke haben den Blick zum Thema, den die dargestellten Akteure auf Gegenstände ihres Interesses, auf den anderen oder auf den Betrachter richten.
Am Eingang zur Ausstellung steht eine Litfaßsäule mit Zitaten aus "Die Kunst für Alle". Diese Art der Präsentation auf einer Kultursäule nimmt auf das bürgerlich-urbane Milieu der Leser Bezug. Im ersten Raum stehen die zitierten Aufsätze und sämtliche Inhaltsverzeichnisse mit Suchfunktion digital zur Verfügung.
Eine große Zahl der ausgewählten Ölgemälde stammt aus Depots. Werke, die im späten 19. Jahrhundert allgemein bekannt waren, werden heute nicht mehr öffentlich gezeigt und sind fast vollständig aus dem Bildgedächtnis verschwunden. Stark in den historischen Entstehungszusammenhang eingebunden, sagen diese Werke auch heute viel über die Vorlieben und Ereigniswelt der damaligen Betrachter aus: So ist das Bild der Frau über Jahrzehnte von der Darstellung als Mutter oder als Akt geprägt; der Mann präsentiert sich als einfacher Soldat oder in der Pose des leitenden Militärs, als Bauer oder politisierender Bürger. Auch Religion und Mythologie gehörten zu den bevorzugten Themen. Die Künstler, die von der Zeitschrift "Die Kunst für Alle" gefördert wurden, haben den Anschluß an die damalige Avantgarde - heute die klassische Moderne - kaum gesucht. Ihre Werke eigneten sich jedoch als Identifikationsangebot für eine große Mehrheit, während die Avantgarde den Geschmack einer Minderheit ansprach.
Beispielhaft für die ästhetische Kontinuität von Bildmotiven ist "Das Leben" von Raffael Schuster-Woldan. Das Gemälde wurde bereits 1905 im Glaspalast ausgestellt und in "Die Kunst für Alle" als Meisterwerk der Schau hervorgehoben. Jahrzehnte später, 1941, war es in der Großen Deutschen Kunstausstellung zu sehen, in der Schuster-Woldan einen eigenen Raum erhielt. Im Katalog als unverkäuflich deklariert, wurde es dennoch von Hitler für 60000 Reichsmark gekauft. Mit diesem Preis war es zwischen 1937 und 1944 eins der am höchsten dotierten Bilder. Es wurde 1942 in den Führerbau der Münchner Arcisstraße geliefert und nach dem Krieg von den Amerikanern beschlagnahmt. Bis 1998 lagerte das Gemälde im Hauptzollamt der Stadt München; heute gehört es zum Bestand des Deutschen Historischen Museums in Berlin.
Elena Heitsch
Die Ausstellung im Münchner Haus der Kunst, Prinzregentenstraße 1, ist montags bis sonntags von 10 bis 20 Uhr, donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet, bis 3. September.
Udo Wendel: Die Kunstzeitschrift (Öl, 1939 / 40) |
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