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Kirchners Zeichnungen sind vielleicht das Reinste, Schönste seiner Arbeit ... ein Spiegel der Empfindungen eines Menschen unserer Zeit. Daneben enthalten sie die Formensprache seiner Graphik, seiner Bilder, denen der andere Teil seiner Arbeit gehört, in denen ein bewußter Wille schafft. Die lebendige Kraft dieses Willens aber kommt durch das Zeichnen", schrieb Louis de Marsalle 1920 in der Zeitschrift Genius. Kurios nur, daß sich hinter dem Pseudonym Marsalle Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938) selbst verbarg. Der Künstler war geradezu besessen vom Zeichnen. Skizzenbuch um Skizzenbuch füllte sich mit Szenen aus dem Alltag, mit Darstellungen von Tänzern und Tänzerinnen, Beobachtungen aus dem Varieté, mit Impressionen aus Böhmen und Hamburg, Stadtlandschaften und Vorortstraßen. Mit Bleistift und Zimmermannsblei, mit schwarzer Kreide, farbiger Ölkreide, mit schwarzer Tusche, Feder und Pinsel hielt er auf manchmal farbigem Papier das fest, was er sah. "Zeichnen bis zur Raserei, nur zeichnen, die Technik ist zu schön", bekannte Kirchner, von dem die unglaubliche Zahl von 25.000 Skizzen und größeren Einzelblättern beglaubigt ist.
Ein Großteil der Zeichnungen ist im Besitz des Berliner Kupferstichkabinetts, das noch bis zum 29. August in der Sonderausstellungshalle im Kulturforum Potsdamer Platz, Matthäikirchplatz 4, eine Auswahl des Gesamtbestandes an Werken von Ernst Ludwig Kirchner präsentiert (dienstags bis freitags 10-18 Uhr, am Wochenende 11-18 Uhr). Neben kostbaren und seltenen druckgraphischen Arbeiten und größeren Zeichnungen werden etwa 200 kleinformatige Skizzen gezeigt, die bislang noch nie in der Öffentlichkeit zu sehen waren. Es ist dies der Auftakt der Veranstaltungen zum 100. Geburtstag der Künstlergemeinschaft "Brücke" 2005, die Kirchner mitbegründet hat. Zur Ausstellung erschien im Prestel Verlag ein umfangreicher Katalog (Hrsg. Anita Beloubek-Hammer, 320 Seiten, 200 farbige Abb., gebunden mit Schutzumschlag, 59 Euro) mit erläuternden Texten ausgewiesener Kirchner-Kenner.
Dies ist der erste vollständige Katalog der Kirchner-Sammlung im Kupferstichkabinett, die 32 Aquarelle und Einzelzeichnungen, 205 Skizzen in den verschiedensten Techniken, 110 Druckgraphiken und fünf illustrierte Bücher umfaßt. Vieles ging verloren, als 1937 im Zuge der Aktion "Entartete Kunst" 639 Kirchner-Werke aus deutschen Museen entfernt und teilweise ins Ausland verkauft oder zerstört wurden. Um so wertvoller sind die erhalten gebliebenen Skizzen, zeigen sie doch nicht zuletzt auch die Arbeitsweise des Künstlers, der zu den Hauptexponenten des Expressionismus zählt.
"Nur durch höchste Konzentration auf seine Empfindung", so Anita Beloubek-Hammer, konnte Kirchner das gewünschte Ergebnis erzielen. Durch zeichenhafte Verknappung bemächtigte er sich der Vielgestaltigkeit der Erscheinungen, eliminierte alles Unwesentliche, bedeutsam Erscheinendes hingegen steigerte er expressiv, deformierte es, so die Kunsthistorikerin. "So wurde gleichsam beim Anschauen die Wirklichkeit verändert, interpretiert und in eine neue Wirklichkeit des Bildes transformiert."
Nicht immer fanden die Betrachter dieser Zeichnungen und Skizzen, das was sie selbst sehen wollten, sprachen gar von "Gekritzel". Kirchner: "Wie dumm und oberflächlich die Menschen urteilen, sie sehen nicht, daß gerade das Flüchtige in meiner Zeichnung das Wichtigste ist, weil ich dadurch die feinste erste Empfindung einfange. Würde ich langsam so eine Zeichnung machen wollen, so ginge dieses erste feine Gefühl verloren, und das gerade will ich doch notieren und habe ich tatsächlich auf den Blättern ..." Und Anita Beloubek-Hammer erläutert: "In den gezeichneten Skizzen teilt sich eine solche Energie und ihre blitzschnelle Entstehung durch eine geradezu elektrisierende Verve mit, die das ganze Blatt erfaßt. Da gibt es kein ängstliches Buchstabieren der Details, die gesamte Fläche ist in die Gestaltung einbezogen und lebt im Rhythmus der konzentrierten Strichlagen ..."
Von der Faszination, die von diesen Blättern noch heute ausgeht, kann sich der Besucher der Berliner Ausstellung, aber auch der Leser des Katalogs überzeugen. Manches Mal sind sogar Hinweise auf ausgeführte Werke (Graphik oder Malerei) Kirchners in den Skizzen zu entdecken, so daß ein unmittelbarer Einblick in den Schaffensprozeß des Künstlers möglich ist. Peter van Lohuizen
Ernst Ludwig Kirchner: Drei Tänzerinnen (1910), Postkarte an Otto und Maschka Mueller Foto: Katalog
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