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Die Arbeiter haben Energie und Mut, der Bourgeois ist faul und feige", diese provozierenden Worte schrieb die 20jährige Käthe Schirmacher, als sie Gelegenheit hatte, als Gast an einer Berliner Reichstagssitzung teilzunehmen. Sie wohnte damals im Hause des freisinnigen Abgeordneten Heinrich Rickert, einem Freund ihrer Danziger Familie.
Schon frühzeitig stieß die 1865 in Danzig geborene Käthe auf die mannigfachen Schranken, die sich einer bildungshungrigen Frau in den preußischen Provinzen des ausgehenden 19. Jahrhunderts entgegenstellten. Der Abschluß eines Lehrerinnen seminars war die höchste Bildungsstufe, die sie erreichen konnte. Zur Vervollkommnung ihrer Sprachkenntnisse reiste sie nach Paris und finanzierte ihr Studium an der Sorbonne mit Hilfe von Privatstunden. Mit Auszeichnung bestand Käthe Schirmacher das Pariser Universitätsexamen mit der Berechtigung, an einer höheren Mädchenschule in Französisch und Deutsch zu unterrichten, sie war gerade 22 Jahre alt. Um aber in Deutschland sich durchsetzen zu können, brauchte man Geld und einen Namen. Sie plante daher, im Ausland zu promovieren, denn im Deutschen Reich des Jahres 1888 war die Erlangung des Doktorgrades für eine Frau noch nicht möglich. "Die Männer sind grimmige Egoisten und die Frauen überdumme Märtyrerinnen", beklagte sie sich bei ihrer Mutter.
Die Eidgenössische Hochschule in Zürich hatte ihre Pforten schon seit einigen Jahren den weiblichen Studierenden geöffnet. Fräulein Schirmacher mußte sich dort ein Jahr lang immatrikulieren, um zur Promotion zugelassen zu werden, wobei ihr die Pariser Studiensemester angerechnet wurden. 1895 machte sie ihren "Dr. phil.", mit einer Arbeit über den französischen Freidenker de Viau. Mit einem Leipziger Verleger konnte ein Vertrag über eine populärwissenschaftliche Voltaire-Biographie abgeschlossen werden. Die Danzigerin schreibt darüber in ihrer Autobiographie: "Ich setzte meine Arbeit auf eine breite geschichtliche Grundlage, was mir reichsten Gewinn brachte ... Von Voltaire lernte ich, daß nur Ordnung Freiheit schafft."
Vor der Jahrhundertwende begann die Emanzipation der Frau auch in den preußischen Provinzen an Boden zu gewinnen. In erster Linie ging es hierbei um das Stimmrecht bei Wahlen, an zweiter Stelle stand die Durchsetzung der beruflichen Gleichstellung mit dem männlichen Geschlecht. Als 1893 der Weltkongreß der Frauen in Chicago stattfand, war Käthe Schirmacher die einzige unter den vier deutschen Vertreterinnen, die beide Kongreßsprachen, Englisch und Französisch, vollkommen beherrschte und daher als Sprecherin der deutschen Delegation immer wieder in den Vordergrund trat. Auf den großen internationalen Tagungen des "Weltbundes für Frauenstimmrecht" beeindruckten ihre in freier Rede gehaltenen Ansprachen in fehlerfreiem Französisch; immer wieder forderte sie die Frauen auf, die politische Gleichberechtigung mit dem Manne auf allen Gebieten zu erstreben. In diesen Jahren bildete sich auch ihr Bewußtsein stärker heraus, wenn sie auf vielen Auslandsreisen den wachsenden Nationalismus der Völker und das Wirken von Liberalismus, Sozialismus und Pazifismus erkannte. Aus ihren reichen politischen Erfahrungen entstand unter anderem das Buch "Deutschland und Frankreich seit 35 Jahren".
Während man im Ausland Dr. Schirmachers herausragende Persönlichkeit anerkannte und bewunderte, denn sie war ja nicht nur eine geistreiche Rednerin, die eine brillante Feder hatte, sondern auch eine charmante, gutaussehende Dame, wuchs die Schar ihrer Gegner in der Heimat. Als Ostdeutsche und scharfe Beobachterin der polnischen Aktivitäten im Ausland, besonders in Paris, bestärkte sie auf ihren Reisen in den vier Grenzmarken Ostdeutschland, Westpreußen, Posen und Schlesien die Siedlungspolitik des Ostmarkenvereins. Käthe Schirmacher studierte gründlich das Werk der Ansiedlungskommission, sprach mit den Neusiedlerfamilien und hielt Vorträge auf den ostdeutschen Frauentagungen in Elbing (1906), Allenstein (1908), Kulm (1911), Zoppot (1913); immer wieder betonte sie, daß die Siedlungsfrage eine der wichtigsten Maßnahmen zur Stabilisierung der östlichen Provinzen sei.
Schon Jahre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges erhielt Käthe Schirmacher aus vielen Gesprächen mit Politikern, aus dem Studium ausländischer Zeitungen, Kenntnis von der fortschreitenden Einkreisung und Vereinsamung Deutschlands: "Man hat die Macht der Presse und den Wert internationaler Sympathien nicht erkannt", berichtete sie in einer Denkschrift an das Auswärtige Amt. Als dann der vom Deutschen Reich nicht gewollte Krieg hereinbrach, stellte sie fest: "Der Sieg ruht sowohl auf der Wehrfähigkeit des Mannes, wie auf der Wirtschaftsfähigkeit der Frau. Jene hat man geschult, diese nicht."
Ein Auftrag des preußischen Kriegsministeriums führte sie zu den Lazaretten und Soldatenheimen im Osten. Die Angst um den Kriegsausgang ließ sie fast verzagen, wenn die Feldgrauen über schlechte Verpflegung, Ungerechtigkeit, Übervorteilung klagten. Am 12. Oktober 1918 rief Justizrat Claß in Danzig die "Nationale Verteidigung" aus, eine Organisation des nationalen Widerstandes, um Westpreußen für das Reich zu retten. Vorher waren die ehrlos machenden Forderungen für einen Waffenstillstand bekannt geworden. Sofort eilte Käthe Schirmacher in die bedrohte Heimat, wo am 12. Dezember die Deutschnationale Volkspartei gegründet wurde. Auf der Liste der deutschnationalen Abgeordneten stand an zweiter Stelle Fräulein Schirmacher, die mit 43 weiteren Abgeordneten in den Reichstag einzog. Wegen der kommunistischen Krawalle in Berlin verlegte man die Nationalversammlung nach Weimar, wo man am 21. Juni 1919 über die Annahme des Versailler Diktatfriedens abstimmte. Die Abgeordneten aller Fraktionen aus den bedrohten Ostprovinzen schlossen sich zu einem Parlamentarischen Aktionsausschuß zusammen, sie versuchten noch einmal den Abwehrwillen der ostdeutschen Bevölkerung zu mobilisieren.
In der Nationalversammlung setzte nun ein zähes Ringen ein. Rastlos war der Zentrumspolitiker Erzberger tätig, um die Parteien für eine Annahme des Diktates zu gewinnen. Zwar hatte der sozialdemokratische Regierungschef Scheidemann noch vor kurzem betont, die Hand, die diesen Vertrag unterzeichnet, müßte verdorren. Doch dann trat er mit seiner Regierung zurück und machte keinen ernsthaften Versuch, die Ablehnung des Versailler Vertrages durchzusetzen. Allein die Deutsch-nationalen waren sich in der Ablehnung des Diktatfriedens einig. Sie verlangten eine namentliche Abstimmung, um das Verantwortungsgefühl des einzelnen Abgeordneten zu stärken, konnten sich jedoch in dieser wichtigen Verfahrensfrage nicht behaupten. So kam der Tag der Parlamentsabstimmung heran. Neben dem Abgeordneten Hugenberg sitzend, hat Käthe Schirmacher "diese Schmach erstorben, nicht erlebt", wie sie in ihren Erinnerungen schreibt. Hauptsächlich mit den Stimmen des Zentrums, der Sozialdemokraten und der Unabhängigen wurde beschlossen, das Diktat anzunehmen. Die materiellen und sittlichen Folgen des Versailler Friedensvertrages waren verheerend, denn mit der Unterzeichnung hatte Deutschland sich auch zur alleinigen Kriegsschuld bekannt, festgelegt im Artikel 231 des Vertrages.
Die deutschnationalen Frauen bemühten sich bei späteren Reichstagswahlen wiederholt, Käthe Schirmachers Kandidatur durchzusetzen. Sie scheiterten an der Uneinsichtigkeit der Männer, die in ihr nur die "Frauenrechtlerin" sahen, die nicht erkennen wollten, welche Tiefe des Gemüts in der Danzigerin ruhte. Von Berlin aus nahm sie ihre Vortragstätigkeit wieder auf, daneben entstand die Selbstbiographie "Flammen", 1921 in Leipzig erschienen. Es folgten die Grenzlandbücher "Die Ostmark" und "Die Entrechteten". 1926 erhielt sie von Reichspräsident v. Hindenburg für ihre "Verdienste um die Ostprovinzen" einen Ehrensold auf Lebenszeit.
Neben der Pressearbeit beanspruchte sie ein umfangreicher Briefwechsel mit Gleichgesinnten innerhalb des gesamten deutschen Sprachraumes. Besonderen Trost vermittelten ihre Briefe den in Gefangenschaft schmachtenden Südtirolern. Ihre Fürsorge umspannte schließlich das Auslandsdeutschtum, wo sie in vielen Notfällen materielle Hilfe leisten konnte. Wer immer in nationaler Sorge um Deutschland war, kam zu ihr, um sich Kraft zu holen.
Nach ihrem 65. Geburtstag erkrankte Käthe Schirmacher. Ein Aufenthalt in Meran sollte Besserung bringen. Es wurde eine Fahrt ohne Rückkehr. Am 18. November 1930 schloß sie für immer die Augen. Der Grabstein auf dem evangelischen Friedhof in Meran, zu dem Mädchen und Frauen in ganz Deutschland Geld sammelten, trägt die Worte:
Wer erlebte, was ich erlebt,
Wer kämpfte, wie ich gekämpft,
Wer verloren, was ich verlor,
Der lebt nicht mehr sich selbst,
Der lebt dem Land.
Rüdiger Ruhnau
Käthe Schirmacher: 1918 zog sie mit 43 Abgeordneten der deutsch-nationalen Liste in den Reichstag und lehnte sich gegen das Diktat von Versailles auf. |
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