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Was machen die denn da?" fragt sich Steve Hurst, als er am Mittag des 8. Mai 2005 mitten in Berlin auf einen Zug zerlumpter Elendsgestalten stößt. Großmütter mit zerbeulten Lederkoffern, kleine Mädchen mit Zöpfen, Männer mit blutgetränkten Verbänden - schweigend schieben sie alte Kinderwagen, ziehen quietschende Handkarren hinter sich her.
Eigentlich ist der Bildhauer aus England zur eigenen Werkschau in die deutsche Hauptstadt gereist. Nun wird er Zeuge einer Aktion, die er an diesem denkwürdigen Tag in Berlin wohl nicht erwartet hat. Auf einem Plakat liest er: "Sonderbefehl. Jeder Deutsche nur 20 kg Gepäck." Vor einem Pferde wagen geht ein junger Mann, die Füße mit Lumpen umwickelt; eine junge Frau hält das Bild eines Säuglings empor: "Wo ist Uwe? Auf der Flucht bei Frankfurt/Oder verloren." Taxifahrer wie Touristen sind stehengeblieben, knipsen. "Wir sind die Toten", vergegenwärtigen ihnen die rund hundert historisch Kostümierten immer wieder - "ausgebombte, verwundete, kriegsgefangene Opfer des 8. Mai 1945 im Nachkriegsberlin".
Veranstalter ist die "Aktion GedenkZug", eine unabhängige Initiative von Studenten und Schauspielschülern. Das Kriegsende hat für sie zwei Gesichter: "Der 8. Mai hat uns erlöst und vernichtet in einem", zitieren sie in ihrem Flugblatt Theodor Heuss. "Für viele beginnt das Leid erst jetzt. Osteuropa erlebt den stalinistischen Terror. Hunderttausende sterben bei ‚nationalen Säuberungswellen in Frankreich. Mehr Deutsche werden sterben als im gesamten Krieg."
"Wir sind gegen die gängige Einteilung in politisch korrekte und politisch unkorrekte Opfer", erklärt Reinhard, einer der Mitveranstalter, "wir wollen nichts ausklammern. Nur eine ganzheitliche, umfassende Erinnerung kann heilend sein".
"Wir haben versucht, möglichst authentische Kostüme und Requisiten aufzutreiben - auf Flohmärkten, in Omas Kleiderkiste oder bei Ebay", ergänzt Marie (27). "Aus unserem Fundus haben wir dann alle versorgt, die über unsere Pressemitteilung kurzfristig mitmachen wollten, aber unzureichend kostümiert waren." Alle wurden weißgeschminkt und mit Mehl bestäubt. "Einiges ist noch original von der Flucht", bemerkt die Germanistikstudentin, "die Bollerwagen zum Beispiel, und auch der große Leiterwagen" (der steht inzwischen im Ostdeutschen Landesmuseum in Lüneburg). Ihr Ziel? "Mit der ganzen Familie ein Zeichen setzen", bekundet Thomas, Filmemacher und junger Familienvater, "vor den Augen all derer, die feiern und gar keine Ahnung haben!"
Vom Checkpoint Charlie ziehen sie über den Potsdamer Platz zum Fest des Berliner Senats am Brandenburger Tor. Hier feiert man - als "Tag der Befreiung" - mit Bier und Bratwurst den "Tag für Demokratie". Zwischen gummibärchenverteilenden Parteien, Gewerkschaften mit Luftballons und Gruppierungen wie "Hände gegen Rechts" regt der Zug zum Nachdenken an. "Seid ihr von einem Vertriebenenclub - oder ist das Kunst?!" fragt eine Frau vom DGB irritiert. Die meisten Zuschauer zeigen sich fasziniert: "Fast wie echt."
"Es war richtig, daß die Deutschen vertrieben wurden!" bleibt ein vereinzelter Zwischenruf. Eine Gruppe bosnischer Flüchtlingsfrauen beginnt zu weinen. Man sieht Rentner mit Tränen in den Augen. "Ich habe mich gefragt, wie es wohl wäre, eines Tages selbst einmal Flüchtling zu sein", gesteht eine junge Frau.
"Noch Stunden später, als wir vereinzelt durch Berlin gingen, sprachen Leute uns an: sie hätten eine Gänsehaut, einen Schauder empfunden, als wir an ihnen vorbeizogen", erinnert sich Marie. "Auch international fand unsere Aktion Beachtung", ergänzt Reinhard, "neben deutschen Zeitungen hat uns auch Le Monde abgebildet, wir waren weltweit im Fernsehen zu sehen."
Wochen später erhält die Gruppe Post aus England - es sind Skizzen von Steve Hurst: "Ich habe die Gelegenheit, das, was mir wie ein Geisterzug erschien, zu zeichnen, sehr geschätzt." Meike Bohn
Erinnern einmal anders: Marsch der "Toten" - historisch kostümiert mahnen die Teilnehmer der Aktion "GedenkZug", die deutschen Opfer des 8. Mai nicht zu vergessen. |
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