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Wer sich Ende letzter Woche die Mühe machte, einflußreiche überregionale deutsche Zeitungen hinsichtlich ihrer Berichterstattung über die EU-Osterweiterung unter die Lupe zu nehmen, konnte eine Reihe von Konstanten beobachten.
Zunächst fiel dem am historischen Ostdeutschland interessierten Leser auf, daß die "neue Nähe" der Oder-Neiße-Gebiete (oder anderer lange von Deutschen bewohnter mitteleuropäischer Regionen wie Livland, Böhmen und die Zips), die für uns eigentlich von besonderem Interesse sein sollten, nirgends zur Sprache kam. Entsprechend blieben Streitfragen wie die Benesch-, Bierut- und AVNOJ-Dekrete außen vor.
Das unterentwickelte Geschichts bewußtsein vieler Journalisten offenbarte sich auch in dem Verzicht auf altbekannte deutsche Namensformen wie Reval, Preßburg oder Laibach. Gerade in linksgerichteten Blättern wie der Süddeutschen Zeitung, der Zeit oder der taz, aber auch in der unionsnahen Welt ist durchweg von Tallinn, Bratislava oder Ljubljana die Rede.
Die Gesamtheit der EU-Neulinge im Osten wird mehrheitlich als "Osteuropa" bezeichnet. Nur die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung heben sich wohltuend hervor durch die bei ihnen gängige Verwendung des Begriffes "Ostmitteleuropa".
Dieser wird der Geschichte des Raumes und dem Selbstverständnis seiner Bewohner gerecht und unterstreicht auch begrifflich das Ende der Blockteilung Europas in "West" und "Ost".
Noch niveauloser als das Gerede von Osteuropa ist die oft benutzte Phrase vom "größer werdenden Europa". Diese kommt sogar in der FAZ vor. Die Gleichsetzung der Europäischen Union mit dem ganzen Kontinent ist ebenfalls ein Relikt des Kalten Krieges und sorgt zu Recht für Verärgerung bei Schweizern, Kroaten oder Rumänen.
Am ausführlichsten setzten sich die Welt, die taz und der Spiegel mit dem Thema Osterweiterung auseinander, während der Focus vom 26. April auffällige Zurückhaltung an den Tag legte - vielleicht weil ein solcher Schwerpunkt mit Blick auf die europamüden Bundesbürger zu abgedroschen erschien.
Aus den Beiträgen der Welt sei der von Richard Schröder hervorgehoben, seines Zeichens Mitglied der ersten freigewählten DDR-Volkskammer und Vizepräsident der Berliner Humboldt-Universität. Schröder weist in der literarischen Beilage der Welt auf die gemeinsamen Erfahrungen der Ostmitteleuropäer mit dem stalinistischen Erbe hin, um dann festzustellen, daß sich viele Deutsche "ein neues Erstes Gebot zurecht gelegt" hätten: "Du sollst keinen anderen Teufel kennen neben Hitler."
Ansonsten waren in den Augen des Verfassers die Artikel der FAZ am treffendsten. Berthold Kohler sparte dort in einem Kommentar nicht mit Kritik an den "reformlahmen Alteuropäer(n)" und formulierte: "Die Bedingungen der EU für den Beitritt wirkten so disziplinierend, modernisierend und befriedend auf die (...) Beitrittsaspiranten, daß man sich wünschte, die alten EU-Mitglieder müßten sich ebenfalls einem solchen Prüfungsprozeß unterwerfen."
Trotz der unübersehbaren Fortschritte im Osten sieht Kohler die "Gefahr, daß der 1. Mai 2004 den Gipfelpunkt des Erfolgs der EU markieren könnte, dem der Niedergang folgt". Denn Brüssel habe das selbst auferlegte Reformprogramm im Vorfeld der Erweiterung nur unzureichend absolviert, was sich "rächen" werde, "nimmt doch mit der Vergrößerung die Uneinheitlichkeit der EU in fast jeder Hinsicht erheblich zu".
Der Kommentar endet mit einer Mahnung: "Obwohl neue und alte Mitglieder eine tausendjährige gemeinsame Geschichte und Kultur verbindet, werden ihre Unterschiede und Gegensätze das (noch schwache) Zusammengehörigkeitsgefühl Europas, ohne das es eine nachhaltige Bereitschaft zu Wohlstandsteilung und Souveränitätsverzicht nicht geben kann, auf Jahrzehnte hinaus einer Prüfung unterziehen. (...)
Wer in dieser Zeit auch noch den Beitritt eines großen nichteuropäischen Landes betreibt (gemeint ist die Türkei; Anm. d. Verf.), das ganz andere Wurzeln hat, riskiert alles; er macht aus der Möglichkeit des Scheiterns der europäischen Einigung eine Wahrscheinlichkeit."
Nicht minder lesenswert war ein Beitrag von Henning Ritter im FAZ-Feuilleton. Unter der originellen Überschrift "Deutschland tritt bei. Was das Land der Tüftler und Quengler in der EU erwartet") verweist er auf die "Schrumpfung der Töpfe, aus denen die gute Laune Europas bisher finanziert wurde".
In der neuen EU werde hartnäckig um "jeden Millimeter wirtschaftlicher Vorteile und politischer Rechte gefeilscht werden". Ideell hebt Ritter die Bewahrung mitteleuropäischer Kulturidentitäten in den östlichen Betrittsstaaten hervor. Im Vergleich dazu wirke Deutschland "wie ein geschichtsloses Land". Eine Nation, die sich "als Tabula rasa kultiviert" und es versäumt habe, auch ihre Zugehörigkeit zu Mitteleuropa geltend zu machen.
Die größten Unterschiede bei der Bewertung des epochemachenden Ereignisses EU-Erweiterung tun sich zwischen der rechten Jungen Freiheit (JF) und linksliberalen Publikationen wie der Süddeutschen Zeitung oder der Zeit auf.
In der JF prognostiziert der Vordenker der französischen Neuen Rechten, Alain de Benoist, eine politische und wirtschaftliche Schwächung der vergrößerten EU. Europa werde zur "Bewegungsunfähigkeit" verdammt, ohne Möglichkeit, "auf weltpolitischer Ebene irgendeine Rolle zu spielen". Sprich: das von ihm ersehnte Gegengewicht zu den USA zu bilden.
Den ostmitteleuropäischen Ländern wirft er einseitige materielle Interessen, die Ablehnung einer weitergehenden politischen Integration und Pro-Amerikanismus vor. Der Leitartikler der Jungen Freiheit spricht verallgemeinernd von einem schlechten wirtschaftlichen Zustand der Neulinge.
Der ungewöhnlich kritische Tenor der FAZ-Artikel steigert sich hier zu einer deutlichen Abgrenzung gegenüber Ostmitteleuropa. Aus französischer Sicht mag das nachvollziehbar sein, aus deutscher nicht. Denn unsere Mittellage sowie ein Gleichgewicht der Beziehungen nach Westen wie nach Osten sind wesentliche Bestandteile der deutschen Identität und liegen im nationalen Interesse.
Sollte die Europäische Union als wesentlich materiell ausgerichtete Staatenvereinigung an der Herkulesaufgabe der Erweiterung zerbrechen, würde das zwar zu erheblichen Verwerfungen führen, doch eine Katastrophe wäre es nur für jene, denen der Brüsseler Bürokratenapparat eine Herzenssache ist.
Wie fast alle Analysten übersieht de Benoist die große Verschiedenheit der ostmitteleuropäischen Länder. Und das nicht zuletzt bei der Wirtschaft. Denn wollte man die EU-Tauglichkeit ökonomisch definieren, wäre beispielsweise Slowenien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über 14 000 Euro im Jahr eher dabei als Griechenland und Portugal.
Bei den linksliberalen Zeitungen werden besonders viele wirtschaftliche Schwierigkeiten genannt, ehe die Verfasser stets die "Kurve kriegen" und die Notwendigkeit der Osterweiterung betonen.
Man wird den Eindruck nicht los, daß es den Verfassern um das sprichwörtliche "Pfeifen im Walde" geht. Sie sehen die Schwere der Probleme, ahnen vielleicht sogar ein Scheitern des Vorhabens und wollen von möglichen Alternativen trotzdem nichts wissen.
So schreibt Christian Schmidt-Häuer in der Zeit: "Die Osterweiterung am 1. Mai ist eine politische Frühgeburt." Dennoch sei sie nötig, da sie zur "Marginalisierung der nationalen Ambitionen" beitrage.
Antinationale Ideologen werden aber wohl auch an der künftigen EU wenig Freude haben, zumal diese dank der ostmitteleuropäischen Neulinge immer mehr der Vorstellung eines vielstimmigen "Europas der Vaterländer" als der von den "Vereinigten Staaten von Europa" entsprechen dürfte.
Die Spaltung Europas ist Geschichte und ebenso die alte EU
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