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Jetzt ist es also da: Das neue Nato-Konzept. Fünfzig Jahre nach ihrer Gründung und knapp zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hat der Atlantik-Pakt bei seinem Gipfeltreffen in Washington eine neue strategische Linie verabschiedet. Sie ersetzt das im November 1991 als direkte Folge des Endes des kalten Krieges in Rom verabschiedete Grundlagendokument.
Wie eine Verfassung beinhaltet das neue Konzept die generellen Aufgaben, Ziele und Funktionen der Allianz, hält sich jedoch bei der Ausformulierung konkreter Maßnahmen bewußt zurück. Als Kernfunktion bleibt die Nato ein Verteidigungsbündnis; sie will jedoch stärker als bisher auch offensiv vorgehen.
Das Konzept erlaubt es der Nato, in "Ausnahmefällen" ohne ein Mandat des Uno-Sicherheitsrat s einzugreifen. Eine Intervention der Nato soll nach Angaben des deutschen Bundeskanzlers Schröder nur noch "in der Regel" mit einem Mandat der Vereinten Nationen erfolgen. Die neue Strategie sieht zudem Krisenmanagement durch die Nato, eine Initiative zur Verhinderung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und eine stärkere Inanspruchnahme der Europäer vor. Eine "Selbstmandatierung", die es der Nato erlaubte, nach eigenem Gutdünken weltweit einzugreifen, enthält das Konzept nicht direkt. In diesem Sinne bildet das Dokument einen Formelkompromiß zwischen den weitergehenden amerikanischen und den restriktiveren Zielen vor allem Deutschlands und Frankreichs.
Die Intervention im Kosovo haben die USA in den Verhandlungen als Präzedenzfall dargestellt, gleichsam als Beweis dafür, daß sich die Nato keine zu engen Beschränkungen auferlegen sollte. Für die Vereinigten Staaten habe aber nie im Vordergrund gestanden, aus der Nato einen (amerikanischen) Weltpolizisten zu machen.
Präsident Chirac bezeichnete das Dokument als großen Erfolg der französischen Diplomatie, und auch der deutsche Außenminister Fischer zeigte sich über das Erreichte sehr zufrieden. Indes billigt die Nato künftig der Uno nur noch den "grundsätzlichen" Vorrang zu. Demgegenüber stehen jene Passagen im Papier über neue Risiken, die das Bündnisgebiet zumindest indirekt bedrohen und die Nato zu (präventiven) Gegenmaßnahmen "zwingen" könnten auch ohne Uno-Mandat.
Noch deutlicher wird die amerikanische Handschrift in den ausführlichen Abschnitten über die anzustrebenden militärischen Fähigkeiten, deren Erwerb durch eine sogenannte Verteidungsfähigkeits-Initiative sichergestellt werden soll. In der Bilanz betrachtet bleibt das Konzept im Bereich der Mandats- und Operationsfrage reichlich vage, was auch zukünftig kontroverse Diskussionen über Legitimität und Legalität von "Out-of-area"-Einsätzen erwarten läßt.
Die Ausarbeitung des Dokuments geht auf einen Beschluß des Madrider Gipfels von 1997 zurück. Die Nato sah sich damals veranlaßt, der sich rasch verändernden europäischen Sicherheitsarchitektur durch die Neuformulierung ihrer zentralen Funktion und Aufgabe zu begegnen. Die noch im Konzept von 1991 erwähnte Sowjetunion existierte nicht mehr, die Balkankriege riefen nach angemessener Reaktion, und immer mehr Staaten des ehemaligen Ostblocks drängten auf eine baldige Aufnahme.
Verschiedene Punkte blieben bis zuletzt umstritten. Noch während des Gipfeltreffens in Washington war eine zusätzliche Verhandlungsrunde der Außenminister notwendig, um den Widerstand der Türkei zu überwinden, die sich gegen die im Dokument explizit erwähnte größere Verantwortung der Europäischen Union in einer zukünftigen euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur gewandt hatte. Die Türkei, aber auch andere europäische Nato-Staaten, die nicht Mitglied der EU sind, dürfen sich nun ausdrücklich an Einsätzen beteiligen, welche die EU/WEU ohne die USA, aber unter Abstützung auf Nato-Strukturen durchführen wollen.
Das strategische Konzept umfaßt 18 Seiten und ist nach der Einleitung in fünf Kapitel eingeteilt. Kapitel eins umschreibt die Funktion und Aufgaben der Nato; dabei wird unter anderem die im Nordatlantikvertrag in Artikel fünf und sechs festgelegte kollektive Verteidigungsbereitschaft (der sogenannte Bündnisfall) bekräftigt. Ein Angriff auf eines der gegenwärtig 19 Mitglieder wird auch in Zukunft automatisch als Angriff auf alle betrachtet. Die Nato soll in ihrer Kernfunktion also ein Verteidigungsbündnis bleiben.
Zu dieser Kernaufgabe neu hinzukommen nunmehr die Bereitschaft und der Wille, Operationen durchzuführen, die nicht unter Selbstverteidigung fallen.
Kapitel zwei, das den Titel "Strategische Perspektiven" trägt, skizziert das strategische Umfeld sowie die Herausforderungen und Risiken, mit denen sich das Bündnis konfrontiert glaubt. Die Allianz bekräftigt in diesem Zusammenhang ihre Entschlossenheit, in den "kommenden Jahren" im Rahmen der "Politik der offenen Tür" weitere Staaten aufzunehmen ohne freilich im Dokument selbst (anders als im Abschlußcommuniqué) einzelne Länder oder genaue Zeitpunkte zu nennen. Voraussetzung hierfür sei, daß "diese Nationen den generellen politischen und strategischen Interessen der Allianz dienen, ihre Effektivität und den Zusammenhalt verstärken sowie die generelle Sicherheit und Stabilität Europas festigen".
Ausdrücklich begrüßt wird die Entwicklung einer Europäischen Sicherheits- und Verteidungsidentität, wie sie der britische Premierminister Blair und der französische Präsident Chirac bei ihrem Treffen in Saint-Malo im Dezember formuliert haben. Die Nato ist bereit, in diesem Rahmen der WEU Mittel für Operationen zur Verfügung zu stellen.
Der Druck auf die europäischen Streitkräfte im Hinblick auf Professionalisierung und Verfügbarkeitsgrad nimmt zu. Von den insgesamt 18 Seiten des strategischen Konzepts befaßt sich etwa ein Drittel mit den aus dem Konzept abzuleitenden Anforderungen an die Streitkräfte der Mitgliedstaaten. Im Hinblick auf die Richtlinien für die Entwicklung der Streitkräfte der Nato-Länder wird erwartet, daß diese den notwendigen Bereitschafts- und Verlegbarkeitsgrad ebenso aufweisen wie die Fähigkeit entwickeln, das breite Spektrum multinationaler, streitkräfteübergreifender Operationen zu bewältigen. Deutlich wird auch, daß damit die USA bestrebt sind, die Technologieschere zwischen europäischen und transatlantischen Partnern nicht noch weiter zu vergrößern. Die Umsetzung dieser Vorgaben durch die europäischen Nato-Staaten würde eine Aufstockung der Verteidigungsbudgets nach sich ziehen, was politisch zur Zeit aber nur schwer durchsetzbar erscheint. Um dem neuen Profil gerecht zu werden, müssen die Europäer ihre Kräfte besser bündeln und den Umbau ihrer Streitkräfte von bloßer Landesverteidigung hin zur mobilen Einsatztruppe für atlantische Interessen forcieren.
Denn: In Kapitel vier des strategischen Konzepts wird unter anderem die Fähigkeit angemahnt, potentielle Aggressoren so früh und so weit vom Bündnisgebiet entfernt wie möglich abzuschrecken. Dabei sollen die Nato-Streitkräfte in der Lage sein, gleichzeitig zur Landesverteidigung und bei Operationen außerhalb des Nato-Gebiets eingesetzt zu werden. Voraussetzung hierfür sei die konventionelle und nukleare Militärpräsenz der USA in Europa, aber auch die bereits erwähnten größeren Anstrengungen der Europäer beim Aufbau einer gemeinsamen Verteidigungsfähigkeit und rascher Verlegbarkeit ihrer Streitkräfte nach außerhalb des Bündnisgebietes.
Die Nato bewertet die seit dem Ende des Kalten Krieges sich ständig verändernden Rahmenbedingungen grundsätzlich positiv, warnt aber vor Unsicherheiten und möglichen Gefahren. Diese umfassen eine große Bandbreite, angefangen vom klassischen Angriffskrieg über sozial bedingte Instabilität und ethnische Auseinandersetzungen in Staaten am Rande des Nato-Vertragsgebiets bis hin zu Terroranschlägen oder der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Das Konzept hält hierbei allerdings etwas verwaschen einzig fest, daß eine angemessene Antwort im gegenseitigen Einverständnis angestrebt werden "soll".
Uno oder OSZE sollen künftig nur noch dann "von Fall zu Fall" das Dach gemeinsamer Operationen sein dürfen, wenn sich die Nato-Staaten darauf einigen.
Die Allianz wird also auf absehbare Zukunft nicht auf (amerikanische) Nuklearwaffen verzichten. Ihr Zweck sei, so hält das Konzept fest, politisch; sie dienten der Abschreckung und seien ein Garant der Sicherheit der Mitgliedsländer. Nicht angetastet wurde im Dokument die Doktrin des möglichen Ersteinsatzes, wie sie noch vor einigen Monaten von deutscher aber auch kanadischer Seite in Frage gestellt worden war.
Die Nato hat erwartungsgemäß in Washington keine zweite Erweiterungsrunde eingeleitet, obwohl im Abschlußcommuniqué die Bemühungen Rumäniens, Sloweniens, der drei baltischen Staaten, der Slowakei sowie Albaniens, Bulgariens und Mazedoniens ausdrücklich "gewürdigt" werden. Auf der Grundlage, wonach die Türen der Nato für alle demokratischen Staaten Europas grundsätzlich offen bleiben, verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs einen sogenannten Mitgliedschafts-Aktionsplan (MAP), der Aspiranten dabei helfen soll, "bündnisfähig" zu werden. Dabei handelt es sich ähnlich wie beim Programm "Partnerschaft für den Frieden" (PfP) um eine Liste von möglichen Aktivitäten, aus denen ein Land individuell und nach eigenem Ermessen jene auswählen soll, die es für sinnvoll erachtet. Einen Automatismus gibt es aber nicht, das heißt, die Teilnahme am MAP garantiert noch keine Aufnahme.
Die Aspiranten haben der Nato in einem genau festgelegten Prozedere einen jährlichen Aktionsplan über Zielsetzungen und deren Erfüllung vorzulegen. Dabei werden sie von Nato-Expertenteams unterstützt. Die auf eine Mitgliedschaft erpichten Länder müssen in den Bereichen Politik, Militär, Finanzen, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit unter anderem folgende Kriterien erfüllen: Einhaltung völkerrechtlicher Prinzipien, Wille zur friedlichen Streitbeilegung, demokratische Kontrolle der Streitkräfte, aktive Teilnahme am Euro-atlantischen Partnerschaftsrat (und damit aktives Mitglied des Programms "Partnerschaft für den Frieden", Wille und Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung, Kosten und Pflichten als Nato-Mitglied, Akzeptanz der im strategischen Konzept festgelegten Rahmenbedingungen, Teilnahme soweit möglich an der integrierten Militärstruktur sowie Modernisierung und Standardisierung der Streitkräfte (also: Einkauf von überwiegend amerikanischen Nato-Waffensystemen).
Von den Anwärtern wird überdies erwartet, daß sie über die finanziellen Mittel verfügen, um die von der Nato geforderten Maßnahmen zur Aufnahme umsetzen sowie an den gemeinsamen Aufgaben der Allianz teilnehmen zu können. Die Nato entscheidet auf der Basis der Erfüllung dieses Anforderungskatalogs jeweils einzeln (19 + 1), ob mit einem Aspiranten Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden. Insgesamt aber sind geäußerte Befürchtungen durchaus realistisch, wonach es zu einer "Zwei Klassen-Gesellschaft" im Rahmen der PfP kommen könnte. Eine solche "Differenzierung" dürfte entlang der Linie zwischen MAP (die eine Nato-Mitgliedschaft anstreben) und den anderen PfP-Partnern verlaufen. Rußland ist aufgrund des Arrangements mit der Nato ebenso von dieser Entwicklung ausgenommen wie die Ukraine.
Der MAP soll spätestens beim nächsten planmäßigen Nato-Gipfel im Jahre 2001 einer Überprüfung unterzogen werden. Mit anderen Worten: Im günstigsten Falle für die EU könnte die zweite Runde der Nato-Osterweiterung gerade mit der ersten Runde der EU-Osterweiterung zusammenfallen, ein Szenario, das wieder einmal deutlich macht, welche Organisation über die größere Handlungsfähigkeit verfügt.
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