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Kiesinger

 
     
 
Geschichte wiederholt sich nicht - und wenn, dann nur als Farce", formulierte der Theoretiker des Sozialismus Karl Marx Mitte des 19. Jahrhunderts.

In der letzten Woche überraschte der Politologe Thomas Gschwend von der Universität Mannheim, der im Jahr 2002 als einziger den Wahlsieg Schröders bis auf die letzte Kommastelle vorhergesagt hatte, die Öffentlichkeit mit der Prognose: "Der nahezu sichere Einzug der Linkspartei in den neuen Bundestag führt zu einem politischen Patt und macht die Bildung einer großen Koalition notwendig. Solange die Linkspartei nicht weniger als acht Prozent erreicht, ist eine schwarz-gelb
e Mehrheit ausgeschlossen."

Behält Gschwend recht, käme es nach dem 18. September zur zweiten Elefantenhochzeit seit Gründung der Republik - und Geschichte würde sich auf verblüffende Weise zumindest partiell wiederholen.

Im Herbst 1966 erlebte das Wirtschaftswunderland Bundesrepublik seine erste Rezession. Kohle, Bau und Autoindustrie schwächelten, 600.000 Arbeitslose standen zu Buche, das Haushaltsdefizit des Bundes betrug drei Milliarden Mark. Kanzler Ludwig Erhard wurde der Verlust der CDU-Regierungsmacht in Nordrhein-Westfalen angelastet. Mit dem baden-württembergischen CDU-Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger stand ein Nachfolger bereit.

Kiesinger, ein gelernter Rechtsanwalt, der als NSDAP-Mitglied und stellvertretender Abteilungsleiter Propaganda unter Ribbentrop im Reichsaußenministerium antijüdische Aktionen gehemmt und verhindert hatte, galt zusammen mit Herbert Wehner, dem Ex-Kommunisten, den es zur Machtteilhabe drängte, als Architekt eines Zusammenschlusses der beiden größten deutschen Volksparteien.

Unmittelbar bevor das Bündnis besiegelt wurde, schrieb Günter Grass sorgenvoll an Willy Brandt: "Ihre Vorstellung vom anderen Deutschland wird einer lähmenden Resignation Platz machen. Die große und tragische Geschichte der SPD wird für Jahrzehnte ins Ungefähre münden. Die allgemeine Anpassung wird endgültig das Verhältnis zu Staat und Gesellschaft bestimmen. Die Jugend unseres Landes wird sich nach links und rechts verrennen, sobald diese miese Ehe beschlossen sein wird." Brandt antwortete dem Literaten: "Es wird kein Zudecken von Versäumnissen und Fehlern und keinen faden politischen Eintopf geben. Für uns ist dies ein neuer Beginn. Wir werden in das neue Kapitel der deutschen Geschichte wesentlich neue Elemente einführen."

Am 1. Dezember 1966 wurde Kiesinger vom 5. Deutschen Bundestag mit 340 zu 109 Stimmen bei 23 Enthaltungen und einer ungültigen Stimme zum dritten Bundeskanzler und ersten einer großen Koalition gewählt. Seinem Kabinett gehörten zehn Minister der Union und neun Sozialdemokraten an, darunter als Vizekanzler der Außenminister Willy Brandt. In seiner Regierungserklärung versprach Kiesinger. "In dieser Koalition werden keine Macht und Pfründen zwischen den Partnern geteilt, keine Mißstände vertuscht und die Kräfte des parlamentarischen Lebens nicht durch Absprache hinter den Kulissen gelähmt werden."

Die SPD-Basis schäumte ob des Koalitionsvertrages so sehr, daß jener Parteitag, der ihn hatte absegnen sollen, um anderthalb Jahre verschoben wurde - als er 1968 schließlich stattfand, kam es zu Tumulten, in deren Verlauf Herbert Wehner zwei Zähne ausgeschlagen wurden.

Das Bündnis hielt eine volle Legislaturperiode. "Eine tüchtigere Regierung", behauptet der Historiker Arnulf Baring, "haben die Deutschen zu keiner Zeit gehabt. Das Verrückte ist nur, daß das danach niemand mehr zugeben wollte."

Bei Amtsantritt, so bekannte später der geschäftsführende SPD-Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt, habe ihn angesichts von Konjunkturdaten und Haushaltsbilanz aus der Erhard-Altlast das "blanke Entsetzen" gepackt - und Schwarz-Rot vor der Aufgabe gestanden, "die deutschen Lebensinteressen zu sichern". Als Schlüsselminister dienten dabei Karl Schiller (SPD) für Wirtschaft und Franz Josef Strauß (CSU) für Finanzen. Im Volksmund wurde das Gespann, in Anlehnung an zwei Figuren Wilhelm Buschs, "Plisch und Plum" genannt. Während sich Kanzler Kiesinger vorrangig als Moderator der Koalition verstand, waren Schiller und Strauß ihre Motoren.

In ihre Leistungsbilanz fielen auf der Habenseite: "Gesetz zur Förderung von Wachstum und Stabilität", zwei milliardenschwere Konjunkturprogramme, Reform der Finanzverfassung, Steueranreize für die Wirtschaft, Einführung von Jahreswirt-

schaftsbericht und mittelfristiger Finanzplanung, von Bund-Länder-Gemeinschaftsaufgabe und Mehrwertsteuer sowie letztlich Kreditspritzen für die darbende Bauwirtschaft. Unter dem Rubrum "Konzertierte Aktion" setzten sich, getrieben von der Bundesregierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften zusammen und entwickelten erfolgreiche Strategien zur Belebung der Wirtschaft. Die Arbeitslosigkeit ging substantiell zurück, die D-Mark wurde zu einer der härtesten Währungen der Welt. Richard von Weizsäcker, damals im CDU-Bundesvorstand, erinnert sich: "Die Wachstumsraten in dieser Zeit lagen bei mehr als fünf Prozent, die Arbeitslosigkeit bei einem halben. Das war schon fast überbordende Vollbeschäftigung. Das verbinde ich eben auch mit der großen Koalition."

Umbau und Renovierung der Republik umfaßten auch andere Gesellschaftsbereiche: Eine Justizreform hob die Verjährung für Völkermord auf und verlängerte sie für Mord. Ehebruch, Homosexualität und Gotteslästerung wurden straffrei gestellt, das Resozialisierungsziel im Strafrecht verankert. In der Deutschlandpolitik schob die große Koalition an, was später ihren Nachfolgerinnen zugeschrieben wurde: Regierungskontakte mit Vertretern der DDR wurden nicht mehr ausgeschlossen. Überdies institutionalisierte Kiesinger den "Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland" - eine parlamentarische Tradition, die bis zur Wiedervereinigung halten sollte.

Grass "miese Ehe" blieb lange stabil, obwohl sie schwerstem Druck von innen und von außen zu widerstehen hatte: Schon 1966 nahmen Studentenunruhen ihren Anfang, die zunächst am Krieg der Amerikaner in Vietnam entbrannt waren. Eine "Außerparlamentarische Opposition" (APO) entstand, die sich gegen Bürgertum und Polit-Establishment wandte und eine "Räterepublik" forderte. 1967 erschoß während einer Demonstration gegen den Schah-Besuch in Berlin der Kriminalhauptmeister Karl-Heinz Kurras den Studenten Benno Ohnesorg. Ein Jahr später verletzte der Anstreicher Josef Bachmann den politischen Kopf der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, mit Schüssen aus einer Gaspistole schwer. In der Bundesrepublik brannten Straßenbarrikaden.

1968 provozierte die große Koalition den ersten Sternmarsch Zehntausender auf Bonn, sein Anlaß: die Verabschiedung einer Notstandsverfassung mit Einschränkungen des Post- und Fernmeldegeheimnisses sowie der Option auf einen Bundeswehreinsatzinsatz bei Unruhen. Das Gesetzespaket trat an die Stelle relevanter Passagen des Deutschlandvertrages der Westmächte von 1954, die sie als "Maßnahmen" zum Schutz ihrer in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte bei Bedrohungen der demokratischen Verfassung ersonnen hatten.

Im Frühjahr 1969 war die D-Mark so stark, daß Franc, Pfund und Dollar immer schwächer wurden. Schiller war bereit, dem Druck der Nachbarländer und der USA nachzugeben und die deutsche Währung aufzuwerten, Strauß strikt dagegen. Die Spannungen zwischen beiden sollten bis ans Ende der Legislatur andauern. Zudem scheiterten Kanzler Kiesinger und sein federführender CDU-Innenminister Paul Lücke mit dem Vorhaben, das Verhältniswahlrecht zu ungunsten kleinerer Parteien wie der FDP in ein Mehrheitswahlrecht nach britischem Muster umzugestalten, am Widerstand der SPD - Lücke trat zurück.

Am 5. März 1969 wählte die SPD, Seite an Seite mit der oppositionellen FDP, in der Bundesversammlung den Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten - gegen den Unionskandidaten Gerhard Schröder. Das Finale der großen Koalition war bereitet, die sozialliberale auf den Weg gebracht. Heinemann sagte: "Es hat sich jetzt ein Stück Machtwechsel vollzogen, und zwar nach den Regeln der parlamentarischen Demokratie."

Am Abend der Bundestagswahl vom 28. September 1969 verkündete Willy Brandt: "Ich habe die FDP wissen lassen, daß wir zu Gesprächen mit ihr bereit sind. Dies ist der jetzt fällige Schritt von unserer Seite."

Am 21. Oktober 1969 wurde Brandt als Nachfolger Kurt Georg Kiesingers vierter Bundeskanzler der Republik, die CDU erstmals in der Nachkriegsgeschichte Oppositionspartei. Die große Koalition war Geschichte ...
 
     
     
 
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