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Insgesamt ist Deutschland, zumal im internationalen Vergleich, ein sicheres Land - wie eine Erfolgsbilanz klingt dieses offizielle Resumee zur Bekämpfung des Verbrechens in Deutschland nicht. Es ist eher ein Abwiegeln. Als "die höchste Kriminalität in Deutschland seit 11 Jahren", kommentieren kritische Medien die aktuelle Kriminalität sstatistik, die Mitte Juni vorgelegt wurde. Das Papier von Bundesinnenminister Otto Schily erweist sich seither als zweifelhafter Sieg der politischen Statistik und als äußerst geduldig.
Es war das übliche Spiel: Bevorzugt präsentierte Schily die Verbrechensfelder, in denen die Zahlen zurückgingen. Doch selbst die auf 54 Prozent (um ein Prozent) gestiegene Aufklärungsquote gibt wenig Anlaß zur Freude - 6,6 Millionen Straftaten, eine neue Rekordmarke. Andere Untersuchungen sowie Berichte über "Zielvereinbarungen" der Polizeispitze erweitern das Ausmaß der Misere. Zahlreiche Delikte, die den Bürger unmittelbar betreffen, sind in neue statistische Höhen geschnellt. Bei der gefährlichen Körperverletzung habe es im Vergleich zu 2003 einen Zuwachs um 5,4 Prozent gegeben, räumte der Minister immerhin ein. Auch beim Internet und wo Computer im Spiel sind, steigt die kriminelle Energie - also fast überall im elektronischen Waren- und Bankgeschäft. Zwölf Prozent Anstieg sind so von 2003 auf 2004 zu verzeichnen. Die Bedeutung des Internets sei eben enorm gestiegen, so die offizielle Deutung. Die Ermittlungsarbeit stieg offenbar nicht mit.
Den erfaßten Gewaltanstieg, darunter Körperverletzung, erklärt das Papier mit einer "erhöhten Anzeigebereitschaft". Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) beklagt dagegen eine allgemein gestiegene Gewaltbereitschaft. So kommentiert der GdP-Vorsitzende Konrad Freiberg die aktuellen Zahlen: "Besorgniserregend ist besonders die erhöhte Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen. Hier stieg die Zahl der Körperverletzungen um 8,6 Prozent".
Die Gewaltkriminalität liege allgemein "auf dem Höchststand der letzten zehn Jahre", so Freiberg weiter. Außerdem schlage Beamten immer öfter offene Feindschaft entgegen, das Klima sei deutlich aggressiver geworden. Beim Widerstand gegen die Staatsgewalt zeige sich dieser Trend: 9,3 Prozent mehr Fälle als im Vorjahr. Schilys Version von der angeblich erhöhten Anzeigebereitschaft und gesunkenen Toleranz gegenüber Gewalt in der Bevölkerung wird so eindeutig widerlegt - auch von der eigenen Statistik. Selbst ältere Bürger fielen laut GdP verstärkt als Täter auf. Die schlüssige Erklärung dafür ist zumindest nicht eine "Überalterung" der Bevölkerung, wie das enorme Ausmaß belegt: seit 1993 stieg der Anteil der über 60jährigen Tatverdächtigen um 50 Prozent.
Drastische Steigerungsraten weist die Statistik auch bei Rauschgiftdelikten auf. Eine "Abhängigkeit vom Kontrollverhalten von Polizei und Verkehrsbetrieben", sprich mehr Kontrollen, gibt das Schily-Papier als Ursache an und wertet den Anstieg daher als Erfolg. Zwar sprechen Erfahrungen von Verbänden für diese Interpretation der Drogenkriminalität, doch gibt es laut der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen auch negative Entwicklungen: Das Drogen-Einstiegsalter sinke. Somit sinkt auch die Hemmschwelle - Kinder und Jugendliche sind öfter von Drogen betroffen und machen sich öfter strafbar - eine düstere Zukunftsprognose.
Verstöße gegen das Waffengesetz stiegen vor allem aufgrund der Verschärfung der gesetzlichen Vorschriften. Viele Waffen wurden 2004 sichergestellt, darunter solche, die ein Jahr zuvor noch legal waren. Also Entwarnung? Mitnichten, denn die Anzahl der kursierenden illegalen Schußwaffen bleibt hoch, das zeigen Berichte der Bundesländer. Diese illegalen Schußwaffen trugen zur Zunahme von Gewaltdelikten bei, obwohl weniger geschossen wurde.
Oft wird Kriminalität nur verschoben: Der Trend geht laut Bundesinnenministerium "weg vom Diebstahl, hin zum Betrug. Betrugsfälle nahmen um sieben Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu. Auch das Erschleichen von Leistungen, kurz Schwarzfahren, hat offenbar in schlechten Zeiten Konjunktur. Auch hier handelt es sich um ein Kontrolldelikt. Schwarzfahrer wurden schlicht zahlreicher polizeilich erfaßt.
Drastisch gesunken sind hingegen Verstöße gegen Ausländer- und Asylrecht - der Bericht führt das kurz und knapp auf die EU-Osterweiterung zurück. Doch in wirtschaftlich schlechten Zeiten und angesichts der Kürzungen bei sozialen und sonstigen staatlichen Leistungen ist Deutschland im europäischen Vergleich für Asylsuchende schlicht nicht mehr attraktiv genug. Der ebenfalls deutliche Rück-gang bei Diebstahl, gerade aus und von Fahrzeugen, ist überwiegend auf technische Prävention, sprich Wegfahrsperren, Alarmanlagen und ähnliche Einrichtungen zurückzuführen, nicht etwa auf mangelnde kriminelle Energie. Verschiebungen in andere Bereiche mit weniger Risiko spielen ebenso beim Versicherungsbetrug die Hauptrolle. Sozial- und sonstige Versicherungen prüfen genauer, Hartz IV eröffnet drastisch weniger Möglichkeiten zum Ausspielen von Sozial- gegen Arbeitsamt (und umgekehrt). Es sind daher in vielen Bereichen nicht polizeiliche oder Sicherheitsmaßnahmen, die für positive Veränderungen sorgen. Ein genauer Blick in das Zahlenwerk lohnt also, zumal offenbar nicht alle Zahlen so zustande kamen, wie es eine sachliche Dokumentation erwarten läßt.
Für einen veritablen Skandal sorgte nämlich unlängst der von der Politik offenbar der Polizei aufgezwungene Umgang mit Verbrechensdaten in Mecklenburg-Vorpommern. Was im nordöstlichsten Bundesland nach Informationen des Nachrichtenmagazins Focus auf breiter Front Eingang in die Statistik gefunden hatte, war schlicht falsch: Geschönte oder bewußt nicht richtig erfaßte Verbrechensdaten hellten das Bild auf. Polizisten, die ihr "Soll", sprich ihre zahlenmäßigen Vorgaben der Poli-zeiführung, nicht erfüllten, mußten mit Disziplinarmaßnahmen rechnen. Höchstgrenzen für Straftaten sowie Mindestaufklärungsquoten waren vorbestimmt. War das Bundesland ein Einzelfall, oder gibt es die "Zielvereinbarungen", sprich Vorab-Anweisungen, was Polizisten zu berichten hatten, auch anderswo? Die überraschend gute Statistik, das "Wunder von Schwerin", wurde vom SPD-Innenminister Mecklenburg-Vorpommerns, Gottfried Timm, im März bekanntgegeben. Eine Anklageschrift ist in Vorbereitung, das ganze Ausmaß noch ungeklärt.
Klar ist zumindest, daß das subjektive Sicherheitsbewußtsein der Bevölkerung bundesweit zugenommen hat. Verwunderlich, angesichts der Schily-Daten. Doch wenn Arbeitsplätze und somit die Existenz in Gefahr sind, tritt das Problem innere Sicherheit statistisch in den Hintergrund. Umfragen zeigen die Themen "Arbeit" und "Arbeitsplätze" ganz vorn auf der Sorgenliste der Bürger. Das Risiko, Opfer eines Verbrechens zu werden, steigt hinter diesen Werten hingegen weiter, wie die Gesamtzahl der Delikte offenbart. Da ist es kein Wunder, wenn auf innere Sicherheit "spezialisierte" Politiker ihre Rückkehr ins Rampenlicht vorbereiten. Ronald Schill wurde bereits mit neuen Gönnern und Geldgebern gesichtet - dem Vernehmen nach plant der einstige Hamburger Innensenator und "Richter Gnadenlos" seine Rückkehr auf die politische Bühne.
Neben der politischen Dimension ist das zumindest schöngeredete Werk aus dem Haus des Bundesinnenministers auch ein Dokument wirtschaftlichen Schadens. Der volkswirtschaftliche Verlust des kriminellen Wachstums ist enorm: Allein beim Ladendiebstahl entstand 2004 ein Schaden von 2,2 Milliarden Euro. Das ergab eine vom Hauptverband des Deutschen Einzelhandels in Auftrag gegebene Studie. Demnach ging zwar der Schaden in diesem Bereich im Vergleich zum Vorjahr um sieben Prozent zurück, doch dem Staat entgingen letztes Jahr durch Langfinger 230 Millionen Euro Mehrwertsteuer. Statt langfristig an Ausstattung und personeller Besetzung der Polizei zu sparen, was die Gewerkschaft der Polizei massiv kritisiert, müßte in die innere Sicherheit investiert werden - von Bund und Ländern.
Doch es wäre nicht das erste Mal, daß Otto Schilys groß angekündigte Vorhaben zur Verbrechensbekämpfung als Luftnummern enden. Bei der Terrorabwehr, einem kleinen, dafür aber brisanten Bereich der Kriminalitätsbekämpfung, bahnt sich beispielhaft das große Versagen an: Gleich mehrere Lieblingsprojekte sind vor der Wahl im Herbst schon rein zeitlich nicht mehr zu realisieren (von inhaltlicher Unreife einmal ganz zu schweigen), darunter das "Sicherheitspaket 3", das unter anderem für mehr Luft- und Seesicherheit sorgen sollte. Sverre Gutschmidt |
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