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Der 2. November 1918 war Markttag in Tilsit. Die Marktleute, die aus den umliegenden Dörfern gekommen waren, um landwirtschaftliche Produkte zu verkaufen, waren unruhig. Schon seit Tagen war zu merken, daß die Disziplin der hier stationierten deutschen Truppen merklich nachließ. An diesem Sonnabend begannen Soldaten plötzlich morgens zwischen 8 und 9 Uhr Landleute und Fischverkäuferinnen zu belästigen und ihnen schließlich die Ware zu entreißen, um sie unter das über die hohen Preise erbitterte Marktpublikum zu verteilen. Die wenigen älteren Polizeibeamten waren machtlos. Die Polizei erbat sich umgehend Hilfe vom Garnisonkommando. Dieses traf mit einiger Verzögerung auch ein und schien der Sache auch bald ein Ende gemacht zu haben. Doch schon gegen 15 Uhr begannen Soldaten und einige Halbwüchsige gemeinsam in der Hohen Straße die Schaufenster einiger Läden einzuschlagen und die Auslagen, insbesondere Zigarren und Alkohol, zu plündern und unter die sich ansammelnde Menge zu verteilen. Das patroullierende Militär schritt kaum mehr ein. Die Befehle der Offiziere wurden praktisch nicht befolgt. Am Abend demonstrierten auch andere Teile der Tilsiter Garnison, die sich vor allem mit der örtlichen Unabhabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD) verbanden. Auf Kundgebungen am 3. November in den Kasernen beschlossen die Soldaten, keinen Dienst mehr zu leisten. Grund für den Aufstand soll angeblich gewesen sein, daß ein Bataillon des Tilsiter Regiments an die Front kommandiert werden sollte.
In der Nacht vom 2. zum 3. November traf schließlich aus Memel der Brigadekommandeur Frhr. v. Gayl ein, der zunächst anordnete, daß die Truppen sich umgehend wieder in Kasernen zurückzuziehen und dort auch zu verbleiben hätten. Dieser Forderung wurde durch das Aufstellen einiger Maschinengewehre der notwendige Nachdruck verliehen.
Am nächsten Tag wurde Bilanz gezogen: Insgesamt rund 40 Läden waren fast vollständig ausgeplündert worden. Der Schaden belief sich auf etwa anderthalb bis zwei Millionen Mark. Unter Zusicherung von Straffreiheit wurden immerhin Waren im Werte von zwanzig- bis dreißigtausend Mark zurückgegeben. Noch am selben Nachmittag wurde durch den Tilsiter Magistrat und die Stadtverordnetenversammlung eine Bürgerwehr gegründet.
Auch in Königsberg wurde nun eine gewisse Unruhe spürbar. Der ostdeutsche Oberpräsident, Adolf v. Batocki, führte noch am 8. November also einen Tag vor Ausbruch der Revolution in Berlin eine Besprechung mit Vertretern aller Parteien durch, um über Gegenmaßnahmen zu beraten. Doch es war bereits zu spät:
Schon seit dem 4. November regierte in Kiel praktisch ein Arbeiter- und Soldatenrat. Und die Entwicklung breitete sich explosionsartig in ganz Deutschland aus, ohne irgendwo auf Widerstand zu treffen. Überall wurden Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die sich selbst als legitime Regierung bezeichneten. In Köln trafen Kieler Matrosen am 5. November ein. In Hamburg war am 6. November der Generalstreik ausgebrochen. Am selben Tag begann der Umsturz in der zweiten großen Basis der Reichsmarine in Wilhelmshaven. Am 8. November wurde der Umsturz in München vollzogen.
Am 9. November schließlich gab der Reichskanzler, Prinz Max von Baden, in der Reichshauptstadt Berlin bekannt, Kaiser Wilhelm II. habe abgedankt, und betraute den Sozialdemokraten Friedrich Ebert mit der Regierung. Gleichzeitig rief Philipp Scheidemann (SPD) die Republik aus sehr zum Ärger übrigens von Ebert. Der Spartakist Karl Liebknecht erklärte nur wenig später die "Freie sozialistische Republik". Die Ereignisse überschlugen sich.
An eben jenem denkwürdigen 9. November erreichten die Aufstände auch Königsberg. Erst zu jenem Zeitpunkt scheint überhaupt die Nachricht der Kieler Revolution bis nach Königsberg durchgesickert zu sein. Die bereits spürbare Unzufriedenheit entlud sich in Demonstrationen und Betriebsstillegungen, die vor allem von Funktionären der USPD veranlaßt worden waren.
Die USPD hatte sich 1917 als eine aus Pazifisten und Revolutionären zusammengesetzte Partei von der Mutterpartei SPD getrennt. Seit der russischen Oktoberrevolution der Bolschewisten wurde die Bindung der USPD zum russischen Sowjetsystem immer stärker. Insbesondere der linke USPD-Flügel sympathisierte offen mit Leninschen Vorstellungen einer "Diktatur des Proletariats", in der es eine demokratische Repräsentation aller Teile der Bevölkerung in einem Parlament nicht mehr gegeben hätte. Der äußerst linke "Spartakus"-Flügel blieb bis zum 30. Dezember 1918, als die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) in Berlin gegründet wurde, Teil der USPD. Königsberg war eine Hochburg der USPD. Sie hatte in ihrer Parteispitze einen starken Anteil von Ostdeutschland. So etwa der Königsberger Arthur Crispien oder der Allensteiner Hugo Haase. Aus dem Königsberger SPD-Organ "Königsberger Volkszeitung" war als Folge der Trennung die gesamte Redaktion ausgeschieden.
Am Abend jenes 9. November versammelten sich in Königsberg Menschen in erregt diskutierenden Gruppen auf dem Münzplatz. Wo Offiziere angetroffen wurden, riß man ihnen die Rangabzeichen ab. Währenddessen tagte im Gewerkschaftshaus der SPD-Bezirksvorstand. Vor allem von Sympathisanten der Unabhängigen (USPD) wurden sie gedrängt, sofort die Revolution in Königsberg auszurufen. Dies wurde jedoch abgelehnt.
Am selben Tag zogen unter der Führung des Königsberger USPD-Mannes Müller, einem Anhänger des Spartakusbundes, vom Schloßplatz 200 bis 300 Leute zur Kaserne in der Kniprodestraße und forderten die Soldaten auf, den Befehl zu verweigern und sich der Revolution anzuschließen. Einige Soldaten sperrten daraufhin ihre Offiziere ein und zogen mit der Menge mit. Der Zug begab sich vor das Militärgefängnis. Dort fand sich eine Infanteriekompanie in schußfertiger Stellung. Doch trotz wiederholter Kommandos "Gebt Feuer!" schoß die Truppe nicht. Die Wachmannschaft ließ die Demonstranten daraufhin ohne weiteres ein und beteiligte sich sogar selbst an der Befreiung der Häftlinge. Die Revolution hatte begonnen.
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