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Herr Professor Rabehl, in Ihrem neuen Buch "Rudi Dutschke - Revolutionär im geteilten Deutschland" zeichnen Sie ein unpopuläres Bild der Studentenrevolte von 1968. Sie sprechen von einer nationalen Revolution. Ergibt sich das aus Ihrem Erleben mit Rudi Dutschke?
Rabehl: Die Idee der national en Befreiung wurde immer von uns angesprochen. Wie sich jetzt herausstellt, war dies stärker bei den Ostdeutschen verankert. Wir als "Abhauer" sind bewußt vor einer russisch-deutschen Diktatur geflohen und nie wirklich im Westen angekommen. Wir hatten Vorbehalte gegen die Rolle der USA im Westen und in der Bundesrepublik. Wir sahen ja auch die Rolle, welche die USA in Vietnam spielte mit Bombenteppichen, Napalm und Entlaubungsmitteln.
Wenn Sie und Dutschke damals nicht im Westen angekommen waren, wollten die 68er vielleicht einen marxistischen Umsturz?
Rabehl: Wir waren bewußt politische Flüchtlinge und sahen die marxistisch-leninistische Theorie als Legitimationsgrundlage für Diktatur, nicht für Demokratie. Insofern waren wir keine Marxisten, sondern wir versuchten Ideen des Marxismus zu verbinden mit psychologischen Ansätzen und Ansichten des Anarchismus und der kritischen Theorie. Dies verband sich mit antikolonialistischen Vorstellungen, wie zum Beispiel von Che Guevara.
Dies sollte aber schließlich in einen anderen Staat führen - in eine andere Demokratie?
Rabehl: So weit haben wir gar nicht gedacht. Uns war lediglich bewußt, daß wir identisch waren mit einer Minorität an studentisch-universitärer Intelligenz. Die Universität war das schwächste Glied in der Gesellschaft, gefolgt von Schule, Gesundheitssystem, Kultur - und ganz langsam wollten wir in Kontakt treten mit dem öffentlichen Dienst und der Arbeiterschaft. Wir wollten eine Alternative darstellen zu den etablierten Parteien, der CDU und auch der SPD. Die SPD war auf dem Weg aus der großen Koalition in die sozial-liberale Koalition, und sie gaben sich als Staatsparteien zu erkennen. Damit wollten wir nichts zu tun haben.
Die Alt-68er, die heute in der Regierung stehen, sprechen von einem "Deutschen Weg" ...
Rabehl: An einen solchen "Deutschen Weg" haben wir nicht gedacht. Wir hatten eine Revolutionstheorie, die in Verbindung stand zu den Revolutionsbewegungen in der dritten Welt, in Lateinamerika, in Vietnam und in Afrika - hier insbesondere in Algerien. Wir waren der Überzeugung, daß die nächsten Revolutionen in Brasilien, im Kongo oder in Asien ausbrechen würden. Wir hofften, daß diese Entkolonialisierung zurückschlagen würde auf die USA und Europa. Wir hofften, die sozialen Schichten würden in eine Normalität zurückkehren, die den konsumellen Wohlstand nicht mehr so hoch bewerten würde, wie in den USA oder zu Deutschlands Wirtschaftswunderzeiten.
Sie kritisieren, daß ein Aufbegehren gegen die konsumelle Bürgergesellschaft amerikanischer Prägung als "Extremismus" gebrandmarkt wird und daß Sie als ein "Wendehals" bezeichnet werden.
Rabehl: Ich habe eher die Befürchtung, mich von meinen Gedanken der 60er Jahre noch nicht weit entfernt zu haben. Wenn man fast 40 Jahre dasselbe denkt - oder zu denken gezwungen ist - scheint etwas nicht zu stimmen. Ich habe mich nicht gewendet. Ich stelle nur dar, was unsere Positionen waren - und wie sie heute aussehen würden. Was die Konsumgesellschaft anbetrifft, referiere ich die Theorie Martin Heideggers und deren Interpretation durch Herbert Marcuse: "Jeder ist der andere - keiner er selbst." Durch die Konsumgesellschaft wird jede Persönlichkeit zerstört, die private, die gesellschaftliche und die politische. Es entsteht ein Konsument, der von außen geprägt und stimuliert wird, der nur noch reagiert und kein Bewußtsein mehr über sich und die Gesellschaft hat. Wir waren gegen diesen Konsumbürger, der politisch instrumentalisiert werden konnte. Dieser Bürger war für uns die Voraussetzung einer demokratischen Diktatur. So haben wir auch die US-Gesellschaft gesehen. Als die Herrschaft einer Machtclique, deren Politik sich nur durch den Einsatz von Propaganda behaupten konnte.
Ist die Situation damals und heute vergleichbar? Leben wir in der Bundesrepublik in einer demokratischen Diktatur?
Rabehl: Ja - ich bin heute davon überzeugter als in den 60er Jahren. Allein die Korruptionsaffären beweisen, daß Cliquen an der Macht sind, die sich auf Gedeih und Verderb bereichern. Es werden undemokratisch riesige Summen verteilt, und die innere Demokratie wird aufgelöst.
Die Gefolgschaften von bestimmten Politikern und Mandatsträgern legen so auch die Verhältnisse in den Parteien fest, so daß Auseinandersetzungen gar nicht mehr stattfinden. Daß innerparteiliche Auseinandersetzungen gar nicht mehr stattfinden sollen. SPD oder CDU verkaufen sich als Marke, und die Bevölkerung kann mehr oder weniger verzagt darüber abstimmen. Sie wählen den mit der besseren Propaganda.
Warum ist Gerhard Schröder gewählt worden ?
Rabehl: Schröder lebt von Fiktion, nicht von Leistung. Aber er gewann die Wahl, weil er sich besser darstellen konnte als Edmund Stoiber. Er tat so, als hätte er Alternativen: das Hartz-Papier oder das Irak-Friedenskonzept. Er stand da wie "blend a-med", strahlend weiß. Die Wahl war für mich ein Indiz. Die Leute waren im letzten Moment umgeschwenkt. Sie sagten, den Bayern, den wollen wir nicht. Wir nehmen eher den mit der hübschen Frau, den, der jugendlich wirkt, wie der Marlboro-Mann. Hier sind alle Techniken der Reklame und Propaganda durchgeschlagen. Die rationale Einschätzung der Wähler, die Bestandsaufnahme von Politik hat vollkommen versagt.
Aber die SPD ist jetzt in einem historischen Tief.
Rabehl: Ja nun - wenn die Wähler sehen, was sie angestellt haben, daß sie die Legislaturperiode eine Mannes verlängert haben, der vollkommen fertig ist, der bankrott ist, der keine Alternativen hat und gar nicht mehr weiß, was er machen soll - besinnen sie sich und wählen konservativ. Dies aber wiederum wegen Versprechungen von Stabilität und Besserung, die ebenso nur fiktiv sein können. Ich denke, es wird überhaupt keine Beurteilung von Politik mehr vorgenommen, sondern die Leute reagieren auf Propaganda.
Ist diese Reaktion auf die Propaganda ein wirklicher Verlust an Identität und Freiheit in der Parteiendemokratie, wie sie eben andeuteten?
Rabehl: Ich möchte mich hier wieder auf Marcuse beziehen. Er war Schüler von Heidegger und Freud. Er stellte fest daß eine psychologische Konditionierung des Massenmenschen in den westlichen Demokratien stattfindet. Der Konsumbürger hat keine "Ich-Identität", keine Persönlichkeit und somit keinen inneren Konflikt. Er identifiziert sich mit einem Fußball-Star, dem Pop-Sänger, dem Manager oder seinem neuen Auto. Dies führt zu einer psychologischen Einbahnstraße. Der kritische Bürger des 19. Jahrhunderts verschwindet. Jetzt haben wir einen Bürger, der ein Bündel ist von Reaktionen, ohne Maßstab und Wille darstellt. Die westlichen Demokratien bauen auf solch einen Konsumenten als Wähler. Jede Partei repräsentiert eine Ware: Sicherheit, Wohlstand, Ordnung, Wachstum ... Ob sie dies wirklich alles herstellen, das heißt realisieren, spielt eine untergeordnete Rolle. Innerlich sind diese Parteien potentielle Diktaturen, weil dort Cliquen sitzen, die nur ihren eigenen Interessen folgen und die bereit sind, primär nur ihre eigenen Interesse zu verwirklichen. Die Toleranz, von der Marcuse in seinem Essay über die "Repressive Toleranz" spricht, darf nie so weit gehen, diesen Cliquen Gefolgschaft zu leisten: als Soldat, als Beamter, als Staatsanwalt, als Richter, als Funktionär, als Arbei-ter oder Bürger ... Demgegenüber steht eine Verantwortungsethik. Diese Ethik steht ganz fundamental gegen die Massenpsychologie als Reaktion und Manipulation.
Diese Ethik hat Dutschke aus dem Christentum?
Rabehl: Dutschke stammt aus pietistischem Elternhaus, das mutterbestimmt war. Zudem stammt er aus einer bäuerlichen, kleinbürgerlichen Familie. Damit ist er ein Christ, wie er in der heutigen protestantischen Realität kaum noch zu finden ist. Er war preußisch-brandenburgischer Christ, der eine ungeheure Verantwortungsethik - nicht Gesinnungsethik entfaltete, die über das Christentum begründet war.
Wie kam es dann zu einem Attentat auf Dutschke?
Rabehl: Ich hänge keinen Verschwörungstheorien nach. Nach einer Aktennotiz bekam Albert Norden, der Sekretär der Westabteilung des Zentralkomitees der SED, einen Brief eines westlichen Verfassungsschutzmitarbeiters, daß die Dienststellen in Hamburg ganz besorgt seien, Bachmann, der Attentäter, sei vom Osten geschickt worden, um Dutschke zu liquidieren. Norden schickte diesen Brief weiter an Mielke, der einen Stasi-Offizier dazu befragte. Dieser antwortet, daß nach dem jetzigen Stand der Kenntnisse, Bachmann nicht von "ihnen" geschickt sei. Da steckt drin: das waren die Russen, das waren die Bulgaren oder es war die Liquidierungsabteilung unter Oberst Beater, worauf diese keinen Zugriff haben. Heribert Schwan analysierte die Aktivität dieser Abteilung bei verschiedenen Morden im Westen, zum Beispiel bei dem Fußballer Lutz Eigendorf.
Sie werden wegen Ihrer Haltung auch als Linksfaschist bezeichnet, nicht zuletzt von sozialdemokratischen Kreisen.
Rabehl: Weder Dutschke noch ich sind beziehungsweise waren Linksfaschisten. In Deutschland gab es ohnehin kaum Linksfaschisten. Vielleicht könnte man Goebels als Linksfaschist bezeichnen, oder die Brüder Strasser. Was Prof. Habermas 1967 vorführte, ist Denunziation. Dutschke wurde so zu einem mythologischen Feind. Er wurde zu einem Feind und Objekt, auf dessen Argumentation und Gedanken man gar nicht mehr eingehen mußte. Ganz platt sagte Prof. Habermas, wer von Aktion und Veränderung spricht, wer den amerikanischen Imperialismus kritisiert, ist Linksfaschist. Marx und Mussolini waren Linksfaschisten, weil sie in die Kommunikationstheorie des Professors nicht passen. Auch beim Irak-Konflikt schreibt er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Ich bin ein Theoretiker, der immer gegen die Gewalttätigkeit war und der für die Kontinuität von Ordnung steht`, da gibt er sich zu erkennen. Prof. Habermas ist ein sozialliberaler Ideologe. Jede Zeit hat ihren Ideologen, er nennt sich zwar Philosoph, aber er ist Ideologe, einer Kommunikation, die es machtpolitisch nicht gibt und nie gegeben hat. Weder zwischen USA und Irak noch zwischen USA und deutscher Re- gierung, noch zwischen Gewerkschaften und Unternehmen gab es je einen herrschaftsfreien Dis-kurs.
Wenn sie jetzt den nationalre- volutionären Charakter der 68er betonen, wollen Sie eine Wiederbelebung dieser politischen Tendenz?
Rabehl: Ich habe inzwischen die konservativen Kreise beobachtet. Bei der Burschenschaft Danubia, bei der ich einen Vortrag hielt, waren viele osteuropäische Studenten. Ich dachte, es sei ein guter Ansatz, daß sich hier westeuropäische und osteuropäische Traditionen verbinden könnten. Doch so geht das gar nicht. Die "Rechte" auch bei der studentischen Elite ist sich nicht einig.
Mit welchem Ziel sollen sich Ost- und Westeuropa nähern?
Rabehl: Um eine andere Diskussion zu erzeugen. Es geht darum, im Prozeß der europäischen Einigung eine kulturelle Identität auch der Deutschen zu schaffen und die eklatante Geschichtslosigkeit zu überwinden. Ich bin zuversichtlich, daß dies auch jenseits der Bürokratie und politischen Klassen in Europa gelingt, daß sich eine europäische kulturelle Identität unter Beteiligung der Völker konstituiert. Das ist jedoch nicht die Sache eines einzelnen und steht auch nicht in dessen Möglichkeiten. Einer ist nur Rufer in der Wüste. Baring hat gerufen, Villmar hat gerufen, Möllemann ruft, und wenn man so will, ruft Schill in Hamburg auch.
Doch zur Zeit tun die Geheimdienste alles, um diese Ansätze zu zerstören. Ich weiß aus der Lektüre der Publikationen der rechten und linken Kreise, daß überall erst einmal die Geheimdienste auftauchen, in Deutschland ist dies vor allem der Verfassungsschutz, aber auch ausländische und vorgeblich befreundete Dienste. Die Amerikaner und der Mossad sind hier sehr aktiv, um Alternativen zu verhindern. Falls man diese Geheimdienste abschütteln kann, die alles chaotisieren, nivellieren und verwirren, dann kann man auch politisch handeln.
Daneben gibt es die Neurotiker, die Schwätzer und Selbstdarsteller, die alles zerreden. Diese und die Geheimdienste werfen sich die Bälle zu. Dieses Zusammenspiel gab es auch damals gegen den SDS. Wenn jedoch eine gemeinsame Sprache gefunden wird, sind die Störer leicht zu überwinden.
(Das Gespräch führte Karl P. Gerigk)
Bernd Rabehl: "Rudi Dutschke, Revolutionär im geteilten Deutschland", Edition Antaios, Taschenbuch, 132 Seiten, 12,20 Euro
Prof. Dr. Bernd Rabehl, geboren 1938 in Berlin, war zu seiner Studentenzeit Aktivist des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes und wichtigster Theoretiker der Studentenbewegungen und der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Er gehörte zur "nationalen Fraktion" des Studentenbundes und war der engste Vertraute Rudi Dutschkes. Heute ist er Professor für Soziologie am "Otto-Suhr-Institut" der Freien Universität Berlin. Er ist tätig im "Forschungsverbund SED-Staat" und war Vertrauensdozent der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Er ist gefragter Experte zu Interna der 68er Bewegung.
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