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Per Eisenbahn durch den polnisch und den russisch verwalteten Teil Ostdeutschlands

 
     
 
Wie kommt man am bequemsten nach Ostdeutschland? Ja, vor dem Ersten Weltkrieg reiste man am besten mit dem Zug. Einen Personenkraftwagen, mit dem man die lange Strek-

ke hätte bewältigen können, hatten damals nur wenige. Und heute? Auch heute kann man wieder mit dem Zug fahren. Das Hamburger Abendblatt macht es - neben anderen Reiseveranstalt
ern - möglich. Es lädt mehrmals im Jahr zu einer sie-bentägigen Schienenkreuzfahrt nach Masuren, Königsberg und Danzig ein.

Ein Hauch von Orient-Expreß umweht diesen Nostalgie-Zug, den Classic-Courier. Mit entsprechendem Ambiente ausgestattet, hat er sich in diesem Sommer wieder auf die Reise nach Osten begeben. Für die 350 Passagiere, einschließlich des Begleitpersonals, gibt es nur Wagen der 1. Klasse mit dem Komfort der siebziger Jahre. Der Sitzplatz ist für die gesamte Reise fest gebucht. Neben den sieben Sitzwagen fahren ein Speisewagen und ein gemütlicher Salonwagen mit Bar und Piano mit. Die Abteile und Gänge sind mit Teppichen ausgelegt. Die mit Gardinen und Blumensträußen versehenen Toiletten werden alle zwei Stunden gereinigt.

Damit es beim Aus- und Einsteigen und bei den Besichtigungen kein Durcheinander gibt, sind die Passagiere in Gruppen zu jeweils 40 Personen eingeteilt und erhalten eine farbige Anstecknadel sowie einen Reiseleiter, der sich durch einen Schirm in der gleichen Farbe zu erkennen gibt. Um die Koffer braucht man sich keine Sorgen zu machen, ein Gepäck-Service kümmert sich darum. 2.600 Kilometer legt der Zug auf der Reise zurück, 980 mit einer E-Lok auf bundesdeutschem sowie 1.620 mit Dieselantrieb auf polnisch und russisch verwaltetem Territorium.

Es fällt auf, daß nicht mehr überwiegend gebürtige Ostdeutschland sich zu solchen, für ältere Menschen doch strapaziösen Reisen entschließen, sondern vielmehr jüngere Menschen, die überhaupt keine Wurzeln in den Ostgebieten haben. Sie wollen sich einfach nur informieren und die Schönheiten dieses Landes, von denen sie schon viel gehört haben, kennenlernen. Andererseits gibt es Söhne und Töchter, die Vater oder Mutter drängen, ihnen ihre Heimat zu zeigen, so eine in Hamburg geborene Frau, die mit ihrer aus Danzig stammenden Mutter diese Reise macht.

Ein bitterer Wermutstropfen trübt die gute Organisation dieser Kreuzfahrt per Zug. Von Hamburg geht es nicht direkt nach Berlin, sondern erst müssen Bremen und Hannover angefahren werden.

Am frühen Abend Ankunft in Posen. Im frühen Mittelalter war diese Stadt die Metropole an der sagenumwobenen Bernsteinstraße und schon im 15. Jahrhundert Messestadt. Am Posener Bahnhof stehen Busse zum Transport in das Hotel Mercure bereit. Nach dem Abendessen wird zu einem Spaziergang mit Führung zum Alten Markt eingeladen. Hier wundern sich die aus Hamburg kommenden Reisenden über das überschäumend bunte Leben und Treiben am Abend im Gegensatz zur toten Hamburger City. Einige Reiseteilnehmer reihen sich ein und nehmen Platz in einer der fröhlich einladenden Marktbuden.

Nach einem frühen Frühstück geht es am nächsten Morgen mit dem Sonderzug nach Thorn weiter. Dort zu Fuß in die noch gut erhaltene gotische Altstadt, die von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Nikolaus Kopernikus wurde hier 1473 geboren. Besonders eindrucksvoll die Burg des Deutschen Ritterordens am Weichselufer.

Der Zug legt dann einen Stopp in Allenstein ein, mit seinem noch gut erhaltenen Schloß aus dem 14. Jahrhundert sowie den eigenartigen Steinfiguren aus dem frühen Mittelalter, den Götzenbildern der heidnischen Pruzzen. Ein Ziel der Reise ist jetzt erreicht: Masuren, eine der schönsten Landschaften Mitteleuropas, die Siegfried Lenz so eindrucks-voll beschrieben hat.

Am Nachmittag winkt ein besonderes Ereignis: ein Grillimbiß auf einem rustikalen Bauernhof. Zu einem reichhaltigen Eß- und Trink-

Angebot kommen volkstümliche Tänze, Lieder und viel laute Musik.

Die Übernachtung an diesem zweiten Reisetag ist in Nikolaiken vorgesehen, im Hotel Golebiewski, einem Haus mit 575 Zimmern und 15 Appartements, typisch für das sich in Nikolaiken entwickelnde Tourismusgebiet. In diesem Hotel ist alles vorhanden: Angefangen vom Kongreßzentrum bis zum Schwimmbad-Komplex mit Saunen, Solarien, Massage-Angeboten, Reitklub, Tennisplätzen, Fahrrädern und jeder Art von Wassersport. Das Frühstücksbufett ist phänomenal, wenn sich in dem Massenbetrieb auch keine rechte Ruhe einstellen will. Hier in Nikolaiken kann man den besten Eindruck von der Schönheit Masurens, dem Land der dunklen Wälder und der kristallnen Seen, gewinnen, vor allem, wenn eine Schiffsfahrt die unendliche Weite der Seen demonstriert.

Da das Schienennetz in Masuren nicht überall gut ausgebaut ist, muß am dritten Reisetag von der Schiene auf die Straße gewechselt werden. Die Fahrt geht in das nördliche Masuren zur Wallfahrtskirche Heiligelinde, die wegen des Orgelspiels mit beweglichen Figuren auf den Orgelpfeifen berühmt ist.

Bei Rastenburg wird die Wolfsschanze mit der Gedenkstätte an die Männer des 20. Juli 1944 besucht. An diesem gespenstisch anmutender Ort werden wie schon damals auch heute noch die Menschen von gefräßigen Mücken geplagt.

Im größten zusammenhängenden Waldgebiet Mitteleuropas, der Johannisburger Heide, steht in Kleinort das Geburtshaus des Dichters Ernst Wiechert, der seine masurische Heimat international bekannt- gemacht hat. Ein kleines Museum in der ehemaligen Försterei zeigt die Stationen seines Lebensweges.

Ein Höhepunkt des Ausfluges an diesem Tage ist die romantische Stocherkahnfahrt auf der Kruttina, einem kristallklaren Flüßchen, das unzählige Libellen umschweben. Die Atmosphäre erinnert an den Spreewald.

Der Freitag soll nun die Begegnung mit der Hauptstadt Ostdeutschlands bringen. Vorsorglich werden die Uhren eine Stunde vorgestellt, also nach der Moskauer Zeit ausgerichtet. Über Allenstein geht die Fahrt durch das Ermland nach Braunsberg zur Grenzstation. Es dauert eine Weile, bis die russischen Grenzbeamten die Pässe und Visen kontrolliert und die Fahrt für den Sonderzug freigegeben haben.

Ein Blick aus dem Abteilfenster vermittelt allen einen Schock. Bei der Fahrt durch die Republik Polen waren allenthalben bestellte Felder zu sehen. Jetzt geht die Fahrt durch eine Landschaft, die mehr einer Tundra ähnelt. Kilometer um Kilometer breiten sich blühende Lupinen aus, von einem geordneten Ackerbau ist weit und breit nichts zu sehen. Und hier ist einmal die Kornkammer Deutschlands gewesen. Eine große Traurigkeit greift um sich, die sich beim Besuch der alten Pregelstadt noch verstärken wird. Die Einfahrt in den alten Königsberger Bahnhof ist allerdings ein Erlebnis, das vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre, wenigstens ein kleines Zeichen von beginnender Normalität der Verhältnisse. Eine Rundfahrt per Bus zeigt, daß es das alte Königsberg nicht mehr gibt. Die ehemaligen Stätten des Glaubens werden heute zweckentfremdend genutzt. Sie wurden umfunktioniert zu Kinos, Theatern oder gar Turnhallen. So wird den Gästen aus der Bundesrepublik Deutschland ein hervorragendes Chorkonzert in einer Kirche geboten, die zu einem Puppentheater umgewandelt worden ist.

Das beste am heutigen Königsberg ist seine Lage in der Nähe der Samlandküste. Im hier gelegenen alten Ostseebad Rauschen findet man noch viele deutsche Spuren. Die Villen aus der Zeit der Jahrhundertwende erzählen von dem einstigen Glanz des Kurortes. Rauschen ist bemüht, ihn wieder aufleben zu lassen, und wirbt mit Erfolg um deutsche Gäste.

Am frühen Nachmittag wird das Königsberger Gebiet verlassen. Es geht zurück ins südliche Ostdeutschland, zunächst nach Frauenburg am Frischen Haff, wo Kopernikus 30 Jahre lebte und forschte. Der Dom aus dem 14. Jahrhundert, der von einer gewaltigen Wehranlage umgeben ist, wird besichtigt. Danach geht die Fahrt am Frischen Haff über Elbing und Dirschau weiter nach Danzig. Hier wird im Hotel "Holiday Inn" Quartier bezogen und am Abend im US-amerikanischen Stil gespeist.

Einen größeren Gegensatz als zwischen den Städten Königsberg und Danzig kann man sich nicht vorstellen. Die polnischen Restauratoren haben ganze Arbeit geleistet und die zerstörte Stadt wieder aufgebaut. Das rechtsstädtische Rathaus am Langen Markt mit seinem 80 Meter hohen Turm, der Artushof, der Neptunbrunnen, das Krantor, die Lange- und die Frauengasse sowie vor allem die größte Backsteinkirche der Welt, die Marienkirche, auch der ehemals zerstörte Bahnhof sind wiederhergestellt.

Nach einem zweistündigen Rundgang durch die alte Hansestadt bringt der Sonderzug seine Gäste durch das fruchtbare Weichseldelta zur Marienburg. Als erste Handlung stellen sich die einzelnen Gruppen zum Erinnerungsfoto an diesem geschichtsträchtigen Ort auf. Die größte Burganlage aus Backstein des europäischen Kontinents, die in jahrelangen Restaurationsarbeiten große Teile ihres ursprüngliches Gesichts zurück- erhielt, wird an diesem Sonntag von ganzen Touristenströmen heimgesucht. Jeder ist froh, nach der strapaziösen Besichtigung wieder im Zug, der schon fast zur Heimat geworden ist, Platz nehmen zu können. Auch das Hotel Mercure in Posen ist schon vertraut. Nur ganz Unentwegte schwingen sich noch zu einem Spaziergang in die Stadt auf. Am Montag morgen heißt es Abschied nehmen.

Wer Lust hat, eine solche Reise mitzumachen, hat dazu im nächsten Jahr mehrfach Gelegenheit. Sie wird 2004 alleine vom Hamburger Abendblatt sechsmal angeboten.

Weitere Angebote finden Sie regelmäßig im Anzeigenteil der Freiheits-Depesche.

Kristel Struck-Paun

Auch im Königsberger Gebiet wird die Normalspur verwendet

Das ostpreussische Schienennetz ist vollkommen veraltet

Classic-Courier: Die Reisenden umweht ein Hauch von Orient-Expreß.
 
     
     
 
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