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Es war ein wunderschöner Sommertag im Juli 1944. Ich war, wie an jedem Wochenende, in meinem Elternhaus in Tulpeningen. Am Montag fuhr ich mit der Kleinbahn zu meiner Arbeitsstelle in die Kreisstadt Schloßberg. Bei meiner Ankunft vermißte ich dort das sonst übliche alltägliche Treiben. Eine ungewohnte Ruhe lag über der Stadt. Die Einwohner waren übers Wochenende evakuiert worden. Die Angestellten der Kreisverwaltung waren noch an ihrem Arbeitsplatz. Infolge andauernder Tieffliegerangriffe konnten wir das Haus am Tag nicht verlassen. In einem Büroraum wurden für die Übernachtung Betten aufgestellt. Einige Kolleginnen übernahmen den Küchendienst, um für das leibliche Wohl zu sorgen. Die Küche eines Privathaushalts in einem gegenüberliegenden Gebäude wurde dazu genutzt. Fast in jeder Nacht gab es Fliegeralarm. Wenn wir in den Abendstunden beim Mondschein einen kleinen Spaziergang außerhalb der Stadt unternahmen, wurden wir von Tieffliegern verfolgt und mußten in den Feldern Schutz suchen. Ein Feuerschein am östlichen Himmel und das Grollen der Kanonen deuteten auf die näherkommende Front hin. Die in der Kreisstadt stationierte Kleinbahn wurde für Verwundetentransporte eingesetzt. Das Umladen der Verwundeten auf dem Kleinbahnhof stand oft auch unter Tieffliegerbeschuß. Eine Schule wurde zum Feldlazarett umfunktioniert.
Da die Front immer näher rück-te, bekam unsere Verwaltung im Oktober ebenfalls den Räumungsbefehl. Wir wurden zur Wahrnehmung unserer eigenen Interessen vorübergehend freigestellt. Mit einer Kollegin fuhr ich dann mit dem Zug zu ihren Großeltern nach Plauen/Vogtland. Dort wurden wir dann auch sehr freundlich aufgenommen. Unsere Verwaltung war inzwischen nach der Kreisstadt Wehlau verlegt worden. In diesem Kreis war auch ein Großteil der Flüchtlinge aus dem Kreis Schloßberg untergebracht. Nach einem kurzen Aufenthalt in Plauen wurden wir schließlich zu unserer Arbeitsstelle zurückbeordert. Im großen Sitzungssaal des Kreishauses Wehlau wurden dann die anfallenden Arbeiten erledigt. In einer Gemeinschaftsküche wurde für unser leibliches Wohl gesorgt.
Wir hofften immer noch auf eine baldige Rückkehr. Doch dann kam am Abend des 21. Januar 1945 auch für uns der endgültige Räumungsbefehl. Das Donnern der Geschütze kam immer näher. Die Front stand kurz vor Wehlau. Es standen für unsere Flucht nicht genügend Fahrzeuge zur Verfügung, so daß einige Kolleginnen zu Fuß bei eisiger Kälte und viel Schnee den Fluchtweg antreten mußten. Dazu zählte auch ich. An Gepäck konnten wir nur das Notwendigste, was wir tragen konnten, mitnehmen.
Es bot sich uns ein trauriges Bild. Trecks und Wehrmachtskolonnen verstopften die Straßen. Menschen suchten ihre Angehörigen. Manches Fuhrwerk lag im Straßengraben. Bei Anbruch des Tages tauchten auch wieder Tiefflieger auf, die aber infolge des starken Nebels ihre Ziele nur ungenügend orten konnten. Nach einem Fußmarsch durch die Nacht waren wir vollkommen erschöpft. Eine Wehrmachtskolonne nahm uns unter Tieffliegerbeschuß auf. Dabei ging auch noch ein Teil unserer wenigen Gepäck-stücke verloren. Auch in diesem Lastwagen nahm uns die Kälte vollkommen ein. Durch das stundenlange Sitzen und die Kälte spürte ich beim Aussteigen meine Beine nicht mehr. Die Soldaten versuchten mit einer Lötlampe wieder Leben in meine Beine hineinzubekommen.
In den Nachmittagsstunden des 22. Januar kamen wir in Tapiau an. Unser Weg führte uns zum Bahnhof. Am Straßenrand lagen tote Pferde und durch Tiefflieger verwundete Soldaten. Am Bahnhof stand ein mit Flüchtlingen überfüllter Zug. Menschen standen auf den Trittbrettern und klammerten sich am Dach des Zuges fest. Für uns war ein Weiterkommen auf diesem Wege nicht möglich. Wieder ergab sich die Möglichkeit, mit einem Wehrmachtsauto mitgenommen zu werden. Am 23. Januar kamen wir in Königsberg an. Die Stadt lag in Trümmern. Nur mit Mühe kamen wir zum Bahnhof. Dort bot sich uns ein trostloses Bild. Menschenmassen standen auf den Bahnsteigen und warteten auf den westwärts fahrenden Zug. Dann lief plötzlich ein Zug aus dieser Richtung ein. Die Weichselbrücke war gesprengt. Es gab keine Möglichkeit mehr, auf diesem Wege herauszukommen. Durch Lautsprecher wurde dann noch der Fluchtweg auf dem Seeweg bekanntgegeben. Viele warteten ab. Wir nahmen die Chance, die sich uns noch bot, wahr. Mit dem Zug, der ebenfalls unter Tieffliegerbeschuß stand, ging die Fahrt dann weiter nach Pillau. Unser Weg führte uns zum Hafen. Dort lagen auch einige Schiffe für die Aufnahme von Verwundeten und Flüchtlingen bereit. Aber diese Schiffe durften nur mit einer Schiffskarte benutzt werden, und diese wurden in erster Linie an Mütter mit Kindern ausgegeben. Wir machten wohl so einen jämmerlichen Eindruck, daß ein Marineoffizier Mitleid mit uns hatte. Er nahm uns mit zu den Unterkünften der Marine, die auch zum großen Teil den Hafen schon verlassen hatte. Ein in der Unterkunft noch anwesender Marinesoldat bekam den Befehl, den Raum zu heizen und für Verpflegung zu sorgen. Dankbar nahmen wir diese Fürsorge an. Dieser Marineoffizier besorgte uns dann auch Schiffskarten, und so konnten wir am Nachmittag des 24. Januar das Schiff "Pretoria" betreten. Das Schiff war aber schon überladen. Zu Fünft konnten wir dann nur einen Platz auf einer Decke am Fußboden finden. Wir versuchten, im Wechsel immer mal für ein paar Stunden zu schlafen.
Infolge Tiefgangs des Schiffes, Minengefahr und Tieffliegerangriffen kamen wir nur sehr langsam vorwärts. Von einem anderen, in Seenot geratenen Schiff wurden noch Flüchtlinge aufgenommen. Da die Fahrt nicht für diesen langen Zeitraum vorgesehen war, mangelte es an Verpflegung, was noch mehr Panik und Angst auslöste. Viele wurden seekrank. Auch ich zählte dazu.
Am 30. Januar 1945 sind wir in Swinemünde, einen Tag später - nach acht Tagen Schiffahrt - läuft die "Pretoria" in den Stettiner Hafen ein. Unser Ziel ist der Bahnhof, der Bahnsteig überfüllt. Wir stehen bis zum anderen Tag. Eine Weiterfahrt nach Berlin ist nicht möglich. Eine Kollegin hatte in Hohenkrug, in der Nähe von Stettin Verwandte. Zu ihnen sind wir dann zunächst gefahren. Dort werden wir auch freundlich aufgenommen.
Da die Front immer näher kam, versuchten wir erneut, von Stettin nach Berlin zu kommen. Ein Sonderzug für Flüchtlinge (Viehwagen mit Stroh) brachte uns dann nach Oranienburg. Von dort fuhren wir mit der S-Bahn nach Berlin. Ich wollte zu meinem Onkel, der in Berlin wohnte. Bei der Ankunft gleich Fliegeralarm. Ich verlor dadurch vollkommen die Orientierung. Nur mit Mühe gelang es mir, nach Oberschönhausen zu kommen. Überall Trümmer und zerbombte Häuser. Völlig erschöpft kam ich bei meinen Verwandten an. Bis zum 17. Februar habe ich mich bei ihnen aufgehalten. Täglich gab es mehrmals Fliegeralarm, Bomben fielen auch in der Nähe. Das Haus hatte auch schon Schäden davongetragen. Am 17. Februar fuhr ich dann zusammen mit einer ehemaligen Mitschülerin zu den Schwiegereltern ihrer Schwester, die in Bitterfeld wohnten. Dort waren wir bis zum 21. Februar. Unsere Fahrt ging dann weiter nach Olbernhau im Erzgebirge. Eine Schulfreundin von mir mit ihrer Familie war schon zuvor nach diesem Ort evakuiert worden. Bei ihnen habe ich mich einige Tage aufgehalten, bis ich dann von der NSV eine Dachkammer zugewiesen bekam. Die Familie in diesem Haus kam mir sehr freundlich entgegen. Sie half mit Kleidung und auch allem Notwendigen aus.
Infolge des einsetzenden Flüchtlingsstromes aus der CSSR wurden im Rathaus Aushilfskräfte gebraucht. Am 28. Februar konnte ich in der Kartenstelle im Rathaus meine Tätigkeit aufnehmen.
In großer Sorge war ich um meine Familie, von der ich über eine längere Zeit ohne Nachricht war. Im April stand dann plötzlich mein Vater vor der Tür. Er war noch in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm eingezogen worden. Durch die Verwandten in Berlin hatte er meinen Aufenthaltsort erfahren. Aber waren auch meine Mutter und Schwester dem Inferno entkommen?
Das Schicksal geht oft seltsame Wege. Durch einen Soldaten, der in Holstein bei einem Bauern stationiert und im Erzgebirge beheimatet war, erhielt ich dann die erste Nachricht, daß Mutter und Schwester in Holstein gelandet und ebenfalls bei diesem Bauern untergebracht waren. Sie hatten noch über die Verwandten in Berlin meine derzeitige Anschrift erfahren.
Mein Vater versuchte dann im Juli 1945 über die damalige Demarkationslinie zu kommen, hatte sich aber zuvor für einen Neubauernhof in Mecklenburg beworben. Er wollte Mutter und Schwester nach dort holen für einen gemeinsamen Neuanfang. Doch sie waren nicht gewillt, in die sowjetisch besetzte Zone zu kommen. Mein Vater gab alles auf und zog zu ihnen nach Holstein.
Mit meinen Großeltern gab es allerdings kein Wiedersehen mehr. Mein Großvater war auf einem Pferdewagen im Flüchtlingstreck einem Herzschlag erlegen. Meine Großmutter wurde von den Sowjets überrollt und kehrte dann zurück nach ihrem Heimatort. Dort ist sie dann verhungert.
Ich fand durch meine Heirat im Jahre 1948 in Olbernhau ein neues Zuhause. Aber die Sehnsucht nach meinem Elternhaus und meinem Heimatdorf in Ostdeutschland wird ein Leben lang bleiben. Nach dem Tod meines Mannes im Jahr 1970 habe ich mich vergeb-lich um eine Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland bemüht. Erst im Jahre 1979 bekam ich als Rentnerin dann die Ausreisegenehmigung aus der DDR.
34 Jahre in der DDR hatten mein Leben geprägt, und somit hatte ich anfangs Schwierigkeiten, mich an einen neuen Lebensstil zu gewöhnen. Ich mußte mich vollkommen neu orientieren. Erst nach der Wende konnte ich auch Kontakt zu ehemaligen Arbeitskollegen und Freunden aufnehmen.
Nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung wurde bekannt, daß der Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR viele Bürger beschattet und ihre politische Meinung und Einstellung beurteilt und aktenkundig gemacht hat. Als ehemalige DDR-Bürgerin war es für mich von großem Interesse, Einsicht in diese Unterlagen zu erhalten. Ich stellte einen Antrag an die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Chemnitz. Von dieser Dienststelle wurde mir dann ein Fragebogen zugesandt, den ich zur Feststellung meiner Identität ausfüllen und mit einer Kopie meines Personalausweises wieder zurückschicken mußte.
Es war eine lange Zeit verstrichen, bis ich eines Tages einen dicken Briefumschlag in Händen hielt. Meine Anspannung war so groß, daß ich diesen gleich öffnete. Darin fand ich Ablichtungen von 17 DIN-A4-Seiten, unter anderem von Privatbriefen, die ich von Verwandten aus der Bundesrepublik erhalten hatte. Selbst darin beiliegende Geldscheine waren kopiert. Die Kopien waren mit Randvermerken wie "Absender und Empfänger sind kirchlich gebunden" und Fragezeichen versehen. Jede Besuchsreise in die Bundesrepublik war mit Daten der Verwandten dokumentiert.
Mehrere Seiten beinhaltet ein Protokoll von einem befreundeten Ehepaar. Bei meiner legalen Ausreise aus der DDR hatte ich in meinem Umzugsgut Gepäck-stücke von diesem Ehepaar mitgenommen. Das galt nach den damaligen Gesetzen der DDR als strafbare Handlung. Die Begründung in dem Protokoll lautet: Beihilfe zum ungesetzlichen Verlassen der DDR. Die Mitnahme der Gepäckstücke wurde dem Staatssicherheitsdienst bekannt, weil das Ehepaar seinen Urlaub in Ungarn nutzen wollte, um in die Bundesrepublik zu kommen. Der Plan mißlang. Das Ehepaar kam in Untersuchungshaft, und meine Post an die Privatadresse wurde vom Staatssicherheitsdienst abgefangen. Dadurch erpreßte man in getrennten Vernehmungen Aussagen über meine Person. Daraufhin wurde vom Ministerium für Staatssicherheit für mich ein Fahndungsersuchen mit einer Einreisesperre für die DDR für ständig ausgesprochen. Im Jahr 1988 wurde diese Entscheidung aufgehoben, da meine Person nicht wieder in Erscheinung getreten war. Das Material wurde für zehn Jahre archiviert.
Nach meiner Übersiedlung in die Bundesrepublik hatte ich zunächst den Wunsch, Freunde in der DDR wieder mal zu besuchen. Dabei wäre ich an der Grenze ohne jede Begründung abgewiesen oder gar verhaftet worden. Von Bekannten war ich aber vorgewarnt worden, und somit hat ein Besuch in der DDR nicht stattgefunde |
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