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Weil sie Deutsche waren

 
     
 
Diese überraschenden Erkenntnisse veröffentlichte die Kopenhagener Tageszeitung "Politiken" in ihrer Pfingstausgabe (Das berichtete). In gleich drei umfangreichen Beiträgen, dazu noch im Kommentar, dokumentierte das linksliberale Blatt die wissenschaftliche Arbeit der Oberärztin Kirsten Lyl-loff, die zugleich Geschichte studiert.

Das Ergebnis der Forschungen bedeutet in und für Dänemark eine beschämende Sensation. Denn bisher wurde die Behandlung der insgesamt geschätzten 200 000 bis 250 000 deutschen Flüchtlinge, die zum Kriegsende nach Dänemark kamen, stets in strahlendem Licht wiedergegeben. Die äußerst humane Betreuung der "ungebete
nen Gäste" hoben Berichterstatter dabei voller Stolz hervor.

Dieses Kapitel der dänischen Geschichtsschreibung muß nun umgeschrieben werden. Mit der Schlagzeile "Dänemark ließ deutsche Flüchtlinge sterben" machte "Politiken" auf Seite 1 auf. Der Bericht hatte sogar den Krieg in Serbien an die zweite Stelle verbannt. Das Blatt sprach von einem "kohlen-schwarzen Kapitel der dänischen Nachkriegsgeschichte": Mehrere tausend deutsche Flüchtlinge – zur Hauptsache Kinder – starben also, weil dänische Behörden und Mediziner ärztliche Hilfe verweigerten, schreibt die Kopenhagener Zeitung. Die Kinder und Säuglinge gingen an Magen- und Darminfektionen, Unterernährung, Scharlach und anderen durchaus heilbaren Erkrankungen hilflos zugrunde.

"Aber die dänischen Ärzte wollten nicht." Bereits vor der deutschen Kapitulation, für Dänemark die Befreiung, wiesen dänische Krankenhäuser deutsche Flüchtlinge ab. Die offizielle Erklärung der Ärzte lautete, so Kirsten Lylloff, "es würde unserem Verhältnis zu den Alliierten schaden, wenn den Flüchtlingen geholfen würde ..."

Die "unmenschliche Behandlung der deutschen Flüchtlinge" – so "Politiken" – schildert die Autorin der Untersuchung zusammen mit ihrer Tochter Michaela Kiser Lylloff, einer Historikerin, in einem zweiseitigen Feuilleton in derselben Ausgabe des Blattes im einzelnen:

"Die ersten deutschen Flüchtlinge kamen am 11. Februar 1945 nach Dänemark. Die große Invasion folgte dann um den 1. April 1945. Sie flüchteten in Panik vor dem russischen Heer über die Ostsee ... Auch deutsche Soldaten kamen in der letzten Phase des Krieges nach Dänemark."

Die Zahl dieser Soldaten wird auf etwa 250 000 geschätzt, davon etwa 50 000 Verwundete. "Ein menschliches Elend", heißt es wörtlich. Und ebenso: "Aber die Dänen waren nach fünf Jahren Besetzung nicht darauf eingestellt, Hilfe oder Mitleid zu leisten."

"Die Bitte der deutschen Besatzungsbehörden an die dänische Zentralverwaltung nach Hilfe bei der Unterbringung und um Lebensmittel wurde abgelehnt. Die Deutschen sollten doch selber Gebäude wie Schulen für die Einquartierung der Flüchtlinge beschlagnahmen ... Und diese Beschlagnahmung führte dann keineswegs zur Klimaverbesserung ..."

Die Flüchtlinge – im wesentlichen Frauen und Kinder (nach Schätzungen über 70 000 unter 15 Jahren) – waren nach Kenntnissen der Autorinnen aufgrund von Hunger, Kälte und Erschöpfung bei ihrer Ankunft in einer elenden Verfassung. Die deutschen Wehrmachtslazarette waren überfordert.

Auch der Vorsitzende des dänischen Ärzteverbandes wurde damals von den Deutschen um Hilfe gebeten. Er schlug – mit Aufforderung des Dänischen Außenministeriums – den Deutschen vor: Ärztliche Hilfe für die Flüchtlinge gegen Freigabe von dänischen Insassen in deutschen Konzentrationslagern.

Die endgültige Antwort der dänischen Ärzteschaft lautete dann am 25. März 1945, daß nur deutsche Patienten mit ansteckenden Krankheiten, die die dänische Bevölkerung bedrohen könnten, oder in äußerster Lebensgefahr zur vorläufigen Behandlung in dänischen Krankenhäusern Aufnahme finden und von dänischen Ärzten betreut werden könnten.

Kirsten Lylloff zieht das Fazit: "Damit waren die deutschen Flüchtlinge den chaotischen Verhältnissen in den völlig überfüllten deutschen Lazaretten überlassen. Das kostete Tausenden deutscher Flüchtlinge das Leben, besonders Kindern."

Im übrigen: Mitte März 1945 kamen die geforderten dänischen Häftlinge mit Hilfe des Schwedischen Roten Kreuzes über Neuengamme frei, zunächst in Lager nach Dänemark und dann nach Schweden, so die Autorin.

Obgleich die Hintergründe dieser Aktion im unklaren bleiben, ist es eine Tatsache, schreibt Kirsten Lyl-loff, daß die Deutschen damit ihren Teil des "Handels" erfüllt hatten – im Gegensatz zur weiter fehlenden ärztlichen Hilfe für die deutschen Flüchtlinge in Dänemark.

Bei der Kapitulation am 5. Mai 1945 ging die Betreuung der Flüchtlinge von der deutschen Besatzungsmacht auf die dänischen Behörden über. Der Übergang war chaotisch und führte zu einer starken Zunahme der Todesfälle unter den Flüchtlingen in den Tagen der Kapitulation.

Die deutschen Flüchtlinge wurden in Lagern hinter Stacheldraht zusammengepfercht, bei einer Zwei-Drittel-Kalorienmenge gegenüber den Dänen und den nichtdeutschen Flüchtlingen. Die Sterblichkeitsrate stieg bei den Säuglingen auf nahezu 100 Prozent, heißt es in der Analyse.

Kirsten Lylloff widerspricht den Angaben im Weißbuch der dänischen Flüchtlingsverwaltung von 1950, daß die höchste Zahl der Todesfälle unter den deutschen Flüchtlingen vor und unmittelbar nach den Strapazen der Flucht und der dadurch bedingten mangelhaften Ernährung eingetreten sei. Der Zustand der Mütter während deren Schwangerschaft habe offenbar eine entscheidende Rolle gespielt, so die bisher offizielle Version.

Kirsten Lylloff: "Jeder Arzt kann feststellen, daß ein Säugling nicht im Juli stirbt, weil die Mutter im März auf der Flucht war; daß ein Säugling nicht im November stirbt, weil seine Mutter im April flüchten mußte. Sie starben vielmehr aufgrund fehlender Fürsorge im Juli bzw. im November."

Die Autorin der Forschungsarbeit, die übrigens in Kürze unter der Überschrift (sinngemäß) "Kann der Eid der Ärzte verbogen werden?" ("Kan lägelöftet gradböjes?") in der angesehenen "Historischen Zeitung" der Kopenhagener Universität erscheinen wird, weist in ihrem Report zusätzlich auf eine Besonderheit in diesem Geschehen hin:

"Nach der Kapitulation überließ Dänemark die ärztliche Betreuung der deutschen Flüchtlinge weiterhin zivilen deutschen Ärzten unter den Flüchtlingen und deutschen Wehrmachtsärzten sowie Krankenschwestern der deutschen Besatzung."

Im August 1945 wurden die letzten deutschen Verwundeten von Dänemark nach Deutschland verbracht. Von den Engländern erreichte Dänemark die Zustimmung, daß 85 deutsche Militärärzte und 360 Krankenschwestern – durch Änderung deren Status’ von Militärangehörigen zu Flüchtlingen – gegen ihren Willen als "ehrenamtliches" Sanitätspersonal in Dänemark verbleiben mußten. Die letzten von ihnen verließen Dänemark zusammen mit den letzten Flüchtlingen erst vier Jahre später, 1949. Die Autorin stellt fest: "Diese erzwungene Internierung ohne Bezahlung war klar im Widerspruch zur Genfer Konvention von 1929!"

Kirsten Lylloff und auch "Politiken" ziehen Vergleiche zum Balkan. Sie schließt ihre Untersuchung mit der Bemerkung: "Man muß erkennen, daß die dänische Volksseele auch anderes als gemütliche Mitmenschlichkeit enthüllt und daß der Balkan nicht das Patent auf Nationalismus und Zynismus besitzt." 1945 sei Dänemark in einer ähnlichen Situation wie Mazedonien gewesen ...

Wie kam es zu der späten Entdeckung des Grauens? Bei einem Spaziergang über einen Friedhof bei Aalborg sind Kirsten Lylloff die deutschen Flüchtlingsgräber aufgefallen. Sie wunderte sich über Hunderte von Kindergräbern mit deutschen Namen. Dies kam ihr merkwürdig vor. Sie ging der Sache nach und kam mit freimütiger Unterstützung des Dänischen Roten Kreuzes, der dänischen Gesundheitsbehörde und des Dänischen Ärzteverbandes an die Archive heran. Material, das bisher nicht ausgewertet worden ist.

In seinem Leitartikel zu der wissenschaftlichen Untersuchung erinnert "Politiken" auch an den Angriffskrieg NS-Deutschlands, an Massenmorde und Verbrechen der Deutschen in Osteuropa.

Dann jedoch kommt die Quittung für Dänemark in dem Kommentar: "Unser Rachegefühl und unsere Gefühlskälte gegenüber den deutschen Flüchtlingen erscheint in einem besonders grellen Licht angesichts der Tatsachen, daß Dänemark nicht Krieg gegen Deutschland führte, daß vielmehr unsere wichtigste Rolle während des Krieges die Lebensmittel-Lieferungen an Hitlers Kriegswirtschaft – mit allem Respekt vor der Widerstandsbewegung – gewesen ist. Daher hatten wir auch eine relativ milde Besetzung ... Unser Selbstbildnis über eine vielleicht unheroische, aber vom Grunde her humane und gemütliche Volksgemeinschaft hält einer näheren Überprüfung nicht stand."

Dänemark ist dabei, seine unbewältigte Vergangenheit – mehr als 50 Jahre danach – aufzuarbeiten. Es gibt auf vielen Feldern erstaunliche Ergebnisse, die erst jetzt ans Tageslicht kommen. Unvoreingenommene Wissenschaftler bringen Licht in einen Teil der jüngeren Vergangenheit des Nachbarlandes, die bisher einseitig im humanen Licht erscheinen sollte. Political correctness auf dänische Art. Der Schleier wird gelüftet: Über die Sonderrolle Dänemarks unter den meisten besetzten Gebieten, über den völkerrechtswidrigen Einsatz deutscher Kriegsgefangener zur Minenräumung im Königreich, über Abschiebung von Juden aus Dänemark nach Deutschland, obwohl keinerlei "Anforderungen" vorlagen, über die unwürdige Behandlung der "Tysker piger", der jungen dänischen Frauen, die sich während der Besatzungszeit mit deutschen Soldaten angfreundet hatten. Kindern, die aus solchen Beziehungen hevorgingen, gaben die dänischen Behörden bis vor kurzem nur widerwillig Auskunft über ihre wahre Identität. 1945 hatte man sie zur Adoption freigegeben.

Nach einem halben Jahrhundert sieht vieles anders aus. Mythen und Selbstgefälligkeit vergehen vor den Fakten. Zumindest in Dänemark.

 
     
     
 
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