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Weltmachtpolitik am Döllnsee

 
     
 
In die Schorfheide, ein großes, zusammenhängendes Waldgebiet nördlich von Berlin, hatte sich der leidenschaftliche Jäger und spätere Reichsforstmeister Hermann Göring bereits Ende der zwanziger Jahre verliebt. Nach der Machtergreifung 1933 war es dann soweit: In seiner Eigenschaft als Preußischer Ministerpräsident erwarb er unweit von Schloß Hubertusstock ein Grundstück zwischen dem großen Döllnsee und dem Wuckersee. Der Architekt
des Berliner Olympiastadions, Werner March, baute Göring zunächst ein einfaches, im skandinavischen Stil gehaltenes Jagdhaus. Es trug bereits zum Andenken an seine 1931 verstorbene schwedische Frau den Namen "Carinhall".

Als Hitler nach Hindenburgs Tod 1934 auch die Position des Reichspräsidenten übernahm, wurde zugleich auch Göring mehr und mehr mit der Repräsentation des Dritten Reiches betraut. Für ihn kein unangenehmer Auftrag, konnte er so doch seine aristokratische Neigung der Selbstdarstellung ausleben. Während Hitler Staatsgäste gern auf seinem Berghof empfing, fehlte ihm bislang ein vergleichbares Domizil. In der Logik derartiger Überlegungen wurde schließlich die Entscheidung gefällt, Carinhall zum "ersten Haus des Reiches" auszubauen, um die Möglichkeit zu haben, ausländische Besucher im Berliner Umland in entsprechender Atmosphäre empfangen zu können. In zwei Bauabschnitten 1936 und 1939 wurde die Jagdhütte zu dem berühmten Waldhof erweitert, der noch heute die Phantasien bewegt. Göring selbst griff immer wieder in die Planungen für das üppige Landhaus und den Garten ein. Mit der Ausführung des Baus wurde die heute vor dem Bankrott stehende Philipp Holzmann AG beauftragt. Die Gesamtkosten betrugen letztlich etwa 15 Millionen Reichsmark; rund eine halbe Million jährlich kostete der Unterhalt des pompösen Hauses.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges ranken sich die wildesten Gerüchte und Spekulationen um die prunkvolle Residenz des einstigen Reichsmarschalls in der Schorfheide. Görings Sammelleidenschaft – in Carinhall waren Gemälde, Skulpturen, Teppiche, Möbel usw. im Wert von mindestens 600 Millionen Reichsmark vereinigt – sowie doppeldeutige Äußerungen von ihm selbst in Nürnberg haben immer wieder Abenteurer und Schatzsucher angelockt. Nach wie vor kommen wilde Gerüchte über geheime Bunkeranlagen und unterirdische Gänge nicht zur Ruhe.

Zum Mythos Carinhall haben nun Volker Knopf und Stefan Martens das bislang beste und aufschlußreichste Buch zusammengetragen (Görings Reich. Selbstinszenierungen in Carinhall. Ch. Links Verlag Berlin 1999). Die Autoren sind aufgrund ihrer umfassenden Recherchen davon überzeugt, daß es auf dem Gelände "nichts mehr von Wert" zu holen gibt. Ihre minutiöse Dokumentation der Geschichte des Waldhofes läßt kaum noch Fragen offen. Dennoch wird auch weiterhin ein gewisser geheimnisumwobener Schleier den Höhenrücken zwischen den beiden märkischen Seen umspannen.

Denn Carinhall war mehr als nur ein gewöhnlicher Landsitz. Von Anfang an hatte Göring den Ehrgeiz, aus seiner Residenz eine Art Lebenswerk zu machen. Zwar gehörte sie dem Staat, und er hatte nur Wohnrecht auf Lebenszeit, doch sollte Carinhall auf ewig mit seinem Namen verbunden bleiben – wenigstens dieses Ziel hat er erreicht. Immer wieder wurde der Waldhof ergänzt und vervollkommnet. In seiner letzten Form umfaßte er einen gewaltigen, zweigeschossigen Mittelbau, in dem u. a. Görings Arbeitszimmer, die Große Halle und der Festsaal untergebracht waren. Davon gingen die langen Wirtschafts-, Gäste- und Bibliotheksflügel nach Osten hin ab. Sauna, Kegelbahn, Tennisplatz und Kino sorgten für Erholung und Unterhaltung der Gäste. Zu den technischen Besonderheiten von Carinhall gehörte neben der Fußbodenheizung die mechanische Reinigung der Abwässer. Im Frühjahr 1944 ließ Göring für seine Tochter das sogenannte "Edda-Schlößchen", ein Nachbau des Potsdamer Schlosses Sanssouci im Maßstab von eins zu zehn, im Garten aufstellen.

Zahlreiche ausländische Gäste sind von Göring in seinem Waldsitz in der Schorfheide empfangen worden, unter ihnen der ehemalige US-Präsident Hoover, der Herzog von Windsor und spätere englische König Edward VIII., die Monarchen von Bulgarien und Jugoslawien oder natürlich Mussolini. Doch Göring, der einst Ämter und Kompetenzen wie Jagdtrophäen angehäuft hatte, verlor im Krieg zunehmend an Macht und Einfluß. Nach dem schweren Bombenangriff auf Köln 1942 übte Hitler erstmals offen Kritik an der Luftabwehr des Reichsmarschalls. Nach der Ernennung Speers zum neuen Rüstungsminister im selben Jahr mußte er Zug um Zug seine wirtschaftlichen Befugnisse an des Führers Lieblingsarchitekten abgeben. Infolgedessen zog sich Göring immer mehr in sein Refugium zurück und hortete in Carinhall seine in ganz Europa zusammengesuchten Kunstschätze, unter ihnen so berühmte Gemälde wie da Vincis "Leda" oder Rubens’ "Venus und Adonis". Anläßlich seines 52. Geburtstages am 12. Januar 1945, als halb Deutschland bereits in Schutt und Asche versunken war, legte der nominell noch immer zweite Mann im Staate seinen erstaunten Gästen Pläne für das "Hermann-Göring-Museum" vor, das sich südlich an Carinhall in Richtung Wuckersee anschließen sollte. In ihm wollte er die "bedeutendste Kunstsammlung Norddeutschlands" der Öffentlichkeit zugänglich machen; zu seinem 60. Geburtstag 1953 sollte dieser dritte Erweiterungsbau fertiggestellt sein.

Tatsächlich aber war zu diesem Zeitpunkt bereits das Ende Carinhalls abzusehen. Um die alliierten Bomber abzulenken, hatte die Wehrmacht in den letzten Kriegsmonaten am Lübelowsee eine einfache Holzattrappe der Waldresidenz aufgestellt. Als jedoch die Niederlage unausweichlich war, ließ Göring höchstpersönlich einen Tag nach Hitlers Geburtstag am 21. April 1945 seinen prächtigen Waldhof durch eine Pioniereinheit der Luftwaffe mit 24 Fliegerbomben zerstören. Bis heute ist der Verbleib der meisten Kunstschätze ungeklärt.

Den letzten Rest erledigte die Nationale Volksarmee nach dem Krieg. Zunächst besetzte die Rote Armee den zertrümmerten Waldhof und riegelte ihn bis Juni 1946 hermetisch ab. Systematisch durchsuchten die Russen das Gebiet und die umliegenden Dörfer nach Kunstgegenständen. Dabei wurde auch die Gruft Carin Görings am Wuckersee geschändet. In den fünfziger Jahren ebnete die NVA das geschichtsträchtige Gelände ein und forstete es mit schnell wachsenden Bäumen und Sträuchern auf – so schnell wie möglich sollte Carinhall verschwunden und vergessen sein. Damit kamen die Kommunisten im übrigen Görings Wunsch nach, der nichts mehr der Nachwelt von seiner Residenz überlassen wollte. Doch auch sie blieben der Schorfheide treu. Honecker pflegte im ehemaligen Hohenzollern-Jagdschloß Hubertusstock zu residieren; Staatsgäste wie auch Bundeskanzler Schmidt 1981 wurden gern von ihm im erhaltengebliebenen Gästehaus von Carinhall am anderen Ufer des Döllnsees empfangen.

Mit ihrem Buch wollten Knopf und Martens den "Mythos Carinhall" zerstören. Tatsächlich aber haben sie ihn wohl neu belebt.

 
     
     
 
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