|
Bekanntlich versammelten sich vor 80 Jahren die Staatsführer der Siegermächte des Ersten Weltkriegs in Paris, um Deutschland und seinen besiegte Verbündeten die Friedensbedingungen aufzuerlegen. Zur gleichen Zeit trafen sich in Ber über 100 sozialistische Delegierte aus 27 Ländern, um sich ebenfalls Gedanken über die Gestaltung einer gerechten Friedensordnung in Europa zu machen.
Mit Bulgarien, Deutschland und Deutsch-Österreich einerseits und Frankreich Großbritannien, Italien, Rußland und Kanada andererseits waren auch die Hauptkriegsmächte des Weltkrieges vertreten. Doch sorgte nicht deren Teilnahme fü Spannungen auf der Konferenz, sondern das Auftreten der Sozialist en aus den sogenannte "jungen Staaten". Sie hatten sichtlich Mühe, sich nicht vom überschäumende Nationalismus ihres Volkes überwältigen zu lassen.
Dies um so mehr, als sich bei den nichtdeutschen Völkerschafte Österreich-Ungarns eine feindselige Stimmung gegen die Habsburger entwickelt hatte, die vielerorts bereits Züge von Haß annahm.
Im Rausch von "Sieg" und "Befreiung" hatten die Tscheche inzwischen nicht nur ihren neuen Staat ausgerufen, sondern bis zum Zusammentritt de Berner Sozialisten-Konferenz auch Aktionen ins Werk gesetzt, die mit dem Prinzip vo Freiheit und Selbstbestimmung nicht zu vereinbaren waren. So hatten sie in November/Dezember 1918 innerhalb Böhmens und Mährens sowie Sudeten-Schlesiens auch jen Gebiete militärisch besetzt, die nicht von Tschechen oder Slowaken besiedelt waren sondern zum größten Teil von Deutschen. Auch waren die tschechischen Autoritäten scho verschiedentlich mit ihren Ansprüchen und Forderungen an die Deutschen und die Österreicher vorgeprescht. Ihr Gründer-Präsident Tomas Masaryk hatte wiederholt sein territorialen Erwartungen vorgestellt und seinen Außenminister Edvard Benesc entsprechend instruiert.
Die sechs tschechischen Delegierten: Rudolf Bechyne, Edmund Burian, E. Franke, Anto Hempl, Antonin Nemec und Rudolf Tayerle schienen in Bern gleichfalls einschlägi beeinflußt.
Als ihr Sprecher trat Antonin Nemec ("Anton Deutscher") auf der Konferenz au und stemmte sich sogleich gegen eine Resolution, welche die Delegierten im Rahmen ihre grundsätzlichen Entschließungen einmütig gefaßt hatten. Sie nannte sic "Allgemeine Resolution die territorialen Fragen betreffend" und beinhaltet geradezu beispielhaft ausgewogene Forderungen an die Staatslenker. Es hieß dari wörtlich zu den neuesten Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa:
"Den jetzt zutage tretenden Tendenzen, die Staatsgrenzen unter Ausnützung de durch den Krieg geschaffenen Machtverhältnisse festzusetzen, stellt die international sozialistische Konferenz folgende Grundsätze entgegen:
1. Geltung des Rechtes der Völker, ihr Schicksal und ihre staatliche Zugehörigkei selbst zu bestimmten;
2. In umstrittenen Gebieten Entscheidung über die Zugehörigkeit durc Volksabstimmung;
3. Der Schutz der Nationalitäten, Minoritäten und Majoritäten ist zu sichern durc ein Minimum von festgesetzten Rechten."
Mit Blick auf die aktuellen Vorgänge der jüngst vergangenen Wochen an Brenner un Etsch stellten die in Bern versammelten Sozialisten weiterhin unmißverständlich klar:
"Die Konferenz protestiert gegen jeden Versuch, die genannten Grundsätze zu verfälschen und verwirft deshalb:
1. Das Recht des Siegers auf Beute, und alle Bündnisverträge, die einem Staate fü seinen Eintritt in den Krieg einen Gebietszuwachs auf Kosten fremder Natione zusichern."
Eine Verweigerung, welche die italienischen Delegierten Peroni, Rossetti und Silvestr von der im Mai 1918 gegründeten "Unione Socialistia Italiana" vor die Wah zwischen internationaler Solidarität und nationalen Interessen stellte. Italien hatt bekanntlich in einem geheimen Bündnisvertrag mit Großbritannien 1915 die Zusicherung vo London erhalten, nach einem gewonnenen Krieg Südtirol zu bekommen, wenn es auf die Seit der Entente-Mächte überträte.
Eine Versuchung, welcher die damals amtierende Regierung in Rom trotz bestehende Bedenken und einiger pazifistischer Strömungen doch nicht widerstehen konnte. Die Sozialisten verwarfen in Bern derartigen Länderschacher öffentlich und verurteilten de weiteren ausdrücklich:
"2. die Festsetzung von Grenzen nach strategischen Gesichtspunkten;
3. gewaltsame oder verschleierte Annexionen aufgrund sogenannter historische Ansprüche oder angeblicher ökonomischer Notwendigkeiten;
4. die Schaffung von vollzogenen Tatsachen durch vorgreifende militärische Besetzun strittiger Gebiete;
5. Schaffung jeder ökonomischen oder politischen Einflußsphäre."
Wie die Ereignisse im November 1918 ausweisen, war mit den "verschleierten ode gewaltsamen Annexionen" sowie der "Schaffung vollzogener Tatsachen" die Vorgehensweise der Polen und Tschechen in Oberschlesien beziehungsweis im Sudetenlan gemeint. Angeblich realisierten sie mit diesen Besetzungen "historisch Ansprüche", wie ihre Vertreter Roman Dmowski und Edvard Benesch in Versailles un St. Germain den Friedensmachern vortrugen. Für Dmowski waren Ost- und Westpreußen sowi Pommern und Schlesien "historische polnische Westgebiete" und Benesc vertrat im Verein mit Masaryk den Anspruch auf die "historischen Grenzen de einstigen Kronländer". Die seit Jahrhunderten dort ansässige deutsche Bevölkerun suchte man in ihrer Zahl herabzudrücken oder als Ergebnis jüngstvergangener Einwanderun hinzustellen. Da die Verliererstaaten zur Friedenskonferenz nicht zugelassen waren konnten sie die falschen Angaben der polnischen und tschechischen Vertreter nicht sofor berichtigen.
Genau dieser Entwicklung wollten die Sozialisten mit ihrer Resolution in Ber entgegentreten, um einen "dauernden Frieden zu gestalten". Wie das Protokoll de Konferenz ausweist, ist die von ihrem Vorsitzenden, Paul Mistral (Frankreich), angestrebt Einstimmigkeit für die zitierte "Allgemeine Resolution die territorialen Frage betreffend" nicht erreicht worden. Den tschechischen Vertretern erschien sie zu deutschfreundlich und für ihren jungen Staat unannehmbar.
Ihre ablehnende Haltung rechtfertigend ließen sie durch ihren Sprecher Nemec de anwesenden Genossen die beruhigenden Zusicherungen geben:
"Wenn die deutschen Genossen klagen, sie würden in ihrem Selbstbestimmungsrech vergewaltigt oder es könnte ihnen bei uns ein Unrecht geschehen, kann ich euc versichern: Das ist absolut ausgeschlossen; und wir haben es unseren Parteigenossen in Böhmen gesagt: Dasselbe Recht, welches wir für uns Tschechoslowaken beanspruchen dasselbe Recht soll auch euch zuteil werden. Durch nichts dürft ihr behindert werden in eurer nationalen Entwicklung, durch gar nichts."
Die während Nemecs Rede zu hörenden Zwischenrufe deuteten auf eine sic anschließende lebhafte Diskussion über seine Ausführungen hin. Tatsächlich nahm auc gleich danach der deutsch-österreichische Delegierte Dr. Wilhelm Ellenbogen das Wort un unterstrich die Forderung nach Einlösung des versprochenen Selbstbestimmungsrechtes "Wir verlangen für die Deutschen Österreichs den selbständigen Staat, nicht meh und nicht weniger, als daß die Deutschen Österreichs künftig selbst bestimme können." Und auf einen Zwischenruf Antonin Nemecs antwortete er sarkastisch "Wenn Sie so sicher sind, daß die Deutsch-Böhmen zu Ihnen gehören, warum lasse Sie sie dann nicht selbst entscheiden?", und fügte sogleich hinzu: "Und wa sagen Sie dazu, Genosse Nemec, daß die selbstgewählten Vertreter Böhmens verjagt un verfolgt werden, daß der Genosse Seliger nur durch die Flucht einer Verhaftung entgange ist?"
Damals war der Sozialdemokrat Josef Seliger zum stellvertretenden Landeshauptman Deutsch-Böhmens gewählt worden und hatte am 1. November 1918 seine Regierungsgeschäft in Reichenberg aufgenommen. Von dort war er zusammen mit der Landesregierung un Landesversammlung Deutsch-Böhmens erst kurz vor der Besetzung Reichenbergs durc tschechische Truppen am 16. Dezember 1918 nach Wien ausgewichen. Ellenbogen, erklärte Sozialist und Pazifist, fragte Nemec weiter: "Wie stehen Sie dazu, daß nac viereinhalb Jahren eines mörderischen Krieges nunmehr Ihre Truppen den Krieg fortsetze und noch immer Blutopfer verlangen?", um abschließend zu beteuern:
"Wir deutschen Sozialdemokraten Österreichs wünschen nichts anderes, als da uns der Kongreß unser natürliches, unser selbstverständliches Recht zugesteht, da Recht, unsere Zugehörigkeit allein zu bestimmen. Wir wollen von den Tscheche nichts!"
Von Sympathie begleitet und Zustimmung getragen konnte sich Josef Seliger fühlen, als er den Wunsch der Deutsch-Österreicher nach Anschluß an das Deutsche Reich vortrug. Al stellvertretender Landeshauptmann Deutsch-Böhmens, das sich einmütig unter die staatliche Hoheit Deutsch-Österreichs gestellt hatte, und als Mitglied de deutsch-österreichischen Delegation war er vielfach dafür legitimiert. Am Schluß seine Rede kam Seliger auf die problematischen Versuche der Tschechen zu sprechen, die nichttschechischen Völkerschaften Böhmens und Mährens sowie der Slowakei gegen ihre erklärten Willen der Tschecho-Slowakei zuzuschlagen. Er referierte in Bern nicht vo Hörensagen, sondern berichtete von selbst Erfahrenem. Und das auch, wenn er über de Anschluß-Wunsch der Deutsch-Österreicher ausführte: "Ich kann hier die Erklärun abgeben, daß es der Wille der übergroßen Mehrheit des deutschen Volkes in Österreic ist, mit der großen deutschen Mutternation im Reiche vereinigt zu werden. Das ist nich mehr und nicht weniger als die Erfüllung der alten demokratischen Forderung, für die schon in der bürgerlichen Revolution 1848 in Deutschland gekämpft wurde."
Auf das von interessierter Seite ausgestreute Gerücht, daß keineswegs "di Gesamtheit des deutsch-österreichischen Volkes den Anschluß an Deutschland" wolle entgegnete der sudetendeutsche Sozialdemokrat: "Demgegenüber möchte ich nur auf de Beschluß unserer Nationalversammlung verweisen, der vor wenigen Tagen einstimmig gefaß wurde, daß Deutsch-Österreich gewillt sei, sich Deutschland anzuschließen. Hier als liegt eine unzweifelhafte Willenskundgebung des deutschen Volkes in Österreich durc seine einzig berufenen legitimen Vertreter vor."
Auf das Schicksal seiner engeren Landsleute, der Sudetendeutschen, abschließend zu sprechen kommend, wandte sich Seliger mit der Befürchtung an die "tschecho-slowakischen Genossen": "Wenn der tschecho-slowakische Staat in der Weise zustande kommt, daß Völker gewaltsam in seine Grenzen hineingepreßt werde und es sollen ihrer mehrere sein so ist ein solcher Staat nicht möglich als demokratischer Staat. Ich möchte unsere tschechischen Genossen davor warnen, eine solch Politik mitzumachen, denn sie werden das, was sie damit erreichen, weder vor de Geschichte noch vor ihrem eigenen Gewissen verantworten können."
Die tschechischen Genossen und ihre Regierung schlugen Josef Seligers Warnung jedoch in den Wind, wie die nachfolgenden Ereignisse bitter bestätigten. Unter Zustimmungn ihre europäischen Alliierten zwangen die Tschechen die rund 3,5 Millionen Sudetendeutschen in ihren Staat und hielten alle Proteste mit Waffengewalt nieder.
Die Deutsch-österreichische Nationalversammlung in Wien erinnerte am 6. September 191 in einem dramatischen Appell an das Gewissen der alliierten Politiker noch einmal an da Selbstbestimmungsrecht ihrer nunmehr fremdbeherrschten Landsleute und erklärte:
"In schmerzlicher Enttäuschung legt die Nationalversammlung Verwahrung ein gege den leider unwiderruflichen Beschluß der alliierten und assoziierten Mächte (so nannte sich die Siegermächte), dreieinhalb Millionen Sudetendeutsche von den Alpendeutschen, mi denen sie seit Jahrhunderten eine politische und wirtschaftliche Gemeinschaft bilden gewaltsam loszureißen, ihrer nationalen Freiheit zu berauben und unter die Fremdherrschaft eines Volkes zu stellen, das sich selbst als ihr Feind bekennt", un fuhr ganz im Sinne der Rede Seligers in Bern fort:
"Ohne alle Macht, dieses Unheil abzuwenden und Europa die unvermeidlichen Wirre zu ersparen, die aus dieser Versündigung an dem heiligen Recht einer Nation erwachse müssen, legt die deutsch-österreichische Nationalversammlung die geschichtlich Verantwortung für diesen Ratschluß auf das Gewissen jener Mächte, die ihn trotz unsere ernstesten Warnungen vollziehen."
Josef Seliger blieb es erspart, die befürchteten Wirren noch selber zu erleben, da e bereits am 18. Oktober 1920 in Teplitz-Schönau knapp 81jährig starb. Die sudetendeutschen Sozialdemokraten ehrten sein Andenken durch die Widmung ihre Gesinnnungsgemeinschaft auf seinen Namen. An der Spitze diese "Seliger-Gemeinde" standen so verdienstvolle Männer wie der bereits verstorben Wenzel Jaksch und der heute noch in Bayern lebende Volkmar Gabert.
Josef Seligers Berner Gegenspieler und tschecho-slowakischer Genosse Antonin Neme mußte die von ihm mitverantworteten Folgen der tschechischen Fehlentscheidungen auc nicht mehr mit ansehen. Er starb im Jahre 1926 |
|