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Wir wollen freie Menschen sein

 
     
 
Am 17. Juni drängen sich bereits um 7 Uhr die Menschen auf dem Straußberger Platz. Nahezu alle Ost-Berliner Betriebe gehen auf die Straße. Die etwa 12.000 Arbeiter vom Stahl- und Walzwerk Henningsdorf nördlich von Berlin beseitigen die Straßensperren nach West-Berlin. Mit dem Deutschlandlied
auf den Lippen marschieren sie bei strömendem Regen, zum Teil barfuß, durch den französischen Sektor unbehindert nach dem über 20 Kilometer entfernten Ost-Berlin. Inzwischen haben sich in Ost-Berlin die Massen mit dem Ziel "Haus der Ministerien" in Marsch gesetzt. In Sprechchören fordern sie die Senkung von Arbeitsnormen und Preisen und unter der Parole "Wir wollen keine Sklaven sein!" die Beseitigung der Zonengrenze, freie Wahlen und die Wiedervereinigung Deutschlands. In diesem Sinne wird im Angesicht der Roten Armee das höchste Symbol des sowjetischen Sieges über Deutschland von 1954 - die rote Fahne - durch zwei OstBerliner Arbeiter vom Brandenburger Tor heruntergeholt und von der wütenden Menschenmenge verbrannt. Im Feuer sowjetischer Maschinenwaffen wird anschließend die Bären-Fahne Berlins (fraglich, da nur in einer "Quelle" erwähnt!) gehißt - wahrhaft ein Fanal für Ehre, Freiheit, Vaterland.

Im Zuge der Massenaktionen kommt es zu verlustreichen Zusammenstößen, zunächst mit der Volkspolizei und später mit der Roten Armee, die mit zwei gepanzerten Divisionen nach Berlin geworfen wird. Gegen 12 Uhr fallen die ersten Schüsse. Um 13 Uhr wird von den Sowjets der Ausnahmezustand verhängt. Der Sturm auf das Haus der Ministerien und damit der endgültige Sturz des SED-Regimes wird allein durch den Einsatz der sowjetischen Truppen verhindert. Ab 21 Uhr herrscht in Ost-Berlin die von den Sowjets erzwungene Ruhe. Die Sektorengrenzen werden abgeriegelt.

Die Verluste des 17. Juni sind nicht genau zu ermitteln. Seitens der Demonstranten dürften es mehr als 200 Tote und über 1.000 Verletzte gewesen sein (andere Quellen gehen weit über die vorgenannten Verlustzahlen hinaus und geben auch hohe Verluste der Gegenseite an). Außerdem fällte die sowjetische Militärjustiz - soweit bekannt - 19 Todesurteile, wovon 18 vollstreckt wurden, und die SBZ-Justiz weitere drei Todesurteile. Genauere Angaben sind über die deutschen Opfer der dem Aufstand folgenden Rachejustiz ermittelt worden. Danach wurden 1.383 Teilnehmer zu insgesamt 4.100 Jahren Zuchthaus, Arbeitslager oder Gefängnis verurteilt.

Eine spontane Volkserhebung war am 17. Juni in der Lage, in einem von der Roten Armee besetzten Land das kommunistische Satelliten-Regime in wenigen Stunden zusammenbrechen zu lassen. Allein der Einsatz der Besatzungstruppe rettete die Ulbricht-Clique, die bereits am Morgen des 17. Juni von Semjonow im sowjetischen Hauptquartier in Sicherheit gebracht worden war. Die katastrophale moralische Niederlage, die das Sowjetregime hierdurch erlitten hatte, versuchten die SED-Funktionäre in Ost-Berlin und deren Befehlshaber in Moskau mit der Behauptung zu vertuschen, der Aufstand sei von "faschistischen Banden" und von "westlichen Pro-vokateuren und Agenten" inszeniert worden. Als angebliche Beweise hierfür dienten ihnen vor allem die Veröffentlichungen in der westdeutschen Zeitschrift Der Spiegel vom 9. Juli 1952, in denen von einem so gut wie fertigen westdeutschen Generalstabsplan für den Tag X, den Tag der Wiedervereinigung, berichtet wurde.

Aber auch in der aktuellen Situation des 16. und 17. Juni 1953 fanden die Bolschewisten im Westen "nützliche Idioten". So behauptete die amerikanische Agentur Associated Press in jenen Tagen des Aufstandes, daß der Streik von den Sowjets im Zuge des "Neuen Kurses" inszeniert worden sei, um der SED "demokratische Zustände" vorzuexerzieren". Diese Meldung stiftete großen Schaden und verwirrte hin- sichtlich des Zustandekommens des Aufstandes auch die Bundesregierung und Kanzler Adenauer. Natürlich gab auch Der Spiegel damals vor, Beweise zu liefern, nach denen die Demonstranten des 17. Juni von den Sowjets organisiert und erst später von West-Berliner Stoßtrupps in eine falsche Richtung, nämlich zum "Haus der Ministerien", gedrängt worden seien. Weder im Osten noch im Westen hatte man also damals - wie auch am 9. November 1989 - Ahnung von der wirklichen Volksstimmung: Die wahren Ursachen für die Gleichartigkeit der Aktionen der Aufständischen am 17. Juni in der gesamten Zone sind allein in der für alle dortigen Deutschen gemeinsamen historischen Erfahrung und Bedrückung unter dem Sowjetregime zu suchen - allerdings verbunden mit dem Mut, der Härte und patriotischen Gesinnung der Kriegsgeneration.

Aus Angst vor Krieg und weltpolitischer Krise lehnte der Westen jegliche Unterstützung des Aufstandes am 17. Juni 1953 ab.

Das galt auch für die Bundesregierung in Bonn, die zur Besonnenheit mahnte und vor Provokationen gegen die Besatzungsmacht warnte. So dachte man auch nicht an politisch-diplomatische oder ökonomische Schritte gegen den Osten und wagte auch keinen Aufruf zu Sympathiekundgebungen unter Glockengeläut und kerzenhaltenden Menschenketten, wie das später für die Polen und heute für jeden durch Jugendbanden zu Schaden gekommenen Asylanten geschieht. Es handelte sich eben damals nur um die deutschen "Brüder und Schwestern" von "drüben".

Zwar wurde der 17. Juni in Westdeutschland als "Tag der Deutschen Einheit" zum gesetzlichen nationalen Feiertag erklärt, aber nicht einmal in Bonn wurden ab Mitte der 60er Jahre wenigstens die eigenen Beamten und die Soldaten der Bundeswehr zur Teilnahme an öffentlichen Gedenkfeiern aufgerufen. Der 17. Juni war schließlich in der Bundesrepublik nichts weiter als ein arbeitsfreier Tag.

 
     
     
 
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