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Zeit-Wende

 
     
 
Die "umfassende und lebendige Erinnerung an den 17. Juni 1953" gehöre "zur historischen Gerechtig-keit ebenso wie zu einer gerechten Gestaltung der Zukunft", ließ DIE ZEIT ihren politischen Korrespondenten Robert Leicht schreiben. Bei soviel "Gerechtigkeit" liegt der Gedanke an die 99 Gerechten nahe, über die im Himmel nicht soviel Freude herrschen werde wie über den Sünder, der bereut. Freuen wir uns also, dem biblischen Vorbild folgend, über DIE ZEIT. War sie doch während der Jahrzehnte der deutschen Teilung mit ihrer Einschätzung der DDR ein besonders prominente
r Sünder, der publizistisch erheblich zur Stabilisierung und weltweiten Etablierung des kommunistischen Regimes beigetragen hat.

Heute legt sich DIE ZEIT richtig ins Zeug: Schon in der Überschrift konstatiert Leicht den "späten Sieg der Geschichte über Gleichmut und Propaganda". Zum guten Schluß verlangt er sogar, statt des 3. Okto-ber wieder den 17. Juni zum Feiertag zu machen. Und in einem weiteren Beitrag bezeichnet Rudolf Steiniger den 17. Juni 1953 als "den Anfang vom Ende der DDR" .

Das alles klang früher ganz anders: Hatte doch 1986 der damalige ZEIT-Chefredakteur Theo Sommer nach einer Reise in den real existierenden Sozialismus über den DDR-Machthaber Honecker festgestellt: "Die Bürger des anderen deutschen Staates bringen ihm fast so etwas wie stille Verehrung entgegen", und das "Verhältnis zwischen Volk und Obrigkeit in der DDR ist entspannter als je zuvor".

Diese drei Jahre vor der selbstbe-freienden Revolution des Jahres 1989 gegebenen Einschätzungen Sommers nannte der Marxismus-Experte Konrad Löw "das mit Abstand Dümmste", was über die DDR geschrieben worden sei. DIE ZEIT sei damit zu "Honeckers unbezahlbar wertvollem Sprachrohr in der freien Welt" geworden.

Damit stand damals die Zeit nicht allein, genau so, wie sie auch heute mit ihrer neuen Einschätzung des 17. Juni nicht allein stehen will. Die deutsche Öffentlichkeit und die Medien haben nach 50 Jahren den 17. Juni als einen Tag entdeckt, der Ausdruck deutschen Freiheitswillens ist und zu den ruhmreichen Tagen unserer Geschichte gehört. Dieser Tag reiht sich in eine großartige Freiheitstradition der Deutschen, die endlich in unser allgemeines Geschichtsbild gehört und sich vor aller Welt sehen lassen kann.

Statt dessen ist ganzen Generatio-nen junger Deutscher die Ge-schichtsklitterei eines "deutschen Sonderweges" in der europäischen Geschichte eingetrichtert worden. Dazu gehört die obrigkeitsstaatliche Linie, die von Luther über Friedrich den Großen zu Bismarck und schließlich direkt zu Hitler geführt haben soll. Dieser Generalangriff auf die deutsche Geschichte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Schweizer Theologen Karl Barth ebenso geführt wie von dem kommunistisch gesteuerten Antifa-Block und Teilen der amerikani-schen und britischen Literatur. Die-ses unterschiedlich motivierte, aber zeitliche Zusammentreffen brachte es mit sich, daß in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts der antitotalitäre Grundkonsens in Deutschland zerbrach und der Kommunismus wegen seiner angeblich "positiven Motivation und seines humanistischen Anliegens" verharmlost wurde. Die sogenannten 68er sind Kinder dieser Zeit. Als ihr politischer Arm, die Grünen, in den Bundestag eingezogen war, blieben sie am 17. Juni mehrheitlich der Gedenkstunde fern und gingen damit auf Distanz zur Freiheit. Das gleiche traurige Schauspiel boten sie auch Jahre später am 9. November 1989, als nach Bekanntgabe des Mauerfalls spontan das Deutschlandlied angestimmt wurde.

Nicht wenige Deutsche meinen, einem Volk anzugehören, das im Gegensatz zu anderen aus säbelrasselnden Militaristen und servilen Untertanen bestünde, wenn ihm Demokratie und Freiheit nicht von außen als Geschenk gebracht worden wären. Alle Deutschen sollten jedoch erkennen, daß der deutsche Beitrag zu Freiheit und Demokratie in Europa von großer historischer Bedeutung ist. Luthers "Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen." war eine der großen Offenbarungen neuzeitlichen Freiheitsbewußtseins und der Selbstbestimmung des einzelnen. Diese deutsche Revolution kämpfte um die Freiheit der Persönlichkeit, ohne ihre Gottesbindung und die zum Volk zu leugnen. Der große bretonische Religionshistoriker und Schriftsteller Ernest Renan sagte dazu 1870: "Deutschland hat die bedeutendste Revolution der neueren Zeit, die Reformation gemacht." Die Städtefreiheiten des Mittelalters, die föderalistischen Strukturen des Deutschen Reiches brachten im Gegensatz zu den zentralen Großstaaten mehr Überschaubarkeit und Freiheiten, so daß sich brutale Guillotine-Revolutionen nicht entwickelten und Deutschland seinen Weg ruhiger und friedlicher gehen konnte als die Westeuropäer. Später war es die von Kant geprägte Aufklärung, "der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", wie sie der große Königsberger Philosoph de- finierte, die große Wirkungen auf das gesamteuropäische Geistesleben ausübte und die mit dem kategorischen Imperativ die Gemeinschaftsbindung des Menschen und die Notwendigkeit traditioneller Regelbindung im Zusammenleben der Menschen hervorhebt.

Auch die preußischen Reformer am Beginn des 19. Jahrhunderts, deren überragende Gestalt der Reichsfreiherr vom und zum Stein war, riefen nicht zu blutigen Revolutionen auf, sondern wollten aus Untertanen Bürger machen, aber nicht individualistische Selbstverwirklicher, sondern der Selbstverwaltung fähige Bürger. Die patriotische schwarz-rot-goldene Bürgerbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts, die lebhaften politischen Auseinandersetzungen im viel geschmähten Bismarck-Reich, das Aufkommen der Sozialdemokratie dokumentieren freiheitlich-demokratische Überzeugungen ebenso wie das mutige Nein der Sozialdemokraten zu Hitlers Ermächtigungsgesetz. Der Widerstand des 20. Juli 1944 zur Ehrenrettung des Vaterlands und schließlich der 17. Juni 1953 sind Ausweis demokratischer, freiheitsliebender Gesinnungen und Taten, ebenso wie der deutsche Beitrag zur Verteidigung der Freiheit Europas gegen das sowjetische Weltherrschaftsstreben. Die friedliche Revolution des Jahres 1989 gegen den Kommunismus reiht sich würdig in diese Tradition der deutschen Freiheit ein.

Der Sozialdemokrat Georg Leber nannte 1985 in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages den 17. Juni "ein Bekenntnis zu Werten und Freiheiten und Rechten, die das Fundament unseres Grundgesetzes ausmachen. Das ist deutsche Identität". Einen schlechten Dienst würde Lebers Partei heute Europa erweisen, wenn sie dazu beitrüge, daß der erste Außenminister Europas von der Partei gestellt würde, die vor dem Gedenken an den 17. Juni mehrheitlich davonlief. Auch DIE ZEIT darf das nach ihren Darlegungen zum 17. Juni nicht wollen.

 
     
     
 
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