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Ein wichtiger Wegbereiter bei der Entwicklung einer EU-Volksgruppenpolitik war immer das Europäische Parlament, vor allem mit Blick auf Volksgruppen in der EU selbst. Das bedeutendste Gremium hierbei ist die 1983 von dem Südtiroler Abgeordneten Joachim Dalsass ins Leben gerufene Intergruppe Minderheitensprachen, die gegenüber den verschiedenen Ausschüssen des Europäischen Parlaments darauf achtet, daß minderheitenrelevante Aspekte Eingang in die Gesetzgebung finden. Das Hauptaugenmerk richtete sich dabei auf die Finanzausstattung der schon erwähnten Haushaltslinie B3-1006.
Seit 1979 haben einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments eine Reihe von Resolutionen entworfen, die eine Verbesserung der Lage von Volksgruppen in der EG/EU forderten. Am 16. Oktober 1981 wurde die ARFE-Entschließung (ARFE = Vereinigung der Europäischen Grenzregionen) verabschiedet, welche die Kommission aufforderte, zur Lage von Regionalsprachen und -kulturen in der EG zu berichten und Sprachlernprojekte durchzuführen. Die Resolution wurde zur politischen, wenn auch nicht rechtlichen Grundlage von Haushaltslinie B3-1006.
Am 30. Oktober 1987 folgte die Kuijpers-Resolution, in der die Mitgliedsstaaten zur Anerkennung ihrer Minderheiten und zur Annahme eines ganzen Maßnahmenkatalogs aufgefordert wurden. Ferner wurde die offizielle Anerkennung der Intergruppe seitens des Parlaments anvisiert, was aber trotz dieses Beschlusses auch in den folgenden Jahren ein vergebliches Anliegen bleiben sollte. Eine weitere bedeutende Entschließung war die Killilea-Resolution vom 9. Februar 1994.
Vergeblich waren bislang Versuche aus den Reihen des Parlaments, den Volksgruppenschutz im Gemeinschaftsrecht zu verankern. Ein 1984 von Alfons Goppel vorgelegter Bericht zielte auf die Kodifizierung kultureller, sozialer und politischer Minderheitenrechte in der EG. Nach der Überweisung an den Rechtsausschuß legte Franz-Ludwig Graf von Stauffenberg 1988 den Entwurf einer Charta vor. Dieser enthielt sowohl individuelle wie kollektive Rechte. Wegen des Widerstands von Teilen der Europäischen Volkspartei (EVP, deutscherseits durch CDU und CSU repräsentiert) sowie der Überlastung des Rechtsausschusses kam es nicht zu einer Annahme. Auch dem später von Siegbert Alber übernommenen Entwurf war kein Erfolg beschieden. Was blieb, waren verschiedene Versuche, die vergangenen Regierungskonferenzen durch Änderungsanträge direkt zu beeinflussen. Jüngst kam es zur Gründung einer Intergruppe Staatenloser Nationen, die sich verstärkt den ethnischen Minderheiten wie etwa den Basken annehmen möchte.
Was Volksgruppenkonflikte außerhalb der EU anbetrifft, hat sich das Parlament mit dem Kurdenkonflikt befaßt. So verzögerte es den Abschluß des Zollunions-Vertrags mit der Türkei um mehrere Monate und forderte 1996 von der Kommission, dem Land Mittel aus dem MEDA-Demokratie-Programm nicht zur Verfügung zu stellen. In den Gemeinsamen Parlamentarischen Aus- schüssen mit den EU-Beitrittsbewerbern kommt der Minderheitenschutz gleichfalls zur Sprache.
Darüber hinaus überwacht das Parlament auch die Brüsseler EU-Kommission unter deren Präsidenten Romano Prodi bei der Führung der Beitrittsverhandlungen. So forderten 1999 und 2000 zwei Entschließungen zu den Regelmäßigen Berichten über die Tsche- chische Republik die Prager Regierung auf, die Benesch-Dekrete abzuschaffen. Der CDU-Europaabgeordnete Hartmut Nassauer bezeichnete es mit Blick auf die Sanktionen gegen Österreich als "absurd und heuchlerisch", daß die Tschechische Republik nicht stärker auf ihre Völkerrechtsverletzungen hingewiesen werde. Erhielte ein EU-Mitglied Gesetze wie die Benesch-Dekrete aufrecht, müsse es mit Sanktionen gemäß Artikel 7 des EU-Vertrages (EUV) rechnen.
Auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs lassen sich Bezüge erkennen, die für nationale Minderheiten wichtig sind. So stützte der Gerichtshof, kurz EuGH genannt, das in Südtirol geltende Proporzsystem, wonach öffentliche Stellen gemäß den Bevölkerungsanteilen von Deutschen, Ladinern und Italienern vergeben werden. Es war dies also kein Verstoß gegen Artikel 39 des EG-Vertrages (EGV). Auch der Schutz des Gälischen in Irland gestattet restriktive Maßnahmen. Zuletzt entschied das Luxemburger Gericht, daß Schutzbestimmungen für Deutschsprachige in Südtirol auch von deutschsprachigen EU-Ausländern in Anspruch genommen werden können. Dieses Modell läßt sich fortan auch auf andere Regionen ausdehnen. So kann beispielsweise einem Österreicher vom Gemeindeamt der belgischen Stadt Malmedy eine deutschsprachige Auskunft nicht mit dem Hinweis verweigert werden, er sei kein deutschsprachiger Einwohner Malmedys.
Wie der Blick auf die sehr unterschiedlichen Aktivitäten der verschiedenen EU-Institutionen zeigt, gibt es die einheitliche Minderheitenpolitik der EU nicht. Es sind vielmehr Minderheitenpolitiken, die sich schwer im europäischen Volksgruppenschutzsystem mit seinen nationalen, zwischenstaatlichen und staatenübergreifenden Ebenen einordnen lassen. Das liegt nicht zuletzt daran, daß das Engagement der EU entweder auf die Volksgruppen innerhalb der EU oder auf diejenigen außerhalb gerichtet ist. Querverbindungen sind noch selten, so daß der Vorwurf "doppelter Maßstäbe" nicht unberechtigt ist nämlich, daß die EU strenger gegenüber den mittelosteuropäischen Ländern auftritt, die eigenen Volksgruppen aber mit dem Hinweis vernachlässigt, nicht zuständig zu sein.
Eine Reihe von Reformschritten sind notwendig, die bislang eher zufällig in die gleiche Richtung gehenden Politikansätze zu vereinheitlichen und aufeinander abzustimmen. Voraussetzung wäre zunächst, der EU Kompetenzen im Bereich des Volksgruppenschutzes zu verleihen. Das könnte in Form der Annahme einer überarbeiteten Fassung des Charta-Entwurfs von Stauffenberg/Alber geschehen, und zwar spätestens während der "Nach-Nizza"-Regierungskonferenz 2004. Käme es dazu nicht, so könnten sich Mitgliedsstaaten auch im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit Fragen des Volksgruppenschutzes zuwenden.
Darüber hinaus sollten institutionelle Verbesserungen vorgenommen werden. Ein die verschiedenen Institutionen zusam- menbringender Lenkungsausschuß bekäme die Aufgabe übertragen, die volksgruppenbezogene Arbeit der unterschiedlichen Einrichtungen zu kanalisieren. Ihm gehörten einerseits der Vorsitzende eines neuen Unterausschusses für Minderheitenfragen im Europäischen Parlament an. Dieser Ausschuß würde die Intergruppe Minderheitensprachen ablösen und wäre an den Rechtsausschuß angebunden. Andere Mitglieder wären Vertreter eines vergleichbaren Ausschusses des Rats der nationalen Fachminister (kurz: EU-Ministerrat), der Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschüsse sowie der Leiter einer zu gründenden Abteilung Minderheiten in der EU-Kommission.
Diese Abteilung sollte in der Generaldirektion Bildung und Kultur angesiedelt werden, wo das Sprachenprogramm schon jetzt betreut wird. Die Verankerung in der Generaldirektion Außenbeziehungen hingegen könnte schnell zu einem Konkurrenzkampf mit außenpolitischen Erwägungen werden, bei dem die Minderheiten-Abteilung wohl den Kürzeren zöge. Etwa, wenn ein wichtiger auswärtiger Partner der EU Volksgruppen im eigenen Land unterdrückt und ein und dieselbe EU-Institution darüber entscheiden müßte, ob man die guten Beziehungen zugunsten jener Volksgruppe gefährdet oder lieber gute Miene zum bösen Spiel macht.
Innerhalb der Abteilung entstünde schließlich ein Referat "Unterstützung für Minderheiten/DAVID-Programm". Dort wäre "DAVID" zu verwalten, eine aus dem Minderheitensprachen-Programm sowie den volksgruppenspezifischen Teilen der drei PHARE-Programme gegossene Maß- nahme, die bildlich gesprochen David (Minderheiten) gegen Goliath (Mehrheiten) helfen soll.
Die Bewertung der EU-Beitrittsbewerber würde fortan von einem Referat "Minderheiten in den Bewerberstaaten" wahrgenommen. Unterstützt von international renommierten Experten in einem "Wissenschaftlichen Beirat für Minderheitenfragen", entstünden dann die Beurteilungen für die Regelmäßigen Berichte nicht mehr in der Generaldirektion Erweiterung. Ein "EU-Volksgruppenforum" sollte ferner als jährliche Konferenz Kontakte mit den Verbänden der Volksgruppen, vertreten in der Föderalistischen Union Europäischer Volksgruppen (FUEV, Flensburg), institutionalisieren.
Ein drittes Referat erhielte die Bezeichnung "Konfliktbewältigung und Versöhnungsmaßnahmen" und übernähme Projekte der Regionalpolitik, die bislang dem Friedensprozeß in Nordirland im Rahmen eines Sonderunterstützungsprogramms zugute kamen. Die Ausweitung der Aktivitäten auf andere Spannungsregionen (Baskenland, Korsika, Zypern) würde folgen. Schließlich achtete ein kleines Referat "Indigene Völker" wie bisher in der Generaldirektion Entwicklung der Fall auf die Berücksichtigung der Rechte autochthoner (angestammter) Völker bei Projekten der Entwicklungszusammenarbeit. (Schluß)
Mehr Informationen enthält die Studie "The Minority Policies of the EU", die der Autor am Europa-Kolleg in Brügge verfaßt hat.
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