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Hinsichtlich der Beantwortung der Frage, wie es zur "Machtergreifung" der Nationalsozialisten kommen konnte, lassen sich zwei Schulen unterscheiden. Die einen sehen die Ursachen in den internationalen Rahmenbedingungen (Versailles, Weltwirtschaftskrise etc.) und neigen deshalb mehr oder weniger stark zu der Schlußfolgerung, daß etwas Vergleichbares auch in einem anderen Land hätte passieren können. Die anderen hingegen halten den Nationalsozialismus für ein spezifisch oder zumindest typisch deutsches Phänomen und suchen die Ursache(n) für die NS-Herrschaft bei den Deutschen (Kollektivschuldthese), eine Sichtweise, die von den Siegermächten verständlicherweise bevorzugt wird.
Eher der letztgenannten Gruppe zuzurechnen ist die in der Bundesrepublik weit verbreitete These vom "deutschen Sonderweg". Bei der Suche nach dem Beginn dieses "deutschen Sonderweges" wird weit über 1933 hinaus in die Geschichte gegriffen. So wird in diesen Kreisen bedauert, daß im Altertum die Römer von Arminius oder Hermann dem Cherusker geschlagen wurden, weil die Germanen sich damit der Zugehörigkeit zum römischen Reich und damit der westlichen Zivilisation entzogen hätten. Da der "deutsche Sonderweg" zum Dritten Reich geführt habe, müsse Deutschland nun zum normalen Weg zurückkehren. Als solcher wird wie selbstverständlich der westliche betrachtet.
Auch vor diesem Hintergrund ist die Politik der Bundesregierung zu sehen, in der Bundesrepublik das deutsche, auf dem ethnischen Herkunftsprinzip beruhende Staatsangehörigkeitsrecht durch das französische zu ersetzen, demzufolge für die Staatsangehörigkeit die Staatsgrenzen entscheidend sind. Dabei wird gerne übersehen oder verschwiegen, daß anders als das angeblich rassistische deutsche das französische Staatsangehörigkeitsrecht und die dahinter stehende Ideologie Imperialismus und zügelloser Expansion Tür und Tor öffnen, denn wenn ein Staat sich nicht mehr über die ethnische Herkunft seiner Angehörigen definiert, kann er alles ohne Rücksicht auf die ethnische Herkunft der dort Lebenden annektieren, ohne in Widerspruch zu seinem eigenen Selbstverständnis zu geraten. Ein Beispiel hierfür ist das französische Kaiserreich. Napoleon hat neben anderen Teilen Norddeutschlands Hamburg zum Bestandteil des Em-pire erklärt. Hingegen ist nicht einmal Hitler auf die Idee gekommen, etwa Hamburgs südfranzösische Partnerstadt Marseilles zum Bestandteil des Deutschen Reiches zu proklamieren.
Ein anderes Beispiel ist die Französische Republik. Als aus der 48er Revolution die Zweite Republik hervorging, gehörte zur vom Königreich übernommenen Erbmasse auch das 1830 eroberte Algerien. Da sich Kolonialismus nur schwerlich mit den französischen Revolutionsidealen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vereinigen läßt, wurde noch im Jahre der Republikgründung die Kolonie annektiert, sprich zu einem Teil Frankreichs. Ein Teil der über die Jahrzehnte französisch beeinflußten algerischen Intelligenz stand diesem Gedankenkonstrukt nicht grundsätzlich negativ gegenüber. Auch sie erkannte, daß der logische Umkehrschluß sein mußte, daß ihre Landsleute die französische Staatsbürgerschaft und mit ihr die selben staatsbürgerlichen Rechte erhalten wie die (ehemaligen) Kolonialherren. Diese Konsequenz der eigenen Ideologie zog Paris jedoch nicht.
Vielmehr erließ die nach dem Zweiten Weltkrieg gegründete Vierte Republik 1947 ein Algerienstatut, das zwar parlamentarische Selbstverwaltung vorsah, dessen Wahlrecht allerdings die Franzosen und die wenigen privilegierten Algerier gegenüber der Masse der Araber eklatant bevorzugte. Nichtsdestotrotz hatte bei den noch im selben Jahr stattfindenden Gemeindewahlen die oppositionelle "Bewegung für den Triumph der demokratischen Freiheiten" (MTLD / Mouvement pour le triomphe des libertés démocratiques) einen Erfolg, der ausreichte, daß die (ehemaligen) Kolonialbehörden mit Wissen Paris die folgenden Wahlen systematisch fälschten.
Nun griffen auch algerische Oppositionelle, sprich die um ihre Wahlerfolge betrogene MTLD, zu illegalen Mitteln. Es war vor allem ihre "Spezialorganisation" (OS / Organisation spéciale) genannte paramilitärische Geheimorganisation, die den Aufstand, der eine Revolution einleiten sollte, vorbereitete. Im März 1954 wurde in Algier das "Revolutionäre Komitee für Einheit und Aktion" (CRUA / Comté révolutionnaire pour l unité et l action) als Führungsorgan gegründet, die spätere "Nationale Befreiungsfront" (FLN / Front de libération nationale). Am 10. Oktober 1954 fiel die Entscheidung für die Allerheiligen-Nacht des Jahres als Zeitpunkt zum Losschlagen.
In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 1954 kam es im ganzen Land zu etwa 70 Attentaten und Sabotageakten, denen sieben Menschen zum Opfer fielen. Unmittelbar nach dem Beginn des Aufstandes sendete Radio Kairo im mit dem algerischen Widerstand sympathisierenden Ägypten eine "Proklamation an das algerische Volk, an die Kämpfer für die nationale Sache", in der zum Kampf für die Unabhängigkeit aufgerufen wurde.
Das Streben nach nationaler Unabhängigkeit war jedoch keineswegs von Beginn an Konsens in der Opposition gewesen. Vielmehr gab es noch starke Kräfte, die sich für die französische Staatsidee einer übernationalen Republik gleichberechtigter Bürger unterschiedlicher Nationalität zu erwärmen vermochten. Diese erlebten jedoch bald eine zusätzliche Ernüchterung. Sie wurden durch die Maßlosigkeit, in der Frankreich auf die Anschläge reagierte, in die Arme der Unabhängigkeitskämpfer getrieben.
Trotz des Einsatzes von zeitweise einer halben Million Soldaten sowie der systematischen Anwendung von Foltermethoden zur Informationserlangung und Abschreckung mußte sich die Grande Nation wie zuvor schon in Vietnam schließlich auch in Algerien geschlagen gegeben. Es ist ungeachtet seiner gelegentlichen Großmachtallüren Charles de Gaulles Verdienst, die Sinnlosigkeit des Kampfes erkannt zu haben. Am 1. Juli 1962 durften die Algerier endlich in einem Referendum selber über ihre Zukunft entscheiden, nachdem die Franzosen wenige Monate zuvor, am 8. April 1962, per Volksentscheid ihr Einverständnis hierzu erteilt hatten. Den Algeriern wurde die Frage vorgelegt: "Wollen Sie, daß Algerien ein unabhängiger Staat wird, der mit Frankreich ... zusammenarbeitet?" Gut 90 Prozent der Stimmberechtigten und über 99 Prozent der Abstimmenden votierten mit ja. Zwei Tage später proklamierte Frankreichs Staatschef die Unabhängigkeit Algeriens. Die Entscheidung für ein algerisches statt eines französischen Algerien war gefallen.
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