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Statistiken sind Interpretationssache, diese alte Weisheit gilt auch für die neueste Erhebung der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der International Labour Organization (ILO). Die so entstandenen Zahlen legen eine Wende am deutschen Arbeitsmarkt nahe - tatsächlich sind sie eher Meßlatte staatlicher Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit . Denn die Arbeitsagenturen müssen Mißbrauch bekämpfen und Vermittlungserfolge aufweisen. Die neueste Erfolgsbilanz stellte die Bundesagentur für Arbeit (BA) nun in Form einer Hochrechnung, basierend auf Umfragewerten, vor.
"Arbeitslosigkeit ist überraschend stark gesunken" gab der Vorstandschef der BA, Frank Jürgen Weise, bekannt und lieferte damit eine Schlagzeile, die so manche Zeitung bereitwillig aufgriff. "Frühjahrsbelebung unerwartet kräftig" schrieb die "Welt", die "Frankfurter Allgemeine" kommentiert die "gute Nachricht" vorsichtiger als "Anlaß zur Hoffnung" - nicht mehr allein die Frühjahrsbelebung könne für die neuesten Arbeitsmarktzahlen verantwortlich sein, so das Blatt. Mut-Zureden und Selbstbestätigung auch in der "Süddeutschen" ("stärkster Rückgang in einem Mai seit der deutschen Einheit") - die Frage bleibt, was die Arbeitslosen davon haben. Sogenannte Minijobs, Zeitarbeit, unterbezahlte Praktika für Qualifizierte und andere staatlich geförderte geringfügige und -wertige Beschäftigungen breiten sich fühlbar aus. Die Kritik des obersten Arbeitsstatistikhüters Weise an der Politik fiel entsprechend deutlich aus. Junge Auszubildende finden ihren Platz immer seltener, auch das gab Weise bekannt.
Es stimmt grundsätzlich etwas nicht mit den Arbeitsgesetzen in Deutschland. Der hohe Sockel von über 4,5 Millionen Arbeitslosen schmilzt zwar - für den Betroffenen ist das aber kaum zu merken. Zwei Drittel der Arbeitslosen sind inzwischen Hartz-IV-Empfänger und somit Langzeitarbeitslose. Der Arbeitsmarkt teilt sich in drei Lager: Die Chancenreichen, die mit überwiegend eigenem Einsatz aufgrund von Qualifikation und Alter rasch vermittelt sind, dann die mehr oder weniger Geförderten und schließlich die völlig Über- beziehungsweise Unterforderten. Zur letztgenannten Kategorie wird auch gezählt, wer angeblich zu alt ist oder in der falschen Branche arbeitet. Diese Gruppe hat die Wahl: hoffen oder sich mit den bestehenden Hilfen arrangieren - je nach eigenem Anspruch.
Nun meldet Weise 255000 Arbeitslose weniger (Mai im Vergleich zu April), wendet das bisher triste Bild frühlingshaft. Und doch: Es entstehen zu wenig vollwertige, ungeförderte Arbeitsplätze. Nur mit dieser Einsicht läßt sich erklären, warum bei hoher Arbeitslosigkeit 500000 offene Stellen vermeldet sind. Ein Drittel davon wird staatlich gefördert, taugt also als zeitlich oder finanziell begrenzte Maßnahme kaum, eine Familie zu ernähren. Die Zahlen dokumentieren somit saisonales Wetterleuchten oder bürokratischen Selbstbetrug, aber nur sehr bedingt den beschworenen Aufschwung.
Ein entscheidendes Sturm-Zeichen richtet sich gegen übereilte Frühlingshoffnungen. Es ist die gemessene Abnahme der sozialversicherungspflichtigen Arbeit. Der Rückgang dort ist weit größer als der Rückgang von statistischer Arbeitslosigkeit. Denn was eigentlich zählen sollte, sind vermittelte Haupterwerbstätigkeiten. Immer weniger derartig Beschäftigte müssen für immer mehr Berufstätige zahlen, die keine oder kaum Sozialabgaben entrichten. Der so entstehende Abgabendruck beschleunigt die Fliehkräfte vor den Jobs, die das Sozialsystem am Leben halten. Wesentlich mehr Menschen haben im Vergleich zum Vorjahr inzwischen Ein-Euro-Jobs. Die Agentur wertet das als positiven Beitrag. Tatsächlich werden immer mehr Arbeitsfähige in einem staatssubventionierten Schattenreich "geparkt". Dieser Mangel an Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt, vor allem aber der umständliche Maßnahmendschungel, der dagegen gepflegt wird, treiben nach wie vor zu viele in die gut gefüllten Warteräume der Arbeitsvermittlung. Zur Nachricht aus Nürnberg gehört unmißverständlich: Der Abbau von Arbeitsplätzen in der Wirtschaft geht weiter. Selbst wer Arbeit hat, fühlt sich zunehmend unterbeschäftigt, würde gern mehr tun - glauben jedenfalls bundesamtliche Statistiker aufgrund der neuesten Telefonumfrage.
Auch in anderer Hinsicht geben die aktuellen Entwicklungen am Arbeitsmarkt wenig Anlaß zur Freude. Deutsche Arbeitsplätze werden zunehmend vom Exportgeschäft abhängig. Das legen jüngste Zahlen des statistischen Bundesamtes nahe. Vor zehn Jahren hing jeder sechste Arbeitsplatz unmittelbar vom Erfolg deutscher Waren im Ausland ab, inzwischen ist es jeder fünfte. Der Inlandsmarkt hingegen schwindet seit Jahren - gemessen an den Arbeitskräften. Um 1,3 Millionen ist die Zahl der Berufstätigen, die für den deutschen Markt tätig sind, im Vergleich zum Jahr 2000 zurückgegangen.
Die derzeitige Arbeitslosigkeit bezeugt daher den individuellen wie nationalen Abstieg - die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mahnt in Deutschland mehr Arbeitsmarktreformen an. Fehlerhaft sei vor allem, daß seit längerem Berufsuntätige dank geltendem Arbeitsrecht nicht genug angespornt würden, wieder zu arbeiten, Altersteilzeit sei oft hinderlich bei der Schaffung von Stellen, auch hätten Berufsunwillige zu wenig Konsequenzen zu befürchten, so die deutsche Sektion der OECD.
Die Deutschen, denen Studien ein vergleichsweise sicherheitsorientiertes Berufsdenken nachsagen, verweigern sich der Mc-Job-Gesellschaft, in der jeder am besten zwei Berufe hat, um zu überleben - womöglich beide auf dem Niveau einer Hamburger-Kette. Sie greifen statt dessen zur Liane und schwingen sich notgedrungen durch den arbeitsbürokratischen Wildwuchs. Fröhlich wuchern da staatliche Zuschüsse neben mehr oder weniger regulärer Arbeit und zwingen die Menschen in Dauerabhängigkeit vom Fördersystem.
Arbeit im Altenheim: Vom Staat geförderte Minijobs verzerren die Arbeitslosenstatistik.
Sozialversicherungspflichtig Beschäftigte
(Stand jeweils 30. Juni des Jahres)
2003: 26954686
2004: 26523982
2005: 26178266
2006: 26067266*
*Stand 18. Mai 2006
Quelle: Statistisches Bundesamt |
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