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Sind wir Antisemiten?" Diese Frage, die der Soziologe Alfons Silbermann schon vor mehreren Jahrzehnten einem kleinen Kreis gestellt hat, ist zu einer "scheinbar aktuellen Alltagsfrage geworden" - so der in Jerusalem lebende und lehrende jüdische Zeitgeschichtler Moshe Zimmermann im Vorwort seines Buches "Deutsch-jüdische Vergangenheit" und er fährt fort: "Deutschen Nichtjuden, die bewußt das ‚Dritte Reich erlebt haben, dürfte die Antwort auf diese Frage nicht sonderlich schwer fallen: Man hatte die ‚Endlösung der Judenfrage und ihre Vorbereitung selbst miterlebt und mitgetragen."
Obwohl der Begriff "Antisemitismus" im Mittelpunkt der Betrachtungen des Buches steht, unterläßt Zimmermann jeden Versuch, die Grenzen des nicht selten mißbrauchten Wortes abzustecken. Noch mehr provoziert die Annahme, all jene "Arier", die bewußt das "Dritte Reich" erlebt haben, hätten die Vorbereitung der "Endlösung" selbst miterlebt und mitgetragen. Darin steckt doch ein Schuldvorwurf ungeheueren Ausmaßes, der sich selbst richtet, falls er nicht detailliert begründet wird. Diese Begründung suchen wir vergebens.
Und doch ist den folgenden Kapiteln zu entnehmen, daß Zimmermann kein zweiter Goldhagen ist, dessen Vorstellung vom deutschen Antisemitismus er als "oberflächlich", "im Grunde rassistisch" abtut. Zimmermann beklagt das Fehlen einer massiven Opposition gegen Hitler. "Trotzdem existiert kein eindeutiger Beweis für eine breite Unterstützung einer antisemitischen NS-Politik, die weiter ging als eine ‚Entfernung der Juden aus dem öffentlichen Leben und aus dem deutschen Staat." - Nun, was den zitierten Hauptsatz betrifft, so genügt der Hinweis auf die Bekundungen der jüdischen Zeitzeugen, um die Annahme als erwiesen ansehen zu können. Der zweite Satzteil hängt, mangels eines entsprechenden Nachweises, in der Luft und bedarf der Klärung, die wir vergebens suchen.
Gleichwohl lohnt sich die Lektüre. Der Band bietet 19 Aufsätze, die der Autor in den letzten 25 Jahren veröffentlicht hat. Schon der zweite ist hoch informativ. Der Mann, der das Wort "Antisemitismus" geprägt hat, Wilhelm Marr, 1819 geboren, "wirkte in den 40er bis 60er Jahren des 19. Jahrhunderts auf dem äußersten linken Flügel des politischen Spektrums in Deutschland". Geradezu an ihm vorbei bahnte sich "Antisemitismus" seinen Weg, bis es dann in der NS-Ära offiziell durch "Antijudaismus" ersetzt wurde, da ja nicht alle Semiten - man denke an die Araber - geächtet werden sollten.
Andere Essays sind überschrieben: "Juden und Kapitalismus", "Das Kaffeehaus als Ort des anti-jüdischen Sozialprotests im Vormärz", "Heinrich Heine und der Judenhaß", "Antisemitismus im Kaiserreich", "Wie ist die Judenfrage zu lösen?", "Jüdischer Nationalismus und Zionismus in deutsch-jüdischen Studentenorganisationen". Unter "Die ‚Ostjuden " räumt Zimmermann freimütig ein: "Das unvorteilhafte Bild des ‚Ostjuden , das unter den deutschen Juden selbst verbreitet war, war eine Waffe in den Händen der Antisemiten."
Die "Zukunftsperspektiven deutscher Juden vor 1933" bestätigen, was der politisch Interessierte schon zu wissen glaubte: Die Mehrheit der Juden in der Weimarer Zeit beurteilte die Kriegsschuldfrage und den Versailler Vertrag ähnlich wie die übrige Bevölkerung, die Sozialdemokraten und Kommunisten eingeschlossen: Alle urteilten deutsch, und die meisten fühlten auch so. "Daß es eine massive Unterstützung seitens der jüdischen Wählerschaft für das [katholische] Zentrum gab, ist nicht zu bezweifeln." Ebenso wird die Zufriedenheit mit der Kanzlerschaft Heinrich Brünings, Zentrum, betont.
Deutlich kommt zur Sprache, daß die Zionisten, also jene Juden, die eine Rückkehr ins Land der Vorväter anstrebten, die Bedrohung durch die Nationalsozialisten als geringer bewerteten verglichen mit den Gefahren der Assimilation. Hier und dort hatte man sogar die Angst vor Hitler verloren: Es werde sich herausstellen, so eine jüdische Stimme, daß "Schreckensbilder, die man ... ausmalte - wie die für Pogrome freigegebenen Straßen ... sich in ein Nichts auflösen." Zimmermann selbst: "Und als Hitler an die Macht kam, war eine Zufriedenheit darüber zu spüren, daß statt eines antisemitischen Sturms ein ‚Adagio kam, und die SA nicht wütete." Ein Vetter des ermordeten Juden Walther Rathenau wünschte die Aufnahme der Nationalsozialisten in die Regierung, weil sich die NSDAP dort aufreiben würde. "Noch als Göring Innenminister wurde, blieb er als hoher Beamter im Amt, hat sich den ,deutschen Gruß angeeignet und verließ sein Amt erst im August 1933 - als er entlassen wurde."
Schon 1932 gab es jüdische Stimmen, die den Übergang vieler Juden von der liberalen zur nationalen Haltung beklagten. Andere begrüßten die Entwicklung: "Der liberale Staat liegt in seinen letzten Zuckungen ... wir sollten das nicht mit enttäuschter Resignation, sondern bereitwillig als Bestätigung eigener Erkenntnisse hinnehmen." Die Hoffnung wurde ausgedrückt, jüdische "Mitarbeit an dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes" leisten zu dürfen, wie das unter Mussolini in Italien schon der Fall war. Längst nicht alle Juden mißbilligten das ganze Programm der NSDAP. Wenn nur der Antisemitismus nicht wäre! Die Republik war längst in Mißkredit geraten. "Einen besonders bitteren Geschmack hinterläßt der systematische Angriff von Zionisten und Orthodoxen auf die Assimilation, der bereits die Keime der Zustimmung zu den Nürnberger Gesetzen in sich trug."
Auch das wird heute häufig unterschlagen, daß Anfang der 30er Jahre die Mehrheit der Deutschen, der Juden wie der Nichtjuden, mehr Angst vor Stalin als vor Hitler hatte. "Was heute Hitler ist, kann morgen Thälmann sein." Der war Stalins Statthalter in Deutschland.
"Was sich an Plänen nach 1935, beziehungsweise 1938 oder 1941 entwickeln sollte, konnten Juden nicht prognostizieren, weil auch ihre Umgebung, einschließlich der meisten ‚Parteigenossen , diese Pläne als Richtlinien für die Zukunft nicht entwickelte oder nicht ahnte." Gilt das nicht auch zugunsten der Mehrheit der nichtjüdischen Deutschen? Konrad Löw
Moshe Zimmermann: "Deutsch-jüdische Vergangenheit: Der Judenhaß als Herausforderung", Schöningh, Paderborn 2005, gebunden, 308 Seiten, 29,90 Euro. |
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