|
Bis vor kurzem war es hierzulande so gut wie unbestritten, daß bei der Vertreibung der Deutschen aus der CSSR mindestens eine Viertel Million Menschen ermordet wurden bzw. den unmenschlichen Begleitumständen zum Opfer fielen. Hatten sich doch drei Bundesbehörden Statistisches Bundesamt, Vertriebenenministerium und Bundesarchiv sowie außerdem zwei große Suchdienst-Organisationen (kirchlicher Suchdienst und Suchdienst des Deutschen Roten Kreuz es) z. T. jahrzehntelang mit dem Thema beschäftigt und waren zu recht ähnlichen Ergebnissen gekommen.
Daß aus dem Osten propagandistisches Störfeuer kam, war bekannt. So etwa kommentierte "Rude Pravo" am 5. August 1974 die Ausarbeitung einer Dokumentation der Vertreibungsverbrechen im Bundesarchiv wie folgt: "Im wesentlichen stützt sich die ,Dokumentation auf Verleumdungen, die die verschiedenen revanchistischen Organisationen in den eisigsten Jahren des kalten Krieges als Munition für den antikommunistischen Kampf gesammelt hatten." Die meisten Beobachter führten diese schrillen Töne, die ja auch aus Moskau, Warschau und Belgrad zu hören waren, auf den totalitären Charakter dieser Regime zurück. Man hoffte konsequenterweise auf ein Umdenken im Osten, als die Diktaturen zusammenbrachen.
Erste Anzeichen schienen diese Hoffnung zu bestätigen; denn in Prag sprach Präsident Havel von der Ungerechtigkeit der Vertreibung, die er bedaure. Die Optimisten übersahen aber zwei entscheidende Dinge: Erstens die Tatsache, daß in der Tschechoslowakei nicht Kommunisten, sondern bürgerliche Nationalisten die Vertreibung z. T. schon vor dem Krieg geplant, während des Krieges im Exil diplomatisch vorbereitet und nach dem Krieg brutal durchgeführt hatten. Zweitens überhörte man absichtlich oder unabsichtlich die späteren Äußerungen Havels, wonach die Sudetendeutschen kollektiv schuldige Hitler-Anhänger gewesen und Wiedergutmachungsmaßnahmen leider unmöglich seien. Kaum einer kam auf die Idee, daß die neue Regierung vielleicht nur den Ruch des Völkermordes loswerden, zugleich aber seine Beute behalten wolle und daß Havel in diesem Punkt nicht besser, sondern nur schlauer sein könnte als seine Vorgänger.
Spätestens seit der letzten deutsch-tschechischen Erklärung, die im Januar 1997 im Bundestag angenommen wurde, wissen die Pessimisten, daß sie im Recht waren. Nach dem berüchtigten tschechoslowakischen Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946 sind Vertreibungsverbrechen nicht nur straffrei; sie gelten sogar als rechtmäßige Handlungen, und zwar bis heute. Obwohl die allermeisten Häuser und Betriebe der Sudetendeutschen in tschechischem kommunalen bzw. Staatseigentum stehen und die Rückgabe daher sehr einfach wäre, erhalten in der Regel nicht einmal die jüdischen Sudetendeutschen und ihre Erben ihr Eigentum zurück. In der deutsch-tschechischen Erkärung "respektiert" Bonn diese "andere Rechtsauffassung" der tschechischen Seite ausdrücklich.
Eine besondere Note erhält der als Versöhnungserklärung bezeichnete Text durch die Tatsache, daß zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik unrechtmäßige Enteignungen bis zum Jahr 1933 rückabgewickelt werden und in Den Haag Serben und andere vor Gericht stehen, die in Bosnien 1992 bis 1995 nichts anderes taten, als viele Tschechen 1945 bis 1946 in Böhmen. Wie sagte doch Herbert Wehner 1965 im Süddeutchen Rundfunk so treffend: "Eine Versöhnung ohne das Recht ist eine Art der Unterwerfung."
Zur ideologischen Absicherung dieses Triumphes der Prager Diplomatie mußten nun auch noch die Historiker ihren Beitrag leisten. Unter den Themen, die in der "gemeinsamen deutsch-tschechischen Historikerkommission" parallel zu den diplomatischen Verhandlungen erörtert wurden, soll beispielhaft nur das Problem der Vertreibungsverluste herausgegriffen werden.
In einer Pressemitteilung der deutschen Sektion der Historikerkommission vom 17. Dezember 1996 heißt es z. B. zum Thema der Vertreibungstoten: "Die in deutschen statistischen Erhebungen angegebenen Werte streuen zwischen 220 000 und 270 000 ungeklärten Fällen, die vielfach als Todesfälle interpretiert werden, die in den bisher vorliegenden Detailuntersuchungen genannte Größe liegt zwischen 15 000 und maximal 30 000 Todesfällen.
Die voneinander abweichenden Angaben ergeben sich zudem auch aus der Tatsache, daß verschiedene Erhebungs- und Auswertungsmethoden verwendet werden:
Den detaillierten Zahlen liegen die individuell belegten Todesfälle zugrunde (15 00030 000).
Ein anderer Ansatz bestand im Auswerten von kirchlichen Suchkarteien; dabei ergab sich sowohl ein hoher Anteil ungeklärter Fälle (225 000) als auch der Nachweis von 18 889 konkret belegter Todesfälle.
Von Statistikern wurden aus Mangel an amtlichen Unterlagen über die Sterbefälle Bevölkerungsbilanzen aufgestellt. Der sich dabei ergebende Saldo zwischen Anfangs- und Endbevölkerungszahl wird oft mit Todesfällen gleichgesetzt (220 000270 000)
Nimmt man die mittlerweile öffentlich zugänglichen Angaben der DDR-Volkszählung von 1950 in die Gesamtbilanz auf, die nur 612 000 statt der bisher angenommenen 914 000 ehemaligen Sudetendeutschen auf dem Gebiet der DDR aufweist, so erhöht sich die Zahl der ungeklärten Fälle auf über eine halbe Million. Das wäre ein absurdes Ergebnis."
Kern dieser Argumentation ist also zum einen die angebliche Wertlosigkeit von Bevölkerungsstatistiken und zum anderen die These, daß die sogenannten "ungeklärten Fälle" nichts mit Todesfällen zu tun hätten. Zu letzterem Punkt vermerkt das umfangreichste Standardwerk zum Thema (Statistisches Bundesamt: Die deutschen Vertreibungsverluste) auf Seite 355: "Diese Zahl (der ungeklärten Fälle) gibt in etwa den Personenkreis wieder, der nach Einstellung der Kriegshandlungen in der Tschechoslowakei durch Verfolgung und Vertreibung unmittelbar oder mittelbar ums Leben gekommen ist." Wer 1945/46 nach Pogromen, Todesmärschen oder KZ-Haft spurlos verschwunden ist, der taucht in der Tat nach menschlichem Ermessen nicht wieder auf. In der Heimatortskartei (HOK) des kirchlichen Suchdienstes sind über 295 000 Namen und Adressen gespeichert (Stand 1965), deren Schicksal ungeklärt ist und die fast alle als tot gelten müssen. Daneben wurden 19 542 Personen ermittelt, die nachweislich getötet wurden. (Die HOK für Sudetendeutsche ist erreichbar in 93055 Regensburg, Adolf-Schmetzer-Straße 24.)
Die erwähnte Presseerklärung spricht ohne jede Quellenangabe von 15 000 bis 30 000 Todesopfern, der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes und die Dokumentation des Bundesarchivs über die Vertreibungsverbrechen dagegen von 100 000 Toten allein in tschechoslowakischen Gefängnissen und Konzentrationslagern.
Das System der Bevölkerungsbilanzen bei der Ermittlung von Kriegs- und Nachkriegsverlusten der Zivilbevölkerung ist international allgemein üblich; denn in kaum einem Verfolgerregime stehen Standesbeamte und Notare bereit, um die Untaten der eigenen Regierung zu protokollieren. Berichte von überlebenden Augenzeugen sind nicht Regel, sondern Ausnahme.
Bleibe schließlich der Einwand, die Einbeziehung der DDR-Statistik mit ihrer geringeren Zahl von Sudetendeutschen erhöhe die Zahl der Verschwundenen in "absurder" Weise. In dem Sammelband "Odsun Die Vertreibung der Sudetendeutschen" hat Fritz Peter Habel die Bevölkerungsstatistik auf den neuesten Stand gebracht und kommt auf eine endgültige Zahl von 460 000 ungeklärten Fällen. Dies entspricht mit 13 Prozent zufällig den durchschnittlichen Menschenverlusten der anderen Vertreibungsgebiete. Was daran absurd sein soll, wird wohl das Geheimnis der Historikerkommission bleiben.
Spiritus rector der deutschen Sektion der Historikerkommission ist der Geschichtsprofessor und Leiter des Münchner "Collegium Carolinum", Ferdinand Seibt, der sich bisher vor allem mit der mittelalterlichen Geschichte Böhmens befaßt hat. Zur Frage der Bevölkerungsstatistik erklärte er in einem "Pravo"-Inerview vom 28. November 1995 folgendes: "In den Zahlen der Statistiker gab es ein Loch, von dem man jedoch auf keinen Fall behaupten kann, daß es nur Tote bedeutete. Man spricht auch davon, daß in die Ost-, d. h. in die Sowjetzone, nicht 800 000 Sudetendeutsche abgeschoben wurden, sondern eine Million; daher sind da sofort 200 000 Menschen, die in die Statistik nicht einbezogen werden konnten."
Vergleicht man diese Erklärung mit der vom 17. Dezember 1996, so fällt sofort auf: Wenn die Bevölkerungsstatistik zur Verkleinerung der Opferzahlen dient, so ist sie willkommen und verläßlich (1995), wenn sie dagegen zu höheren Zahlen führt, wird sie pauschal als unbrauchbar ("absurd") abgelehnt (1996).
In der aktuellen politischen Diskussion hat Seibt außer gewissen Umgangsformen auch das wissenschaftliche Ethos über Bord geworfen und sich offenbar ganz dem tschechischen Chauvinismus verschrieben: Sechs Jahre NS-Besatzung im "Protektorat Böhmen und Mähren" werden gegen den Völkermord im Sudetenland (so das Rechtsgutachten des UN-Menschenrechtsexperten Prof. Ermacora) glattweg aufgerechnet. Schuld sind nicht die Täter, sondern die Opfer. Keine Aufarbeitung des Vertreibungsunrechts, keine Wiedergutmachung, nichts! Ob bei dieser Rechts- und Tatsachenblindheit Seibts tschechische Mutter zum Durchbruch kommt, mag dahingestellt bleiben, gibt es doch auch unter den deutschen Linken ohne tschechische Mutter genügend Vertreter eines diffusen Antigermanismus.
Sehr gut verständlich ist jedenfalls, daß Seibts parteiische Haltung von der tschechischen Seite mit der Masaryk-Medaille und der Ehrendoktorwürde der Universität Prag honoriert wurde. In gleichem Maße unverständlich ist es allerdings, daß der notorische Vertriebenenhasser ausgerechnet als "deutscher" Vertreter in die gemeinsame Historikerkommission geschickt wurde.
|
|