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Berlin braucht einen Sonnenschein

 
     
 
Die Kirchen sind an Weihnachten und Ostern gut besucht, doch an den übrigen Sonntagen verlieren sich die meist älteren und alten Gläubigen in den Kirchenschiffen wie Versprengte. Manchmal überfiel mich die Vorstellung, als seien sie die letzten Katholiken, die Nachhut, und als nähmen sie bald ein Geheimnis mit sich, das der säkularen Welt verloren gegangen ist: die Notwendigkeit des Gottesdienstes, die Notwendigkeit des Rituals und der Wiederholung, die selbstverständliche lebenslang
e Routine der sonntäglichen Versammlung zum Gebet und zur Feier der Eucharistie. In den protestantischen Kirchen ist die Leere noch größer ..." Dies schrieb über katholische Kirchen Berlins im Jahre 2001 der "Spiegel"-Redakteur Matthias Matussek, der jüngst durch seinen Patriotismus-Bestseller Aufsehen erregte. Matussek kommt aus einem Berliner "Familienmilieu, das durch und durch katholisch war". Mit 16 Jahren "Marxist", machte er in "revolutionärer Begeisterung" die APO-Umtriebe mit und lebte als Student oft im "Drogendämmer". Erinnerungen an die katholische Kindheit sowie Erlebnisse auf Auslandsreisen und bei beruflicher Tätigkeit im Ausland halfen ihm, daß er den katholischen Glauben wieder als wesentlich empfand.

Die beiden großen christlichen Konfessionen befinden sich heute in Berlin in einer unübersehbaren Phase des Niedergangs. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts galt die preußisch-deutsche Metropole als eine evangelische Stadt; der Katholizismus spielte hier nur eine Nebenrolle. Heute sind 58 Prozent der 3,4 Millionen Einwohner Berlins konfessionslos. Der evangelischen Kirche gehören nur noch rund 756000 Berliner an, also weniger als ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Etwa 318000 Einwohner Berlins (knapp zehn Prozent) sind römisch-katholisch (jeder fünfte von ihnen ist kein Deutscher). Die übrigen Einwohner Berlins gehören zu protestantischen Freikirchen, orthodoxen Kirchen, zur jüdischen Religionsgemeinschaft oder zu anderen religiösen Bekenntnissen. Die wachsende Anhängerschaft des Islam geht bald auf die 250000 zu. Im übrigen gilt Berlin als "Mekka" der Sekten und esoterischen Zirkel. Dieses Bild hat viel zu tun mit den Auswirkungen von zwei deutschen Diktaturen und den Säkularisationsschüben der Moderne und Postmoderne.

Die katholische Kirche hat 1990 in der wiedervereinigten Weltstadt Berlin eine große Chance vertan. Damals waren rund 346000 Bewohner Berlins katholisch. In West-Berlin betrug der katholische Bevölkerungsanteil 14 Prozent, im Ostteil der Stadt aber nur 3,4 Prozent (letzteres eine Folge der atheistischen Sogwirkung der DDR). 1990 hätte die selbstgenügsame Ghettoexistenz der katholischen Gemeinden in Ost-Berlin durch eine katholische Glaubensoffensive abgelöst werden müssen. Das Klima der Wendezeit war sicherlich günstig, um einen Probelauf für das, was in der katholischen Kirche immer wieder als die anstehende "Neuevangelisierung Deutschlands" angekündigt wird, zu versuchen. Zwar stieg nach dem Zusammenbruch des atheistischen DDR-Systems in Ost-Berlin der Katholikenanteil etwas an (Wiedereintritte, Neueintritte, Zuzug aus anderen Gegenden Deutschlands), aber das reichte nicht aus, um den zahlenmäßigen Rückgang in Berlin insgesamt zu stoppen. Und vor allem gab es bei Ausbleiben der Glaubensoffensive nicht die belebenden Rückwirkungen auf das Gemeindeleben in ganz Berlin.

Matussek kreidet der katholischen Kirche einen "kardinalen Fehler" an: "Sie macht sich dem Zeitgeist zum Verwechseln ähnlich - wo ihre Anziehung doch im Unzeitgemäßen ihrer Botschaft liegt." Er spielt dabei auf die "Öffnung zur Welt" an, die durch das II. Vatikanische Konzil verkündet und oft sehr ungeschickt umgesetzt wurde, so daß die Anziehungskraft der Kirche trotz eifrigster Bemühungen vieler Priester und Laien weitgehend verlorenging. Sinkende Mitgliederzahlen, schrumpfende Kirchensteuereinnahmen, immer weniger Gottesdienstbesucher führten in Berlin zu schmerzhaften Einschnitten: Fusion der 120 Pfarreien zu 70 Gemeinden (Priestermangel), Aufgabe zahlreicher katholischer Einrichtungen, Umwidmung von Kirchengebäuden. Aufsehen in ganz Deutschland erregten Verkauf und Abriß der erst 1965 erbauten St.-Rafael-Kirche, deren Architekt Rudolf Schwarz war, einer der bedeutendsten Kirchenbaumeister der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Kirche mußte einem Supermarkt weichen.

Nur mit Wehmut können Berlins Katholiken auf die 20er und 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückblicken, in denen die katholische Kirche in Berlin Attraktivität gewann. In den 20er Jahren half der charismatische Priester Dr. Carl Sonnenschein (1876-1929), der als "Weltstadtapostel" und "Franziskus des 20. Jahrhunderts" in die Kirchengeschichte einging, dem Berliner Katholizismus, Weltstadtformat und starke innere Dynamik zu erreichen. Seinen Ideenreichtum, seine rhetorische Begabung, sein Organisationsgeschick setzte der Priester, der ganz anspruchslos lebte, zielgerichtet ein, um die soziale Not zu lindern, das Profil der Kirche zu schärfen, das Selbstbewußtsein der märkischen Katholiken zu stärken und die Stimme der Kirche unüberhörbar zu machen. Er baute ein Sekretariat für soziale Studentenarbeit auf, ein Akademisches Arbeitsamt, eine katholische Volkshochschule, einen Märkischen Geschichtsverein, richtete eine Akademische Lesehalle ein, gründete einen Märkischen Wassersportverein, einen Christophorus-Automobilklub, initiierte die katholischen Siedlungen in Tegel und Marienfelde, belebte das katholische Pressewesen. Berühmt wurde seine persönliche Kartei, in der er über 100000 Hilfesuchende und hilfsbereite Ansprechpartner registrierte - ein Ergebnis der zahllosen persönlichen Kontakte, die er knüpfte.

Für Groß-Berlins rund 450000 Katholiken wurde nach Sonnenscheins Tod der Ministerialdirektor Dr. Erich Klausener (1885-1934) als Vorsitzender der Katholischen Aktion ein vielbeachteter Sprecher. Er schaffte es, bei Großveranstaltungen der Katholischen Aktion den Sportpalast mit 12000 bis 18000 Besuchern zu füllen. Beim 31. Märkischen Katholikentag sprach er 1933 im Grunewald-Stadion vor 55000 Katholiken. Nur wenige Tage vor seiner Ermordung durch ein SS-Kommando (Röhm-Affäre) war er Redner vor 60000 Teilnehmern eines Katholiken-Treffens auf der Rennbahn in Hoppegarten.

Eine Neuevangelisierung Berlins könnte natürlich nicht mit einer Imitation Sonnenscheins und Klauseners in Angriff genommen werden. Aber eine genauere Beschäftigung mit dem Werk dieser beiden Glaubenszeugen erbrächte sicher auch Anregungen für eine heutige christliche Glaubensoffensive. In diesem Sinne hat der Stoßseufzer "Berlin braucht einen Sonnenschein!" durchaus seine Berechtigung.

Foto: Abriß der St.-Johannes-Capistran-Kirche mit Franziskanerkloster in Berlin-Tempelhof: Das Erzbistum Berlin hat das Areal für 2,5 Millionen Euro verkauft, an Stelle der Kirche
 
     
     
 
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