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Erst auf massiven öffentlichen Druck hin hat Kanzler Gerhard Schröders für den Aufbau Ost zuständiger Minister Manfred Stolpe fünf Tage vor der Wahl seinen obligatorischen "Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2005" vorgelegt. Damit kam der Sozialdemokrat einer Verpflichtung nach, die der Bundesregierung seit einem Beschluß des Bundestages aus dem Jahr 2000 auferlegt ist. Der Inhalt seiner Dokumentation offenbart, warum Stolpe die Veröffentlichung nur zögerlich anging: Die Bilanz von 15 Jahren Vereinigungspolitik ist eine schwärende Wunde.
Das Dossier bescheinigt dem Osten Deutschlands nicht nur eine "dramatische Lage am Arbeitsmarkt", sondern nun auch einen bedrohlichen "demographischen Wandel": Trotz beeindruckender milliardenschwerer Programme zur Sanierung maroder Stadtkerne und Wohnsiedlungen, trotz sichtbarer Erfolge bei der Wiederherstellung einer Infrastruktur im Straßen- und Schienennetz, die diesen Namen verdient, verlor allein die Baubranche - Schlüssel zum Gesamtgelingen des Aufbaus, der ein Wiederaufbau ist - in den vergangenen neun Jahren (von denen sieben rotgrüne waren) 400000 Arbeitsplätze. Und: 826000 Bürger verließen seit 1991 die neuen Bundesländer, weil sie keine Perspektive für die Teilhabe am versprochenen Wohlstand sahen.
Addiert man zu dieser Entwicklung die sich ungebrochen verstärkenden Geburtenrückgänge, leben zwischen Ostsee und Erzgebirge heute 1,4 Millionen Menschen weniger als vor dem Fall der Mauer. Mehr noch: Das Statistische Bundesamt prognostiziert, daß die Bevölkerungszahl im Osten in den nächsten anderthalb Jahrzehnten um weitere 1,5 Millionen Menschen sinken wird.
Welch dramatischer Unterstützungsakt hinter Deutschland liegt, ohne daß eine kurzfristige Trendwende in Sicht wäre, belegt eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): Danach werden heute im Osten die Nettohaushaltseinkommen schon zu 40 Prozent aus öffentlichen Kassen gespeist - dies meint nichts anderes als staatliche Unterstützung zur Alltagsbewältigung.
Das Meinungsforschungsinstitut "Forsa" hat unlängst (als Reflex auf die Wahlkampfaussage des bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber, die "Frustrierten" in den neuen Bundesländern dürften nicht noch einmal eine Bundestagswahl entscheiden) die Befindlichkeit zwischen Stralsund und Zwickau ermittelt; die Aussagen sind beklemmend: 74 Prozent der Bürger sind mit dem "politischen System" unzufrieden. 59 Prozent meinen, daß die Interessen der im Ostteil der Bundesrepublik Lebenden "zu wenig berücksichtigt" werden. 72 Prozent, halten die Gesellschaftsordnung für ungerecht. Schließlich: Der Bundespräsident gilt als dreimal so "glaubwürdig" wie der Bundeskanzler. Und der Name Gregor Gysi wird dreimal so oft als Antwort auf die Frage genannt, welcher Politiker am ehesten als Sprachrohr der Ostbürger dienen könne, wie der Name Angela Merkel.
Hat sich die "Mauer in den Köpfen" zu einer Mauer in den Seelen ausgewachsen?
Der Theologe und Philosoph Richard Schröder hat ebenfalls in dieser Woche hoch emotionale Worte gefunden, die einen Kontrapunkt zum Zeitgeist des Niedergangs und zu den bloßen Zahlenwerken der Einheit setzen.
Schröder, der 1990 als sozialdemokratischer Fraktionschef in der ersten und zugleich letzten frei gewählten Volkskammer der DDR saß, sagte: "Es ist längst ein Sport geworden, den Einigungsprozeß zu kritisieren. Da tobt sich die Lust am Scheitern aus. Probleme werden aufgezählt, als hätten sie Schicksalscharakter, als sei bisher alles falsch gewesen. Einige tun gar so, als feierten sie Niederlagen. Wir sollten stattdessen besser sagen: Einiges haben wir geschafft, noch mehr müssen wir in Angriff nehmen - und zwar für ganz Deutschland. Die Mehrheit der Menschen in den neuen Ländern weiß bei allen Problemen, daß sich ihre Lage verbessert hat. Wer heute eine mißlungene Einheit beklagt, hat wohl erwartet, daß sie als eine Fahrt ins Paradies führt."
Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen geht es heute wirtschaftlich - und dies wird in der Aufbaudiskussion geflissentlich übersehen - substantiell wesentlich besser als allen Staaten des einstigen Ostblocks.
Vor 16 Jahren endete die letzte Diktatur auf deutschem Boden. An diesem Sonntag werden jene Bürger, die Staat als Unfreiheit erlebten und Kollektiv als Ersatz für eigenverantwortete Lebensgestaltung empfinden mußten, zum fünften Mal die Chance haben, in freier Wahl über den Bundestag direkten Einfluß auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu nehmen: Vielleicht ist dies die wichtigste Wahrheit zwischen Manfred Stolpe und Richard Schröder. |
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