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Über die ganze Titelseite der Kaliningradskaja Prawda vom 12. dieses Monats hinweg erstreckte sich die Abbildung der Kant-Statue von Christian Daniel Rauch, die seit 1992 wieder auf dem ehemaligen Paradeplatz vor der Königsberger Universität steht. In dem Leitartikel daneben heißt es: "Die Mehrheit von uns hat die Werke Kants nicht gelesen und wird sie nicht lesen. Das alles ist weit entfernt vom täglichen Leben. Aber dabei ist Kant - wiederum für die Mehrheit - fast ein Verwandter. Seit einiger Zeit erhöht es das Ansehen, sein Landsmann zu sein."
Vom 11. bis 13. Februar 2004 bestimmte Kant das Leben auch derjenigen Menschen in Königsberg, die seine Werke nicht gelesen haben. Alle kamen mit Kant in Berührung, sei es durch die Fülle der Veranstalt ungen an diesen Tagen, die Berichte in Presse, Funk und Fernsehen oder wenigstens durch den Verkehrsstau, den der Kurzbesuch von Bundesaußenminister Joschka Fischer verursachte. Die Festlichkeiten begannen am Abend des 11. Februar mit einem Konzert des Königsberger Staatlichen Symphonieorchesters unter Leitung seines Dirigenten Arkadi Feldman im Deutsch-Russischen Haus. Auf dem Programm standen die Symphonie Es-Dur des Königsbergers und Zeitgenossen Kants E.T.A. Hoffmann, danach die Egmont-Ouvertüre von Ludwig van Beethoven und der Walzer aus dem Ballett "Schwanensee" von Peter Tschaikowsky. Der Pas de deux aus dem Ballett "Nußknacker" von Tschaikowsky been-
dete den Konzertabend. Die Meisterwerke deutscher und russischer Komponisten, von dem Königsberger Orchester unter Arkadi Feldman mit großem Können dargeboten, begeisterten alle Anwesenden - Deutsche und Russen - und stimmten sie auf den großen Tag ein, den 12. Februar 2004, den 200. Todestag Immanuel Kants.
Während Minister Fischer im Deutsch-Russischen Haus am Morgen des 12. Februar den ersten deutschen Generalkonsul in Königsberg, Cornelius Sommer, vorstellte und anschließend vor dem Kant-Grabmal am Königsberger Dom in einem Gewimmel von Kameraleuten einen Kranz niederlegte, begannen etwa 40 Kant-Kenner aus Rußland, Deutschland, Polen, England und der Schweiz, zu denen sich ein gleich großer Kreis von Studenten als Zuhörer gesellte, in einem Hörsaal der Universität ein zweitägiges internationales Seminar zu dem Thema: "Die gegenwärtige Bedeutung der Philosophie Kants - Zum Gedenken an seinen 200. Todestag". Auf Einladung von Königsbergs Staatlicher Universität, der Kant-Gesellschaft Rußland und des Baltischen Interregionalen Instituts für Gesellschaftswissenschaften (BaltMION) beschäftigten sie sich mit aktuellen Fragen der Kantischen Philosophie. Prof. Dr. Nelli Wasilewna Motroschilowa, Leiterin der Abteilung für Philosophiegeschichte des Westens am Philosophischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeberin einer zweisprachigen deutsch-russischen Ausgabe der Werke Immanuel Kants, erinnerte zu Beginn ihres Vortrags an die alte Stadt Königsberg; sie sei tief bewegt, sich an dem Ort zu befinden, wo Kants Haus stand und wo er durch die Straßen ging. In ihrem Vortrag erklärte sie das Freiheitsprinzip Kants, das seine ganze Philosophie durchdringe.
Daß die Bedeutung Kants in der Begründung der menschlichen Freiheit liege, hob auch Prof. Dr. Volker Gerhardt von der Humboldt-Universität Berlin hervor. Er nannte die Gründe dafür, Kants 200. Todestag gerade in der Stadt zu begehen, in der er geboren wurde, lebte und gestorben ist. Prof. Dr. Wladimir Wasilewitsch Mironow, Prorektor und Dekan der Philosophischen Fakultät an der Lomonosow-Universität Moskau, wies darauf hin, daß Kant als erster die Frage, was Philosophie eigentlich bedeute, beantwortet und sie als philosophische Weisheit definiert habe, mit den Worten: "Wenn es irgendeine Wissenschaft gibt, derer der Mensch wirklich bedarf, so ist es die, welche ich lehre, die Stelle geziemend zu erfüllen, welche dem Menschen in der Schöpfung angewiesen ist, und aus der er lernen kann, was man sein muß, um ein Mensch zu sein." Die Beziehungen zwischen der Philosophie Kants und der russischen Kultur erläuterte Prof. Dr. Leonard Kalinnikow von der Königsberger Universität, Vorsitzender der Kant-Gesellschaft Rußland; Prof. Dr. Werner Stark von der Philipps-Universität Marburg schilderte danach die im Laufe der letzten 200 Jahre immer wieder veränderte Gestaltung des Kant-Grabs in Königsberg.
Am späten Nachmittag des 12. Februar begaben sich die Seminarteilnehmer zum Kant-Grabmal am Königsberger Dom und legten Blumen und Kränze nieder. In kurzen Ansprachen vor den als Zuschauer anwesenden Bürgern Königsbergs betonten mehrere Seminarteilnehmer aus Rußland und Deutschland die große Bedeutung der Tatsache, daß am 200. Todestage Kants Deutsche und Russen dem großen Philosophen gemeinsam ihre Verehrung bezeugten. Als künstlerisches Gegengewicht zu dem Konzert am Vorabend wurde sodann im Kant-Museum der Universität eine Ausstellung des Malers Viktor Schirokij unter dem Titel "Kunstparaphrase - Zur Erinnerung an Immanuel" eröffnet. Seine farbenfrohen, spirituell tiefgründigen Bilder beziehen sich auf Kant und Königsberg und gestalten das geistige Ganze der alten, vom Erdboden verschwundenen Stadt und der unvergänglichen Lehre Immanuel Kants. Bei dieser Gelegenheit überreichte Dr. med. Dietrich Rohde, Leiter eines Projekts zur Bekämpfung der Tuberkulose im Königsberger Gebiet, der Museumsdirektorin S. P. Galtsowa im Namen der Stiftung Königsberg einen von Dr. h.c. Herbert Beister gespendeten Bronzeabguß der 1795 entstandenen Kant-Büste von Josef Mattersberger. Das Original der Büste ist 1945 in Königsberg vernichtet worden; in der Universität Halle befand sich jedoch ein Nachguß, von dem die Bronzekopie hergestellt wurde. Eine weitere Bronzekopie wurde dem Kant-Museum im Königsberger Dom gespendet; ein anderer Nachguß derselben Büste befindet sich im Museum der Stadt Königsberg in Duisburg.
Der Abend dieses großen Tages sah die Seminarteilnehmer bei einem festlichen Empfang im Restaurant "Konsul", wo sie Gelegenheit hatten, in zwangloser Form einander kennenzulernen, Bekanntschaften zu erneuern und offen miteinander zu sprechen. So fragte beispielsweise ein deutscher Professor einen russischen Kollegen, ob er es nicht als Provokation empfinde, wenn ein Deutscher anstelle von "Kaliningrad" von "Königsberg" spreche. "Wissen Sie", war die Antwort, "ich würde mich freuen, wenn die Stadt wieder Königsberg hieße!"
Ein weitgespannter Themenkreis beherrschte den zweiten Seminartag. So erklärte Prof. Dr. Jürgen Stolzenberg von der Universität Halle den Unterschied zwischen der Philosophie Kants und der seiner Nachfolger Fichte, Schelling und Hegel. Prof. Dr. Howard Williams von der Universität von Wales zeigte auf, wie Kants Gedanken in seinem Traktat "Zum ewigen Frieden" auf die heutige Wirklichkeit anzuwenden seien. Den polnischen Ansichten über Kants Philosophie widmete Prof. Dr. Miroslaw Zelazny aus Thorn sein in deutscher Sprache gehaltenes Referat. Wie er ausführte, gab es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Polen eine gegen Kant gerichtete Strömung, die allgemein deutsche Professoren und die deutsche Kultur ablehnte. Diese Strömungen seien jetzt überwunden; auch in Polen lese man Kant. Prof. Dr. Sergei Tschernow aus St. Petersburg sprach über "Einfache Lehren Kants" und hob hervor, daß Kant die Meinung vertreten habe, die Philosophie müsse den wahren Interessen der Menschen dienen.
Zum Abschluß des Seminars kamen zwei Teilnehmer zu Wort, die keine Berufsphilosophen waren. Dipl. Ing. Marco Bettoni von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich erläuterte die Auswirkungen, die bestimmte Grundsätze der Kantischen Philosophie auf die Roboterforschung haben könnten, zum Beispiel auf die Interaktionen des Roboters mit der Umwelt und seine Ordnungs- und Steuerungsprinzipien. Der Vizepräsident der Deutschen Grammophon Gesellschaft, Gerfried Horst, wies darauf hin, daß Kant zu seinen Tischgesellschaften überwiegend Gäste eingeladen habe, die keine Philosophieprofessoren waren, beispielsweise Bancodirektor Ruffmann, Ober-Stadtinspektor Brahl, Kriminalrat Jensch, den englischen Kaufmann Green und den schottischen Kaufmann Motherby. Die Lehren Kants seien aus dem Leben geschöpft und richteten sich an alle Menschen. Um den Zugang zu Kants Lehren zu erleichtern, habe die Deutsche Grammophon Gesellschaft erstmalig einfache Texte Kants als Hörbücher auf Compact Discs veröffentlicht und zu seinem 200. Todestag die zuerst 1804 in Königsberg veröffentlichten Kant-Biographien seiner Schüler Jachmann und Wasianski herausgegeben, die das Königsberg des 18. Jahrhunderts lebendig werden ließen.
Das zweitägige Seminar schloß mit Dankesbekundungen der Teilnehmer an die Veranstalter und an die Simultanübersetzer, die ihre schwierige Aufgabe erstaunlich gut erfüllten. Alle Anwesenden empfanden, daß die Königsberger Staatliche Universität mit diesem internationalen philosophischen Seminar in hervorragender Weise ihrer selbstgesetzten Aufgabe gerecht geworden sei, die große Tradition ihrer historischen Vorgängerin, der Albertina, fortzusetzen. Das Seminar war ein wichtiger Schritt auf dem gemeinsamen Weg von Deutschen und Russen nach Königsberg, dem geistigen Ort, an dem sie in Kantischem Geiste zueinander finden können. EB
Legten an Immanuel Kants 200. Todestag Kränze und Blumen an seinem Grabe nieder:
Die Teilnehmer des unter anderem von Königsbergs Staatlicher Universität ausgerichteten internationalen Seminars "Die gegenwärtige Bedeutung der Philosophie Kants - Zum Gedenken an seinen 200. Todestag" Leonard Aleksandrowitsch Kalinnikow, Volker Gerhardt und Nelli Wasilewna Motroschilowa ()
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