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Die Furcht vor dem Superstaat

 
     
 
Der Versuch, eine Verfassung durchzusetzen, war ein radikaler Schritt zur Schaffung eines europäischen Superstaates. Wer das nicht weiß, weiß gar nichts." So lautet das Urteil des tschechischen Präsidenten Václav Klaus über den gescheiterten Verfassungsgipfel in Brüssel. Man sollte sich nicht täuschen, zumal nicht in Deutschland: Dies ist nicht die Meinung eines "Außenseiters", sondern der Mehrheit der Völker in Ostmitteleuropa. Die Vorstellungen über Wesen und "Finalität" Europas in Westeuropa und bei den am 1. Mai 2004 neu beitretenden Ländern aus dem Osten können unterschiedlicher nicht sein. Wie Klaus sehen das auch die Polen in allen politischen Lagern. Der Vorsitzende der national
konservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS), Kaczynski, warnt ganz offen vor einem Europa, das Polen zu einem "halbkolonialen Status" verurteilen würde; in seinen Augen ist der Verfassungsentwurf, der nun erst einmal gescheitert ist, der Versuch eines Staatsstreichs gewesen. Auch die anderen Parteien wie die liberal-konservative Bürgerplattform (PO) und die nationalkatholische "Liga der polnischen Familien" (LPR) sehen das so. Sie stimmen mit der derzeitigen Linksregierung Leszek Millers überein, der in Brüssel die polnische Souveränität verteidigt habe, im Namen einer "stolzen Nation", wie Miller ausdrücklich sagte.

Die Skepsis gegen einen technokratisch-zentralistischen Superstaat in Brüssel, der die Nationen, ihre Interessen und ihre Geschichte einebnen würde, besteht im übrigen nicht nur im Osten. Sie wird zum Beispiel von der Mitte-Rechts-Regierung in Dänemark ebenso geteilt wie von der Labour-Regierung in Großbritannien, die jeden Übergang zu Mehrheitsentscheidungen in den drei Bereichen Steuern, Verteidigung und Außenpolitik entschieden ablehnt und sich jenseits dieser "roten Linie" ihr nationales Vetorecht vorbehält. Ließe man die Europäer, vor allem die Deutschen und die Franzosen, über Europa abstimmen, würde das zu ähnlichen Ergebnissen führen. Die abgehobenen politischen Klassen in Paris und Berlin fürchten solche Plebiszite wie der Teufel das Weihwasser. Denn das eine ist sicher: Hinter den bunten Vorhängen mit der Aufschrift "Europa" verbergen sich politische Konzepte, die man der Öffentlichkeit lieber vorenthält. Chirac und seine Mehrheit sehen in einem immer enger "integrierten" Kerneuropa vor allem die Fortsetzung einer französischen Großmachtpolitik mit europäischen Mitteln, nicht zuletzt in Frontstellung gegen die Vereinigten Staaten. Die Deutschen und einige andere sollen dabei als Satelliten dienen. Die rot-grüne Regierung in Berlin beweist die Richtigkeit der These Margaret Thatchers, die Deutschen seien vor allem deshalb so sehr für Europa, weil es ihnen die ungeliebte Pflicht abnehme, "sich selbst zu regieren". Verbirgt sich also hinter der Pariser Europapolitik ein alter Nationalismus in europäischem Gewand, so hinter derjenigen Berlins der bekannte Traum von einer postnationalen Zukunft in Europa, deren Wirklichkeitsferne jeden Tag deutlicher wird. Es ist paradox genug, daß dennoch diese anationale deutsche Europapolitik von den anderen, gerade auch vor allem von Polen und Tschechen, als verkappter Nationalismus wahrgenommen wird.

Das Scheitern des europäischen Verfassungsprojekts ist indes kein bloßer Betriebsunfall. Es macht vielmehr Entwicklungen deutlich, die sich seit längerem anbahnten. Bereits im Frühjahr 2003 spaltete sich die Europäische Union in Gegner und Befürworter der amerikanisch-britischen Irak-Intervention. Schon diese gravierende Krise machte deutlich, daß die EU als eigenständiger globaler Akteur kaum handlungsfähig ist. Das kann schon deshalb nicht verwundern, weil die Bevölkerung der europäischen Wohlstandsgesellschaften (wie schon in den 80er Jahren gegenüber der Sowjetunion) einem grundlegenden Pazifismus huldigt, der nicht nur ideelle, sondern mehr noch materielle Gründe hat. Während die Verei-nigten Staaten als "einzige Weltmacht" den Kampf gegen den islamistischen Terrorismus aufgenommen haben, raten die europäischen Regierungen zu "Augenmaß", "Dialog", "Kompromißfähigkeit" und wie die schönen Formeln alle heißen, eine politische Rhetorik, die nur die Nichtbereitschaft verdeckt, sich für eine andere Ressourcenteilung zwischen Konsum und Militär zu entscheiden, als sie seit Jahrzehnten zur bequemen Üblichkeit geworden ist.

Der Auseinanderfall der Europäer in der Irak-Krise des Frühjahrs 2003 in Gegner und Willige der amerikanischen Linie zeigte fundamentale Unterschiede in der Beurteilung der sicherheitspolitischen Gesamtlage. Die osteuropäischen Neumitglieder der Nato und demnächst auch der EU vom Baltikum bis Polen und Tschechien sind, aus guten Gründen, skeptisch gegenüber den militärischen Fähigkeiten der Europäischen Union. Sie setzen ihr Vertrauen, gerade in Krisen- und Ernstfällen, daher vor allem auf die Weltmacht jenseits des Großen Teiches. Hier wirken die Erfahrungen fort, die man in Osteuropa viereinhalb Jahrzehnte lang mit der Besetzung und Unterdrückung durch das Sowjetimperium gemacht hat, während die Westeuropäer den kalten Krieg unter dem warmen Schutzmantel der USA überlebten. In dieser epochalen Grunderfahrung wurzelt die Abneigung der mittelosteuropäischen Völker, die bisherige Hegemonie der Sowjetunion durch den sich abzeichnenden europäischen Superstaat einzutauschen, die einstige UdSSR durch die EU, wie man dort nicht selten hören kann.

Immer deutlicher wird in der öffentlichen Debatte der "neuen Europäer" auch die Sorge, in einem "sich immer stärker integrierenden" Europa unter die Räder einer französisch-deutschen Dominanz zu geraten, mit dem möglichen Ergebnis, zum einen durch die französische Politik in eine Konfrontation mit den USA zu geraten, zum anderen einer neuen deutschen Vorherrschaft, auch hier nun im europäischen Gewand, zu unterliegen. Man sieht: Was in der deutschen und französischen Debatte unter dem Begriff und der Drohung eines "Europa der zwei Geschwindigkeiten" verharmlosend abgehandelt wird, hat in der polnischen und sonstigen osteuropäischen Diskussion einen klaren politischen Gehalt, der sich an den eigenen Interessen ausrichtet. Westeuropäische, vor allem auch deutsche Warnungen, doch mehr "in europäischem Geist" zu denken und zu handeln, müssen an diesem kühlen politischen Kalkül abprallen. Und daraus ergibt sich ein völlig anderes europapolitisches Konzept: Erhaltung eines Kernbestandes nationaler Souveränität vor allem für nie auszuschließende Konfliktfälle und Ernstfall-Situationen und dementsprechend Grenzen des in Westeuropa dauernd beschworenen

Integrationsprozesses und die Bevorzugung einer "intergouvernementalen Zusammenarbeit". Dieses Konzept steht auch den wahren Volksmeinungen in anderen Teilen Europas näher als die offizielle Politik einer im Wortsinne "grenzenlosen" Integration.

Der europapolitische Realismus der Osteuropäer, aber auch etwa der Briten, Spanier und Italiener kommt auch darin zum Ausdruck, daß die europäische "Finalität" einer "immer engeren Union" hier mehr als in Berlin und Paris unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, wie weit ein solches integriertes Europa, entgegen dem äußeren Anschein, überhaupt noch regierbar und funktionsfähig sein kann. Wenn derzeit über europäische Mehrheitsentscheidungen und Stimmengewichtung der Mitgliedsstaaten diskutiert wird, verbirgt sich dahinter nicht zuletzt der oft krampfhafte Versuch einer Quadratur des Zirkels, der die Zukunftsfähigkeit und Stabilität gerade nicht sichert, sondern gefährdet. So bringen die neuen Mitgliedsländer aus dem europäischen Osten den frischen Wind ihres geschichtserfahrenen politischen Realismus in die Gemeinschaft ein, der sich auch unter den alten Europäern ausbreiten wird. Es ist das Bild eines Europas, in dem die Politik den Vorrang haben soll vor der Wirtschaft und ihrem einzigen Kriterium des Massenwohlstandes, eines Europas geschichtserfahrener Völker und Führungen, das sich darüber im klaren ist, daß seine Zukunft nicht durch technokratisch-zentralistische Konstruktionen und bürokratische Perfektion gesichert werden kann, sondern das seinen geschichtlichen Wurzeln nahe bleibt, und damit den wirklichen Bedürfnissen und Interessen der Menschen.

Wichtiger als eine Verfassungsurkunde ist die Gesamtverfassung, in der sich Europa und die Europäer befinden. Darüber sollte künftig mehr nachgedacht werden als über immer ausgeklügeltere Integrationsmechanismen, die die wachsende Entfremdung zwischen dem pays légal und dem pays réel in Europa mehr übertünchen als beheben, die Kluft zwischen den Bürgern und den politischen und medialen Klassen. Hier Abhilfe zu schaffen und das Ohr bei den Menschen zu haben ist europäischer als alle Integrations-Rhetorik, die von Jahr zu Jahr schaler klingt, etwa aus dem Mund eines Chi-racs oder Joschka Fischers. Wie moralisch volksfremd und politisch wirklichkeitsfremd ist zum Beispiel eine Europapolitik, die Massen islamischer Zuwanderer die Tore in den alten Kontinent öffnet. Und was haben die von europäischer Humanität und Freiheit begriffen, die - wie zumal in Deutschland - jeder konstruktiven Kritik an der Integrationspolitik ihrer Regierungen oder an der Realität der Europäischen Kommission den Maulkorb der "political correctness" umbinden?

Mit dem Beitritt der Osteuropäer zur Europäischen Union wird eine neue Ära für Europa beginnen. Auf sie richten sich die Hoffnungen aller, die nicht ein abgehobenes Europa wollen, sondern eine wahrhafte europäische Gemeinschaft der Menschen und Völker, ein Europa, dessen Devise nicht lautet "Einheit um jeden Preis!", sondern "So viel Einheit wie nötig und so viel Vielfalt wie möglich".

Europas Herrscher unter sich? Die neue Einigkeit zwischen Schröder und Chirac ist vielen Osteuropäern und baldigen EU-Mitgliedern zu groß. Sie fürchten, unter die Räder einer französisch-deutschen Dominanz zu geraten.
 
     
     
 
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