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Die unverändert hohe Arbeitslosigkeit ist eines der drängendsten Probleme in Deutschland. Bei vielen hat sich Resignation breit gemacht. Die Mehrheit der Bevölkerung wartet auf Hilfe vom Staat, dessen Funktionsträger wiederum behaupten, sie seien machtlos, und andere sehen in einem größeren Wirtschafts wachstum den Schlüssel, um aus dem Tal der Tränen wieder herauszukommen. In einer solchen Situation kann ein Blick über den Tellerrand den Horizont erweitern. Dies haben die beiden Forscher Stefanie Wahl und Martin Schulte getan. Das Duo arbeitet am Bonner Institut für Wirtschaft und Gesellschaft (IWG). In ihrem neuen Buch "Arbeitslosigkeit abbauen - von Besseren lernen" zeigen sie, wie Goliath Deutschland von David Österreich und Schweiz lernen kann. Unsere Nachbarn haben nämlich eine Menge mehr zu bieten als Wiener Schmäh und Schweizer Käse. Und warum sollte man sich nicht einiges von den Nachbarn abschauen? "Denn schließlich sind Menschen Kopisten", wie IWG-Leiter Meinhard Miegel in seinem Vorwort schreibt.
Auf den ersten Blick haben Deutsche, Österreicher und Schweizer viele Gemeinsamkeiten: eine gemeinsame Geschichte, Sprache und Kultur. Abgesehen von liebevoll gepflegten kleinen
Animositäten fühlen sich die Menschen aus den genannten Ländern recht heimisch, wenn sie die Grenzen zu ihren Nachbarn überqueren. Sie begeistern sich für ähnliche Bücher und Musik, sie können ohne Probleme miteinander kommunizieren und verfügen über eine ausgeprägte, historisch gewachsene Wirtschaftsgesinnung. Ihre Produkte sind wegen ihrer Gediegenheit und Qualität weltweit geschätzt. Deutschland, Österreich und die Schweiz werden immer noch von vielen Menschen in Asien, Afrika oder anderen europäischen Staaten mit Neid und Bewunderung als Stätten von Stabilität und Wohlstand betrachtet. Doch auf den zweiten Blick gibt es große Unterschiede beim Umgang mit der Arbeitslosigkeit und bei den Arbeitslosenzahlen. Während im Jahr 2004 die Arbeitslosenquote in der Schweiz bei 4,4 und in Österreich bei 4,5 Prozent lag, war sie in Deutschland mit 9,5 Prozent mehr als doppelt so hoch. Und obwohl die Schweiz zwischen 1991 und 2004 im Vergleich mit Österreich und Deutschland mit real 0,6 Prozent jährlich das geringste Pro-Kopf-Wachstum erzielte, wies sie mit 77,4 Prozent sogar die höchste Erwerbstätigenquote in der gesamten OECD auf.
Wahl und Schulte halten es für einen Mythos, daß mehr Beschäftigung allein über kräftigeres Wirtschaftswachstum zu erreichen sei. Die deutsche Therapie war mangelhaft, da sie sich in Arbeitslosenverwaltung erschöpfte. Doch nicht nur der Staat hat versagt. Die deutsche Bevölkerung ist an der negativen Entwicklung nicht ganz unschuldig. Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft sind hier schwächer ausgebildet als bei den beiden Nachbarn. Anders formuliert: Die deutsche Jobmisere ist nicht nur strukturell bedingt, sondern hat mentale Ursachen. Freizeit ist für viele Bundesbürger der höchste Wert, dies gilt auch für die sogenannte Elite. Für fast zwei Fünftel aller Studenten hat im späteren Job geregelte Freizeit hohe Priorität. "Die deutsche Arbeitslosigkeit beginnt im Kopf. Wenn Freizeit an erster Stelle steht, die Lust an der Leistung schwindet, die Schüler, Studenten und Auszubildenden im internationalen Vergleich hinterherhinken, dann stimmt was nicht. Wenn wir uns nicht ändern und den Kopf frei machen für die neuen Herausforderungen, dann werden uns mittel- und langfristig nicht nur die Asiaten, sondern auch die Osteuropäer die Butter vom Brot nehmen", kommentiert Michael Müller, Unternehmer aus dem rheinischen Neuss und Wirtschaftssenator im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW).
Die Empfehlungen der beiden Autoren laufen auf ein radikales Reformprogramm hinaus. In Deutschland begnügt man sich damit, durch punktuelle Reformen der sozialen Sicherungssysteme die Lohnzusatzkosten zumindest nicht weiter ansteigen zu lassen. In der Schweiz ist die soziale Sicherung schon jetzt vom Arbeitsverhältnis abgekoppelt. Doch in Deutschland - so zeigt eine Umfrage - ist nur jeder dritte Bundesbürger bereit, für eine Senkung der Lohnkosten stärker privat vorzusorgen. Viele Bundesbürger können sich hingegen für eine sogenannte Bürgerversicherung erwärmen, die aufgrund des Festhaltens an der lohnabhängigen Finanzierung unweigerlich zu weiterem Jobverlust führen würde. Ein anderes Beispiel ist der Kündigungsschutz. Hierzulande werden jährlich über 250.000 Kündigungsschutzprozesse vor den Arbeitsgerichten geführt. Bei den Eidgenossen muß ein Unternehmer eine Entlassung im Allgemeinen nicht näher begründen. Daher sind kostspielige Arbeitsgerichtsprozesse die Ausnahme. Kündigungen sind nur während des Militärdienstes, einer Schwangerschaft oder einer gewerkschaftlichen Tätigkeit untersagt. In Deutschland argumentieren die Sozialstaatsbewahrer häufig damit, daß ein breit angelegter Kündigungsschutz die Arbeitnehmer vor unternehmerischer Willkür schütze. Das genaue Gegenteil scheint der Fall zu sein: Finden deutsche Arbeitnehmer einen Job, so ist er immer öfter nur noch ein Zeitarbeitsverhältnis. Wegen des Kündigungsschutzes überlegen es sich die hiesigen Arbeitgeber, ob sie die Risiken einer langfristigen Beschäftigung auf sich nehmen wollen, und entscheiden sich in zunehmendem Maße dagegen. Und wieder trifft man auf ein deutsches Mentalitätsproblem: Selbst wenn ein gelockerter Kündigungsschutz nachweislich mehr Jobs bringen würde, sind 70 Prozent der Bundesbürger gegen eine solche Liberalisierung.
Außerdem: Deutschland ist das Reich der Akten. Insbesondere kleine und mittlere Betriebe wissen ein Lied davon zu singen, wenn beispielsweise Unternehmen mit weniger als zehn Angestellten pro Mitarbeiter durchschnittlich 64 Stunden und 4.400 Euro allein für das Ausfüllen der Formulare und die Erfüllung der administrativen Aufgaben aufbringen müssen. Die Sehnsucht der Bürger nach Merzschen Bierdeckeln bleibt unerfüllt. Im Effizienzvergleich mit 104 Ländern kommt das deutsche Steuerrecht in den zweifelhaften Genuß der roten Laterne: letzter Platz. Daß die Bürokratie Jahr für Jahr mit 46 Milliarden Euro zu Buche schlägt, sei nur am Rande vermerkt. Der Moloch Bürokratie knebelt auch den deutschen Gründergeist. Jungen oder älteren Arbeitnehmern, die sich aus den verschiedensten Gründen selbständig machen wollen, werden oft Knüppel zwischen die Beine geworfen. Ordnungsamt und Gewerbeaufsicht toben sich aus, wenn zumeist aus Unwissenheit bestimmte Regularien nicht eingehalten wurden, und sei es auch nur, daß das Werbeschild draußen am Geschäft ein paar Zentimeter zu groß ausgefallen ist. In den kommunalen Ämtern für Wirtschaftsförderung arbeiten in der Regel Menschen, die zuvor noch nie in der freien Wirtschaft ihr Brot verdient haben. In Deutschland und Österreich mangelt es aber ohnehin am Unternehmergeist. In Deutschland trauen sich nur 38 Prozent der Menschen diesen Schritt zu; in der Schweiz sind es immerhin 50 Prozent. Außerdem spiegelt sich der geringer ausgeprägte Unternehmergeist auch in einer kritischen Einstellung zu Unternehmensgewinnen wider. Über die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, die Unternehmen verdienten zu viel. Dieses Bauchgefühl deckt sich nicht mit den objektiven Zahlen. Im Vergleich mit fast allen anderen westlichen Industrienationen verdienen Unternehmen in Deutschland eher weniger. Zwischen 1998 und 2002 erwirtschafteten in Deutschland ansässige Unternehmen im Jahresdurchschnitt einen Nettogewinn von lediglich 2,16 Prozent des Umsatzes.
Zur Vervollständigung der Mängelliste gehört die ineffiziente staatliche Arbeitsmarktpolitik. Im Jahr 2003 führte bundesweit nur jeder 20. Vermittlungsvorschlag der Arbeitsagenturen zur Besetzung einer gemeldeten Stelle. Die Politik beschränkte sich auf kosmetische Korrekturen. Die alte Bundesanstalt für Arbeit heißt jetzt Bundesagentur. Doch die Mechanismen sind die selben geblieben. Staatliche Arbeitsvermittlung in Deutschland ist im internationalen Vergleich zu teuer, zu ineffizient und erschöpft sich allzu oft in der Verwaltung der eigenen Behörde.
Aber nicht alles, was in den Nachbarländern gemacht wird und zu mehr Erfolgen führt, kann auf Deutschland übertragen werden. Wahl und Schulte sprechen davon, die Deutschen müßten in ihrer Mehrheit dynamischer, selbständiger und leistungsbereiter werden. Die unsteten Erwerbsverläufe, mit denen sich die Menschen abfinden müssen, erfordern eine unternehmerische Denkweise und keine ausgeprägte Arbeitnehmermentalität. In ihrem Freizeitverhalten und bei der Schwarzarbeit legen viele Deutsche diese Haltung ja schon an den Tag; bei der täglichen Erwerbsarbeit sollen jedoch andere Gesetzmäßigkeiten gelten. Mündiger Bürger statt bloßer Leistungsempfänger: "Gefragt ist der verantwortungsbewußte, kompetente Bürger nach Schweizer Vorbild, der bereit ist, sich gegebenenfalls gegen seine Gegenwartsinteressen und für die Interessen der Zukunft zu entscheiden."
Die weiteren Reformvorschläge sind nicht unbedingt neu, aber nötig. Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Qualität der Bildung und Ausbildung muß durch Studiengebühren und praxisnähere Unterrichtsgestaltung verbessert werden. Der Beamtenstatus der Lehrer ist ein alter Zopf, der endlich abgeschnitten werden muß. Die Tarifpolitik muß raus aus den alten Schablonen und sollte eine beschäftigungsfördernde Stoßrichtung erhalten. Dazu gehört, die Löhne am Produktivitätsfortschritt auszurichten, die Lohnfindung zu dezentralisieren und das Senioritätsprinzip abzuschaffen.
Die Therapievorschläge für die soziale Sicherung sind wahrscheinlich am umstrittensten und dürften sehr unpopulär sein. Wahl und Schulte fordern die völlige Abkopplung der sozialen Sicherheit von der Erwerbsarbeit. Da laut Studien insbesondere auch bei jüngeren Arbeitnehmern die Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft bisweilen zu wünschen übrig läßt, führt kein Weg am Schweizer Modell vorbei, das die Entlohnung vermehrt an vom Gewinn und der individuellen Leistung abhängige Komponenten koppelt. Erstrebenswert scheint auch, wie in der Schweiz die Kranken- und Pflegeversicherung künftig über pauschale Prämien zu finanzieren. Die beiden Autoren lehnen sich recht weit aus dem Fenster, wenn sie die Begrenzung der gesetzlichen Rente auf Grundsicherung und einen Ausbau der kapitalgedeckten Vorsorge fordern. Weitere Vorschläge finden sich zur Reform des Steuersystems und der Arbeitsvermittlung.
Blickt man von Österreich und der Schweiz auf Staaten mit stärkerer gewerkschaftlicher Tradition wie eben Deutschland, Frankreich und Italien, offenbart sich, daß letztere die schlechtesten Ergebnisse bei der Arbeitslosigkeit erzielen. Die zukünftige Bundesregierung wäre also gut beraten, ein arbeitsmarktpolitisches Gericht mit möglichst wenig französischen und italienischen Zutaten, dafür um so mehr österreichischen und vor allem Schweizer Zutaten zu kredenzen. Und daß auch die anglo-amerikanischen Zutaten sehr gut schmecken, verleugnen in Deutschland zumeist die Ideologen, die ein zunehmend erfolgloses deutsch-französisch-italienisches Modell als das große europäische Sozialstaatsmodell anpreisen wollen. Wenn die deutsche Bevölkerung nicht die eigene Mentalität ändert, werden jedoch alle Versuche, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, zum Scheitern verurteilt sein.
Schweiz und Österreich: Jammern auf hohem Niveau
Anfang Juli klagte die Neue Zürcher Zeitung "Trostloser Schweizer Arbeitsmarkt" und in Österreich meldet das Institut für Trendanalysen und Krisenforschung die Hiobsbotschaft, daß 75 Prozent der befragten Österreicher der Meinung seien, die Arbeitslosigkeit in ihrem Land werde steigen.
Wir sind also nicht alleine, mag so mancher Deutscher angesichts solcher Meldungen vielleicht denken, blickt er aber auf die Arbeitsmarktdaten der beiden südlichen Nachbarländer wird schnell deutlich, daß hier auf hohem Niveau gejammert wird. Während in Deutschland die Arbeitslosenquote im Juni bei 11,3 Prozent lag, verbuchten die Schweizer aus deutscher Sicht lachhafte 3,6 Prozent und die Österreicher auch noch traumhafte 6,1 Prozent (nationale Berechnungen).
Reich der Akten: Die deutsche Bürokratie kostet jährlich 46 Milliarden Euro. |
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