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Während eines Einsatzes für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge im Königsberger Gebiet (sie- he Folge 19) sollten wir, eine Gruppe von Reservisten der Bundeswehr, in Gumbinnen untergebracht werden. Unsere Gruppe sollte in der Diakonischen Anstalt "Haus Salzburg" direkt neben der wie-
derhergerichteten Salzburger Kirche Quartier beziehen. Das "Haus Salzburg" ist eine neu errichtete Sozialstation der evangelischen Kirche, die sich der Pflege alter, kranker Menschen in Gumbinnen widmet und in der während der Schulzeit Kinder aus sozial schwachen Familien betreut werden. Ein kleines Denkmal weist auf diese soziale Arbeit hin. Da gerade Ferien waren, war das Haus für uns frei, und un-sere Bezahlung trug kräftig zum Unterhalt der Sozialstation bei, da das Haus und die Sozialarbeit ausschließlich aus privaten Spenden und Zuschüssen der Kirche finanziert werden.
Als wir am späten Abend Gumbinnen erreichten, über die Eisenbahngleise der Strecke Insterburg- Ebenrode holperten und in die Königstraße einbogen, sahen wir gegen den Nachthimmel die Spitze der Salzburger Kirche. Der Direktor der Diakonischen Anstalt "Haus Salzburg", Alexander Michels, ein Rußlanddeutscher und ehemaliger Major der russischen Armee , begrüßte uns herzlich. Das Abendessen mit Reisrisotto, Pelmeni, Brot, Wurst und Käse wurde schnell aufgetragen, und natürlich gab es einen hochprozentigen, selbstgebrannten Kräuterschnaps als Willkommenstrunk.
Vor dem Einschlafen gingen mir noch die Erzählungen meiner Schwiegereltern, der Familie Podszun, einer Familie mit Salzburger Wurzeln, über das Leben im ehemaligen Gumbinnen und die Salzburger Gemeinde durch den Kopf. Daß ich nun in der Heimatstadt meiner Frau war, neben der Salzburger Kirche, in der sie getauft wurde, kam mir fast wie ein Traum vor.
Gleich zu Beginn des Aufenthaltes machten wir einige Höflichkeitsbesuche in Gumbinnen und Königsberg. Vom Bürgermeister Gumbinnens und dem Vorsitzenden des Rates der Stadt wurden wir freundlich, man kann schon sagen herzlich, empfangen. Sie dankten uns für unser Engagement und würdigten die Arbeit der Kriegsgräberfürsorge als einen wichtigen Dienst zur Versöhnung und für das Verstehen zwischen Russen und Deutschen. Im Gespräch wurden auch die schwierige wirtschaftliche Lage der Stadt und des Gebietes, die hohe Arbeitslosigkeit und die schlechten Zukunftsperspektiven für die Jugend angesprochen. Immer wieder hörte man aus den Gesprächen heraus, daß die Menschen sich im Königsberger Gebiet eine entscheidende, positive Veränderung ihrer Lage nur durch eine Verbesserung des Grenzverkehrs mit Rußland mittels eines Korridors durch Litauen und durch eine Vereinfachung des Grenzverkehrs mit der Europäischen Union, vor allem mit der Bundesrepublik Deutschland, versprechen. Für eine Öffnung nach Westen sei man bereit, natürlich ohne die Zugehörigkeit zur Russischen Föderation in irgendeiner Weise in Frage zu stellen.
Nachdem die Arbeit auf drei Soldatenfriedhöfen im Kriegsgräberpflegeeinsatz geschafft war, machte ich den Gang durch Gumbinnen, dem ich schon entgegenfieberte.
Vor der Abfahrt nach Gumbinnen wurde in unserer Familie genau besprochen, welche Gebäude in der Stadt besichtigt, mit Video aufgenommen und fotografiert werden sollten. Dazu besaß ich einen alten Stadtplan von Gumbinnen, günstig war aber auch, daß der Direktor des "Hauses Salzburg", Alexander Michels, die alten Namen der Straßen und Gebäude genau kannte und mich führen konnte.
Königstraße / Ecke Salzburger Straße sehe ich das Geburtshaus meiner Frau, es ist von vorn einigermaßen in Ordnung, der Hof mit den früheren Remisen ist aber in einem schlimmen Zustand mit verfallenen Schuppen und Unrat aller Art.
Auf einem Platz an der Königstraße sehe ich die Kopie des "Elchs", er ist mir aus vielen Erzählungen und Anekdoten bekannt. Würdig und scheinbar mit stoischer Ruhe sieht er auf die vor ihm sitzenden Frauen, ihre spielenden Kinder und die dösenden Männer herab, die wohl etwas zu viel dem Alkohol zugesprochen hatten und nun in der Hitze des Sommertages ruhten.
Die Königstraße ist stark befahren. Vor dem Hotel Königshof steht das Denkmal von Gusev, einem Feldwebel der Roten Armee, der beim Angriff auf Gumbinnen nach mutigem Einsatz gefallen ist und dessen Namen die Russen Gumbinnen deshalb gegeben haben. Gegenüber vom Sitz der heutigen Stadtregierung sitzen einige alte Frauen und verkaufen auf Holzkisten aufgehäufte Sonnenblumenkerne und etwas Obst, sie sind bettelarm, aber trotzdem schwatzen und lachen sie mit vorübergehenden Passanten. Vor der Brücke über die Pissa entdecke ich eine Litfaßsäule, die oben am Kranz aus vergangener Zeit noch die Nummer "5" und das Wappenschild von Gumbinnen, den geteilten Adler und den Pfeil, trägt. Der Blick auf die Promenade an der Pissa ist noch so romantisch wie früher, Frauen mit ihren Kindern flanieren am Ufer, Kinder baden im Fluß, andere suchen Krebse. Beim näheren Hinsehen stört es aber, daß alle Baumstämme weiß gekalkt sind und daß das Ufer der Pissa mit Flaschen, Büchsen und Unrat übersät ist, aber es hat auch acht Wochen lang nicht geregnet. Plötzlich sehe ich, wie direkt neben mir ein kleiner, schmutziger Junge einen Eimer mit Asche über das Geländer der Brücke hebt und ihn, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, in die Pissa wirft, eine anscheinend oft praktizierte Entsorgung von Unrat.
Das Gebäude der heutigen Stadtregierung trägt am Turm noch gut erkennbar das preußische Adlerwappen, auch wenn man versucht hat, es zu zerstören, und über dem Nebeneingang prangt das "W" des preußischen Königs. Das Dach des Regierungsgebäudes wird gerade neu eingedeckt, ein Zeichen dafür, daß es auch Verbesserungen in der Stadt gibt. Die alten Dachteile räumen junge, ziemlich abgerissene wehrpflichtige Soldaten zusammen. Das Rathaus, in dem mein Schwiegervater als junger, aufstrebender Beamter gearbeitet hat, steht noch und erfüllt wieder administrative Aufgaben.
Von der Altstädtischen Evangelischen Kirche finde ich nur noch einige Feldsteine, das alte Haus gegenüber am Kirchenplatz, wohl das Pfarrhaus, steht noch. Die Friedhöfe der Stadt sind eingeebnet, nur ein neuer Gedenkstein mit zwei Kreuzen - evangelisch und orthodox - und einer russischen Inschrift erinnert an sie. Also gibt es doch noch zarte Hinweise auf die Vergangenheit. Eine Friedhofskapelle steht noch, aber das Dach beginnt einzufallen, und das Gebäude wird verfallen, wenn nicht bald etwas geschieht.
Das prächtige Gebäude mit seinen kunstvollen neugotischen Giebeln, in dem früher die Volksbank saß, zeugt von dem früheren Reichtum und der Schönheit Gumbinnens. Oben auf dem Schornstein ist ein Storchennest gebaut, und der Jungstorch übt schon das Fliegen für den baldigen Start nach Afrika.
Die Kreuzkirche wird gerade renoviert und zu einer orthodoxen Kirche umgebaut, ein blauer Zwiebelturm ziert nun das Dach. Die orthodoxe Kirche duldet zwar die evangelische Gemeinde, aber mit etwas Argwohn, damit der Zulauf nicht zu stark wird. Die Tennisplätze und das Schwimmbad sind noch erkennbar. Im zerstörten, staubigen Bad spielen einige Kinder, betrachten den noch vorhandenen Sprungturm, und ich glaube, auch sie träumen von Wasser und Badespaß bei dieser Hitze. Die alte Schule in der Meelbeckstraße, in die auch die drei Mädchen von "Koppenhagen", der Familie meiner Schwiegermutter, zur Schule gingen, wird noch als Schule genutzt, wenn auch einige Fenster mit Plastik geschlossen sind, da das Geld für Fensterscheiben fehlt.
Das Friedrich-Gymnasium zeugt noch heute mit seiner schönen Fassade und den kunstvollen Giebeln vom stolzen Bildungsbürgertum dieser Stadt, diese Schule besuchte also Wernher von Braun, ohne den die US-amerikanische Raumfahrt nicht denkbar wäre.
Weiter in der Meiserstraße steht noch das Wohnhaus der Familie Koppenhagen, eine Hälfte der alten Haustür existiert noch, der Hausflur und der Treppenaufgang sind in einem unbeschreiblich verfallenen Zustand. Aber im Erdgeschoß stehen im Fenster liebevoll in winzigen Töpfen Kardendisteln als Ersatz für die wohl ersehnten, aber nicht zu bekommenden Kakteen.
Ein Gang nach Norutschatschen führt am Ende der Stadt durch alte Ruinen, Abfallberge, halb errichtete Neubauten, die wohl aus Material- und Geldmangel eingestellt wurden. Wenige noch erhaltene alte Häuser stehen an der ehemaligen Brücke, die nicht mehr vorhanden ist, und am Ufer der Rominte überwacht ein stolzer Hahn seine Hennenschar, einige Enten gründeln in dem trüben Wasser. Ich breche den Besuch in Norutschatschen aber schnell ab, da ich alleine bin und einige halbwüchsige, wohl auch angetrunkene Jugendliche keine sehr freundliche Haltung einnehmen.
Der Salzburger Friedhof ist überbaut, aber die Friedhofskapelle wird sehr schön restauriert. Alexander Michels informiert mich, daß die Friedhofskapelle künftig als katholische Kirche von Gumbinnen genutzt werden soll. Der Eingang zum Sportplatz mit den Bogendurchgängen zeugt von der Sportbegeisterung der früheren Stadtjugend, der heutige Zustand der Anlagen müßte verbessert werden, um wieder Platz für Sport und Spiel zu bieten. Das Mädchenlyzeum, die Luisen-Schule, wird auch heute als Schule genutzt. Da es der Tag des Schulbeginns nach den Sommerferien ist, kommen die Kinder festlich und rührend übertrieben herausgeputzt mit Blumensträußen für die Lehrerin zur Schule. Meist begleiten sie die Mütter, sehr festlich gekleidet, sogar mit langen Kleidern, gepflegt und stark geschminkt. Im Straßenbild geben sich die Frauen immer gepflegter und meist im krassen Gegensatz zu den öfter heruntergekommen angezogenen Männern in Trainingshosen und T-Shirts.
Der Stadtpark Fichtenwald mit seinen lichtdurchfluteten Bäumen umfängt mich. Ein kleiner Sack wird schnell mit feinem, weißem Sand für die Familie gefüllt. An der Landstraße durch den Wald erinnern ein frisches Kreuz und Blumen daran, daß vor wenigen Tagen dort ein Mann ausgeraubt und erschlagen wurde, wahrscheinlich wegen weniger Rubel, auch das gehört zum Alltag der Stadt.
Die Prang-Mühle kündet in ihrer ganzen Größe von der früheren Bedeutung der Stadt als landwirtschaftliches Zentrum und von der Fruchtbarkeit des Landes. Heute wird sie, wenn überhaupt, zur Futtermittelherstellung genutzt, die Eisenbahngleise sind verrostet. Die Mühle und das Wehr der Pissa machen einen stillgelegten Eindruck, die Mühle scheint vergangenen Zeiten des Hochbetriebes nachzutrauern und auf bessere Zeiten eines wirtschaftlichen Aufschwungs zu hoffen, ebenso wie die Menschen der Stadt.
Das Schützenhaus, heute "Haus der Armee", scheint, eigentlich wie alle Gebäude, die vom Militär genutzt werden, gut gepflegt, so auch die Kasernen der Stadt, das Kasino in der Roonstraße und das russische Militärgericht gegenüber dem früheren "Kreishaus". Vor dem Schützenhaus steht ein Lenindenkmal. Lenin scheint besinnlich auf das alte, prächtige Schützenhaus zu blikken, das noch heute vom früheren Frohsinn der Bürger zeugt, und wendet seinen Rücken den brüchigen Plattenbauten zu, so als ob er die im ständigen Verfall begriffenen Gebäude einfach ignorieren möchte.
Ich bin insgesamt erstaunt über die zahlreichen Häuser und Bauwerke aus alter Zeit. Die Menschen sind auch heute noch froh, wenn sie in einem "deutschen Haus" wohnen können, denn über die Zeit sind diese solider gebaut und verfallen weniger schnell als die Plattenbauten der russischen Nachkriegsperiode.
Am Straßenrand fegt eine alte Frau mit einem Reisigbesen den Unrat zu Haufen zusammen, damit diese durch einen Inspektor gezählt und danach abtransportiert werden können, wenn sie der Wind nicht schon zerstreut hat. Wenn man sieht, daß die Kanaldeckel auf den Straßen entwendet werden, ohne daß sie schnell geschlossen werden, und dann die Kanallöcher gefährliche Unfallursachen sind, dann beschleicht einen schon das Gefühl einer gewissen Hoffnungslosigkeit, und man denkt an die ehemalige DDR und die enormen finanziellen Kosten, die noch heute nötig sind, um dort einen westlichen Standard zu erreichen.
Aber wer soll im Königsberger Gebiet den Verfall wenigstens stoppen und dann für wirtschaftliche Besserung sorgen? Trotzdem ist erstaunlich, wie ruhig, freundlich und geduldig die Menschen bei allen Problemen zu sein scheinen, wohl auch deswegen, weil sie von Verwandten im tiefen Rußland noch schlechtere Zustände kennen.
Ein Besuch im Museum von Gumbinnen in einer alten Villa vervollständigt die Eindrücke. Der Direktor, M. O. Arsenjewa, führt uns persönlich. Stolz zeigt er Funde aus vorgeschichtlicher Zeit, erläutert den Ausstellungsraum über die "deutsche Zeit", die Vertreibung wird leider noch nicht dokumentiert. Er spricht über die Zeit des Krieges, die in einem weiteren Raum dargestellt wird, der aber noch nicht ganz fertiggestellt ist. Zum Schluß der Führung bietet er uns stolz einen "Pillkaller" an, wenn auch nicht mit Korn und Leberwurst, so doch mit Wodka und Jagdwurst. Aber es kommt ja nur auf die freundschaftliche Geste an.
Bei einem Gespräch mit einer Dolmetscherin, die im Beruf Anwältin in Strafsachen ist, frage ich sie, ob die Vertreibung der Deutschen ein Thema bei Gesprächen gebildeter Menschen sei. Sie ist über die Frage erstaunt und verneint das etwas trotzig. Dann sagt sie, daß sie das Königsberger Gebiet niemals verlassen würde, da hier das Grab ihrer Mutter liegt. Ich habe ihr geantwortet, daß sie dann ja auch verstehen könne, wie es den vertriebenen Ostdeutschland gehe, die hier die Gräber ganzer Generationen hätten. Da ist meine Gesprächspartnerin wieder erstaunt, und so endet das Gespräch ohne jeden bösen Unterton.
Um die Situation der evangelischen Gemeinde in Gumbinnen kennenzulernen, baten wir den Pfarrer der Salzburger Kirche, Heye Osterwald, um eine Andacht in dem Gotteshaus, um dabei die Geschichte des Sakralbaus und die heutige Situation seiner Gemeinde zu schildern. Pfarrer Osterwald, der nun schon mehrere Jahre in Gumbinnen wohnt, dort verheiratet ist und Kinder hat, war gerade im Abschied von seiner Gemeinde, um eine neue Aufgabe als Propst in Königsberg zu übernehmen. Er trug sehr engagiert die Geschichte der Kirche und das Wachsen der kleinen Gemeinde mit rund 20 Familien vor. Zu seiner Gemeinde gehören auch noch einige umliegende Dörfer, die meist nur wenige Gemeindemitglieder zählen. Die meisten sind Rußlanddeutsche, die in den letzten Jahren eingereist sind. Wichtige Aufgaben der Kirche sind die Pflege von rund 40 bettlägerigen Kranken in Gumbinnen durch Pflegerinnen vom "Haus Salzburg" und die Betreuung, Einkleidung und Beköstigung von Kindern sozial schwacher Familien. Die Finanzierung erfolgt ausschließlich über Spenden aus der Bundesrepublik Deutschland und Zuwendungen der dortigen evangelischen Kirche. Daher sei man von diesen Geldspenden sehr abhängig und für jede Gabe dankbar. Die Kollekte am Ende dieser bewegenden Andacht war unser Beitrag für die vorbildliche und aufopfernde Arbeit des Pfarrers und seiner Gemeinde.
Ein weiterer Höhepunkt war die Teilnahme an einer Darbietung des Chors von Insterburg in der dortigen katholischen Kirche. Der gemischte Chor trug sehr festliche Ausschnitte aus seinem umfangreichen Repertoire vor und ließ uns nach den anstrengenden Tagen etwas zur Ruhe kommen. Am Ende der Darbietungen sang der Chor für uns "Ännchen von Tharau" in deutscher Sprache, ein Zeichen, daß sich einiges im deutsch-russischen Verhältnis zum Positiven geändert hat.
Ich wünschte mir am Ende meines Stadtrundganges, daß wir in der Bundesrepublik unseren Wohlstand viel bewußter, mit mehr Dankbarkeit und mit einem tätigen Optimismus wahrnehmen würden, um uns aus der derzeitigen Stagnation zu befreien und um den darbenden Menschen im Osten mehr bei der Verbesserung ihrer Lage helfen zu können.
Gebäude der Stadtregierung: Am Turm ist der Adler noch zu erkennen
Vor dem Hotel Königshof: Das Denkmal haben die Russen dem Feldwebel Gusev gesetzt, dessen Namen sie Gumbinnen gaben
Kreuzkirche: Sie spiegelt Geschichte, denn der protestantische Sakralbau aus der Vorkriegszeit wird in einen russisch-orthodoxen umgebaut Fotos (3): Richter
Alte Straßenkehrerin: Leider nicht untypisch für den russisch verwalteten Teil Ostdeutschlands |
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