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Ein Volk im Aufbruch

 
     
 
Nirgendwo schlägt das Herz von Wales (walisisch: Cymru) kräftiger als auf dem "Eisteddfod". Alljährlich findet das größte nicht ortsgebundene Volksfest Europas im Wechsel in Nord- oder Südwales statt. Diesmal ist Denbigh im äußersten Norden an der Reihe.

Vom 4. bis 11. August versammeln sich dort Aktivisten der walisischen Kultur aus allen Landesteilen zwischen Cardiff und Cardigan, Welshpool und Holy-head sowie viele Auslandswaliser aus Nord- und Südamerika oder Australien. Angelockt werden sie von den Auftritt
en der berühmten Chöre oder der "Krönung des Barden".

Bei dieser handelt es sich um mehr als um ein im 19. Jahrhundert erfundenes keltisches Spektakel, zu dem die in wallende weiße, blaue oder grüne Gewänder gekleideten Mitglieder der Druiden-Orden die mystische Kulisse abgeben. Vielmehr hat die Zeremonie, zu der sich auch Abordnungen aller anderer anderen keltischen Gebiete – Irland, Schottland, Cornwall, Bretagne, Isle of Man – einfinden, eine sehr reale Bedeutung.

Da die Waliser bekanntlich über keinen eigenen Staat verfügen, der Verdienste um die walisische Sprache und Kultur würdigt, tut dies eben die Versammlung der Druiden, der "Gorsedd".

Die "Barden-Krönung" für die beste literarische Meisterleistung des zurückliegenden Jahres und die damit verbundene Aufnahme in den Gorsedd ist für walisische Dichter die größte denkbare Anerkennung und macht sie unter ihren Landsleuten schlagartig berühmt.

Dem erlauchten Gremium gehören heute annähernd 1500 Mitglieder an: Politiker, Bischöfe oder Rugbyspieler und natürlich Musiker wie Dafydd Iwan, der musikalisch das Zeug zu einem internationalen Star hat, aber nicht den Preis zahlen will, für seine Karriere auf englisch statt auf walisisch zu singen.

Dafydd Iwan ist Nationalist und gehört zu jener stark wachsenden Gruppe von Walisern, die sich von den einst weitverbreiteten Minderwertigkeitskomplexen gegenüber den Engländern verabschiedet haben.

Auf dem von über 160 000 Menschen besuchten letztjährigen Eisteddfod in Llanelli füllte sein Konzert ein riesiges Festzelt. Schätzungsweise 3000 Menschen aller sozialen Schichten wurden zu Begeisterungsstürmen hingerissen, die in dem abschließenden Rebellenlied "Yma o hyd!" ("Wir sind immer noch da!") und der walisischen Hymne ihren Höhepunkt erreichten. Alle, sogar die Kinder, sangen die Texte mit und demonstrierten ihre Gemeinschaft auf eine Weise, wie sie im heutigen Deutschland undenkbar ist.

Wäre die Haltung der walisischen Aktivisten allerdings mit der der bundesdeutschen Eliten vergleichbar, dann gäbe es das Eisteddfod in der althergebrachten Form wohl nicht mehr. Denn seit 1937 bis heute sind die Veranstalter eisern der Tradition gefolgt, sämtliche Ansprachen, Lieder- und Gedichtwettbewerbe ausschließlich in walisischer Sprache zuzulassen. Wer unter den Zuhörern dieser nicht mächtig ist, bekommt über Kopfhörer eine Simultanübersetzung geliefert.

Zwischenzeitliche Zweifel, daß man angesichts der noch vor einem Jahrzehnt feststellbaren Zurückdrängung des Walisischen buchstäblich nicht mehr verstanden werden könnte, sind vom Tisch. Das oft totgesagte Walisisch erlebt eine Neubelebung, die gerade im "Europäischen Jahr der Spra-chen" größte Aufmerksamkeit und Respekt verdient. Denn das Beispiel Wales zeigt, wie man auch durch gezielte politische Maßnahmen und den unermüdlichen Einsatz von Idealisten angeblich zwangsläufige kulturelle Vereinheitlichungen nicht nur aufhalten, sondern sogar rückgängig machen kann.

Vor der Betrachtung dieser Erfolge sollte man zunächst aber einen Blick auf die Geschichte von Wales werfen – einem Land, von dem viele Menschen in Deutschland kaum mehr wissen, als daß es Orte mit so unaussprechlichen Namen besitzt wie das legendäre "Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch".

58 Buchstaben gegen die Eroberer (Römer und irische Missionare, Wikinger sowie die Angelsachsen und Normannen), könnte man meinen, oder ein Protest ohne Vokale, wie spöttische Engländer sagen. Hier irren sie jedoch, die Angehörigen des großen Nachbar- volkes, das seit den "Acts of Union" 1536/43 Wales von London aus mitregiert. Schließlich hieß das unscheinbare Dorf noch bis ins 19. Jahrhundert einfach Llanfairpwll. Dann kamen pfiffige Bewohner auf die Idee, es umzutaufen und den Zungenbrecher touristisch zu vermarkten.

Doch außer solchen Assoziationen und der Erinnerung an den einst so bedeutenden Kohlebergbau fällt den meisten Mitteleuropäern zum Stichwort Wales wohl auch nicht mehr ein als der Encyclopaedia Britannica, die noch vor Jahrzehnten notierte: "For Wales, see England!"

Erst 1956 erlaubte England den Walisern, eine eigene Hauptstadt zu besitzen, nämlich Cardiff, und 1959 schließlich gestattete London, eine offizielle walisische Flagge einzuführen, die den roten Drachen auf grün-weißem Felde zeigt.

Noch heute kennt jeder Engländer das berüchtigte, um 1780 entstandene antiwalisische Kinderlied "Taffy was a Welshman, Taffy was a thief ..." (Taffy war Waliser, Taffy war ein Dieb ...). Umgekehrt wird der Waliser, der ein Rugby-Tor gegen England erzielt, zum Volkshelden. Gerade bei diesem Sport finden alte Animositäten und der angestaute Frust über die eigene politische, kulturelle und wirtschaftliche Machtlosigkeit ihr Ventil.

Die Wurzeln hierfür liegen weit zurück: Im Gefolge der "Acts of Union" wanderte die anglisierte Aristokratie nach England ab, und Wales blieb ohne eigene Führungsschicht. Nur das gemeine Volk sprach noch walisisch; vom 17. Jahrhundert an war die Sprache dann regelrecht verpönt. 1870 wurde die allgemeine Schulpflicht mit dem erklärten Ziel eingeführt, die walisische Sprache völlig auszulöschen. Bis Ende des 19. Jahrhunderts mußten walisische Kinder in der Schule ein Holzbrett um den Hals tragen, wenn sie beim Walisischsprechen ertappt wurden (ähnlich wie in Irland). Wurde ein anderes Kind bei der gleichen Untat erwischt, bekam dieses das Holzbrett. Wer es am Ende des Tages trug, erhielt vom Lehrer eine Tracht Prügel.

Zusätzlich bedroht wurde die Sprache zuletzt durch den Anfang der 1980er Jahre eingesetzten massiven Zuzug von Engländern und die allgegenwärtige Medienpräsenz des Englischen. Da hilft es nur bedingt, daß ein Fernsehkanal, S4C, seit 1982 täglich vier bis fünf Stunden auf walisisch sendet. Doch selbst dieses Zugeständnis der britischen Zentralregierung geschah nicht freiwillig, sondern war die Folge der Drohung des damaligen Präsidenten der national orientierten Partei Plaid Cymru ("Partei von Wales"), Gwynfor Evans, sonst einen Hungerstreik bis zum Tode durchzuführen.

Eine walisische Nationalpartei gibt es bereits seit 1925, anfangs mit wenigen Erfolgen. Die Menschen in den armen Bergbaugebieten hatten andere Sorgen als den Erhalt der walisischen Sprache und Kultur. In den 1930er Jahren gab es Arbeitslosenraten von bis zu 50 Prozent. Labour war die Partei, von der man sich in dieser Situation am ehesten Hilfe versprach.

1966 gewann Plaid Cymru ihr erstes Parlamentsmandat. Bei den jüngsten britischen Unterhauswahlen im Juni dieses Jahres kam sie immerhin auf 14,3 Prozent (vier Sitze), während Labour in Wales mit 48,6 Prozent einen Zuwachs von elf Prozent verbuchte und die zentralistisch ausgerichteten Tories keinen einzigen Kandidaten durchbringen konnten. Allerdings konzentrieren sich die Wähler der Nationalpartei nach wie vor auf die Hochburgen im Nordwesten.

Der Durchbruch zu einem stärkeren walisischen Nationalbewußtsein und einer weitergehenden Selbstregierung ließ lange auf sich warten. Im Jahre 1964 wurde in einem ersten Zugeständnis ein spezieller Wales-Minister an der Spitze eines Wales-Ministeriums (1951) eingesetzt. 1979 bot die damals regierende Labour Party den Walisern im Rahmen ihrer geplanten Anti-Zentralisierungsgesetze erstmals ein eigenes Parlament an. Doch lediglich 20,3 Prozent der Abstimmenden sprachen sich bei einem Referendum dafür aus. Viele befürchteten, eine regionale Autonomie könnte ein erster Schritt zur Abspaltung des wirtschaftlich von Großbritannien abhängigen Wales sein.

Im zweiten Anlauf war es 1997 endlich so weit. Die Labour Partei erfüllte ihr Wahlversprechen, in Schottland wie in Wales über eigene Volksvertretungen abstimmen zu lassen. Während die Schotten das Begehren mit überwältigender Mehrheit unterstützten, erklärte sich in Wales am 18. September 1997 nur eine haarscharfe Mehrheit von knapp 51 Prozent für die "Welsh National Assembly".

Anders als das Parlament in Edinburgh, dem laut der Londoner Gesetzesinitiative zur Regionalisierung vom 24. Juli 1997 auch legislative Befugnisse und sogar eine Finanzautonomie eingeräumt wurden, kann die Volksvertretung in Cardiff weder Gesetze erlassen, noch besitzt sie die Steuerhoheit.

Anfangs von den meisten Leuten gleichmütig aufgenommen, erfreut sich das im Mai 1999 einberufene Parlament im Sanierungsgebiet von Cardiff Bay wachsender Beliebtheit. Insbesondere in der Kulturpolitik konnten bereits nach kurzer Zeit Erfolge erzielt werden. Zwar sprechen von den knapp drei Millionen Einwohnern nur rund 20 Prozent im Alltag Walisisch, und im bergigen, seit jeher unzugänglicheren Norden ist deren Anteil nach wie vor viel größer als im industrialisierten und teils anglisierten Süden (im nordwestlichen Gwynedd sind es satte 61 Prozent gegen-über lediglich 2,5 Prozent im südöstlichen Gwent). Aber die Tendenz ist eindeutig: Walisisch ist "in" und Englisch "out". An den Schulen sind beide Sprachen Pflicht, und immer mehr bieten Walisisch als Unterrichtssprache an. Orts- und Straßenschilder sowie alle offiziellen Schriftstücke sind zweisprachig gehalten. Im Berufsalltag kommt es mittlerweile häufiger vor, daß zugewanderte Engländer oder nicht walisisch-kundige Waliser über Karrierenachteile klagen. Die "Sunday Times" berichtete gar über drei Radioreporter, die bei BBC Wales mit der Begründung entlassen worden seien, sie klängen nicht walisisch genug.

Das kleine Volk eines Landes, das nicht einmal die Größe Hessens hat, befindet sich im Aufbruch. Zwar gehört man nach dem Zerfall des Bergbaus bis heute zu den Armenhäusern des Kontinents, aber nicht nur in der einst berüchtigt häßlichen Hauptstadt Cardiff gibt es erste positive Anzeichen eines bescheidenen Wirtschaftswunders nach irischem Vorbild.

Auch die Besinnung auf die eigene Geschichte als Nachfahren jener Ureinwohner Britanniens, die wahrscheinlich schon vor den keltischen Stämmen hier lebten und später deren Sprache und Identität annahmen, ist allgegenwärtig. Im letzten Jahr wurde mit großem Brimborium des 600jährigen Jubiläums der im September 1400 begonnenen Erhebung des Nationalhelden Owain Glyndwr gedacht, der einen letzlich erfolglosen Krieg gegen die englische Krone führte und 1404 das erste walisische Parlament einberief. Auch andere bekannte Persönlichkeiten, die Wales hervorgebracht hat, sind in den regionalen Medien ein Dauerthema, etwa der britische Ministerpräsidenten im Ersten Weltkrieg, David Lloyd George, der Dichter Dylan Thomas, sein abenteuerlustiger Kollege Lawrence von Arabien oder der Schauspieler Richard Burton.

Das Nationalsymobol des roten Drachens findet man an allen möglichen (und unmöglichen) Stellen: im Supermarkt, in Schaufenstern, an Tankstellen oder in Pubs. Und viele Autos fahren mit Schildern, die neben den Europasternen nicht das Staatskürzel UK für "United Kingdom" tragen, sondern CYM für Wales.

Gerade die jungen Leute sind stolz darauf, Waliser zu sein und in einem Land mit schönen Berg- und Küstenlandschaften, spektakulären Burgen und einer reichen Historie zu leben. Sie wollen, daß ihre Heimat mehr ist als ein bloßes Anhängsel Großbritanniens. Und so scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, wann die nachwachsenden Generationen die Forderung nach einer administrativen Gleichstellung mit Schottland auf die politische Tagesordnung setzt. – Im Sinne des Europas der verschiedenen Völker und Kulturen kann dies nur gut sein.

 
     
     
 
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